Learning Jazz. Jazz Education, History, and Public Pedagogy
von Ken Prouty
Jackson/Mississippi 2023 (University Press of Mississippi)
244 Seiten, 30 US-Dollar
ISBN: 9781496847911

Ken Prouty, Musikwissenschaftler an der Michigan State University, beginnt sein Buch über Jazz Education, also das Lehren von Jazz, mit einer Erinnerung an die erste Präsidentschaft Donald Trumps, dem man wohl wenig Verständnis für diese Musik nachsagen kann. Ihn interessiert „jazz education“ sowohl an öffentlichen Einrichtungen als auch als informelle Bildung, beispielsweise eines breiteren Publikums. Dafür blickt er auf einige weitgehend vergessene Fürsprecher für den Jazz, auf die Bigbandprogramme im Schul- und Hochschulkontext der USA, und fragt schließlich nach der Bedeutung breiterer Bildung für den Jazz, insbesondere am Beispiel seiner Darstellung in Hollywoodfilmen wie „Whiplash“ und „La La Land“.
Als Paul Whiteman 1924 George Gershwins „Rhapsody in Blue“ uraufführte, verwies gleich der ikonische Beginn mit dem berühmten Klarinettenglissando auf eine „schwarze“ Spielhaltung, beginnt Prouty sein erstes Kapitel, in dem er frühe Schulwerke zum Jazz untersucht. In frühen Posaunenschulen, schreibt er, werde insbesondere das Glissando oft als essentiell für den Jazzstil bezeichnet. Henry Fillmores Posaunenschule von 1919 ist ein case in point, veröffentlicht als Jazz noch nicht einmal Genre oder Stil war, das Glissando eher als eine Art Gimmick behandelt wurde, mit dem man Bewunderung und Lacher gleichermaßen ernten konnte. Es gibt Posaunenschulen aus dieser Zeit, die das Glissando quasi mit dem Jazz gleichsetzen. Erst gegen Mitte der 1920er Jahre machten sich Autoren Gedanken über andere Aspekte der Performance. Hier beschreibt Prouty eine Veröffentlichung von Miff Mole mit jeweils zweitaktigen Breaks in verschiedenen Tonarten sowie ausgeschriebenen Solochorussen bekannter Songs, sowie ähnliche Hefte u.a. von Glenn Miller und Tommy Dorsey, diskutiert ihre Entstehung und ihren Nutzen für andere Musiker:innen der Zeit.
Der Jazz handelt von einer Musik marginalisierter Menschen, aber die Jazzgeschichtsschreibung kann auch selbst marginalisieren. Daauf weist Prouty im zweiten Kapitel hin, überschrieben mit „We Don’t Know What We Don’t Know“. Da sind die oft ignorierten Musikerinnen des Jazz; diese Klage ist mittlerweile breit anerkannt. Da sind aber auch Klagen, die Jazzgeschicchtsschreibung habe ihren Fokus so sehr auf afroamerikanische Musiker gelegt, dass die weißen Stimmen zu kurz gekommen seien. Der Fokus auf scheinbar marginalisierte Gruppen kann dabei schnell zu einer einseitigen Bewertung der Situation führen. Aber wer ist das überhaupt, der den Kanon der Jazzgeschichte bestimmt? Prouty weist auf den renommierten Jazzkenner Phil Schaap hin, der 2001 von der Columbia University als Dozent für Jazzgeschichte abgelehnt wurde, weil er nicht die nötigen akademischen Abschlüsse vorweisen konnte. Sechzig Jahre zuvor hatte Paul Eduard Miller kaum Quellen, auf die er sich für sein Jazzbuch von 1936 beziehen konnte. Für ihn ist der Jazz eine breite Musik, umfasst Armstrong und Ellington genauso wie Whiteman, die „Rhapsody in Blue“ oder die Original Dixieland Jazz Band. Miller versucht sich an einer ersten Kategorisierung; für ihn gibt es drei Kategorien: symphonic jazz, sweet jazz und hot jazz, für die er unterschiedliche Qualitätskriterien zu entwickeln sucht. Ein weiteres Problem der Jazzhistoriographie sei der Geniekult im Jazz, die Faszination mit den „großen Männern“ dieser Musik. Man müsse sich aber immer bewusst sein, dass kein Genie als solches geboren wurde; sie haben ihr unzweifelhaftes Talent durch Studium und Üben verfestigt.
Im dritten Kapitel blickt Prouty auf die Jazzstudiengänge an US-amerikanischen Hochschulen. An der North Texas State University (die er selbst in den 1990er Jahren als Student erlebt hatte) wurde besonderer Wert auf die Fähigkeit des Blattspiels gelegt. Warum? Weil die professionelle Ausbildung unter anderem den Studiomusiker als Berufsziel vor Augen hatte, in der Westküste beispielsweise, wo eine Karriere in einem der Filmorchester Hollywoods zujmindest eine Berufsoption war. Infolge dieses Lehrschwerpunkts wurde gern zwischen lesenden und improvisierenden Musikern unterschieden, und diese Unterscheidung sei schon früh im Jazz ein fragwürdiges Qualitätsmerkmal gewesen, denn, wie Prouty provokant zusammenfasst: „Does it really matter whether Louis Armstrong or John Coltrane was a good sight-reader?“ Ein zweites Problem der (US-amerikanischen) Jazzpädagogik sei lange die überwiegend weiße Studierendenschar gewesen. Prouty macht einen Umweg zur Erklärung, diskutiert, wie stark Einfluss Stan Kenton auf die Lehrpläne etwa an der North Texas State University gewesen seien, der frühzeitig die Colleges als einen neuen Markt für seine Musik erkannte. Kenton habe nicht nur ultrakonservative Ansichten vertreten, schreibt Prouty, er habe öffentlich geäußert, dass die Jazzkritik offenbar schwarze Bands bevorzuge und weiße Jazzmusiker zu einer neuen Minderheit würden. Kentons Band war weitgehend weiß; das North Texas Jazzprogramm war weitgehend weiß, und dessen Leiter, Leon Breeden, kommentierte das 1970 mit einem Hinweis auf strukturellen Rassismus (den man damals allerdings noch nicht so nannte): „Ich hatte mindestens ein Dutzend (schwarzer Studenten) im Lab Band-Programm, und keiner von ihnen hatte musikalische Probleme. Die sind an anderen Fächern gescheitert, Englisch oder Mathe.“ Als dritten Fokus dieses Kapitels greift sich Prouty den Trompeter Maynard Ferguson heraus, anhabd dessen er einerseits das Thema Virtuosität verdeutlicht, andererseits noch einmal auf die Verantwortung verweis, die einflussreiche Musiker wie Ferguson haben, wenn sie eine ganze Generation an jungen Musikern prägen.
Als im Down Beat im Februar 2022 das North Texas Jazzprogram zum 75sten Jubiläum gefeiert wurde, beginnt Prouty sein viertes Kapitel, reagierte die Saxophonistin Tracy McMullan mit einem Brief, der die „whites-only“-Tradition der Schule betont und kritisiert, das ganze Programm sei vor allem auf weiße Studierende zurechtgeschnitten. Prouty blickt in eine statistische Erhebung des US Department of Education, die bestätigt, dass insbesondere Afroamerikaner in der Jazzausbildung an Colleges unterrepräsentiert sind. Dann beschreibt er, wie Wynton Marsalis, die International Association of Jazz Educators sowie verschiedene Notenverlage es sich zur Aufgabe machten, daran etwas zu ändern. Letztere hatten zahlreiche Arrangements von namhaften Arrangeur:innen im Programm, nur einer fehlte: Duke Ellington. Das wiederum brachte Marsalis auf die Idee einen US-weiten Schulbandwettbewerb namens „Essentially Ellington“ auszuschreiben, nicht das einzige pädagogische Projekt, dass Jazz at Lincoln Center sich auf die Fahne schreiben konnte; aber eines, das einem ganzen Land klarmachte, dass die ästhetischen Grundlagen dieser Musik in afroamerikanischer Kultur begründet liegen.
2014 war ein schweres Jahr für den Jazz, meint Prouty im fünften Kapitel: Umfragen zufolge war Jazz so unpopulär wie nie zuvor. Die Musik sei zu komplex geworden, hieß es, und die Schönheit, die gerade in dieser Komplexität liegt, komme einfach nicht an bei den Leuten. Und dann erschien in diesem Jahr eine Satire im New Yorker, die vorgab über keinen Geringeren als Sonny Rollins zu berichten, der sein eigenes Horn nicht mehr hören könne und schlussfolgere, „Ich hasse Musik. Ich habe mein Leben vertan.“ Empörung von allen Seiten über eine schlechte Satire; selbst Rollins äußerte sich, beklagte, der Text würde das gesamte Genre beleidigen. Wie verbessert man das Image der Musik, fragt Prouty, und antwortet mit: „public pedagogy“, mit einer Art Breiten-Musikerziehung also. So neu sei das gar nicht; Paul Whiteman sei so etwas bereits 1924 mit seinem „Experiment in Modern Music“ angegangen, auch Dave Brubeck, Billy Taylor und sein Jazzmobile-Programm, sogar Fred Rogers in „Mister Rogers‘ Neighborhood“ hätten versucht, den Jazz zu breiterer Akzeptanz zu verhelfen. Solchen Bildungsmodellen steht die Meinung entgegen, Musik sollte man nicht erklären müssen. Und damit kommt Prouty auf sein Hauptthema dieses Kapitels, den unpassenden Krücken, mithilfe Jazz einem breiteren Publikum untergejubelt werden soll. Da heißt es dann erklärend, Jazz handele eigentlich von … Freiheit, Integration, Demokratie. Es gibt Leadership-Fortbildungen mit Jazz für Menschen, die in ganz anderen Bereichen arbeiten; Kongresse im Feld der Organisationswissenschaften, die den Jazz als Modell für ein gutes Team vorstellen. Und es gibt – wir sind immer noch im Jahr 2014 – Damien Chazelles Film „Whiplash“ über einen Bandleader und Dozenten, dem jedes Mittel recht ist, damit die Musik seiner Studenten technisch perfekt ist. Halt, schrie die Jazzwelt auf, im Jazz gehe es doch tatsächlich um Community, vor allem aber gehe es in jeder Sekunde um Musik, nichts als Musik. Das ist die Crux mit Vergleichen oder Musterbeispielen: sie können schnell aus dem Ruder laufen.
Ganz zum Schluss seines Buchs erwähnt Prouty eine weitere Nachricht aus dem Jahr 2014, als Jazz at Lincoln Center sich die Domain „jazz.org“ sicherte, ein weiterer Aufschrei in der Jazzwelt. Jetzt ging es wie seit Anbeginn der Jazzgeschichte darum, wer definiert, was Jazz ist, wer die Deutungshoheit besitzt und welche Macht damit verbunden ist. Die Jazzpädagogik, schlussfolgert Prouty, habe auch die Aufgabe, sich immer wieder auf die Verantwortung zu besinnen, die jede:r einzelne, als Künstler:in, Lehrer:in, Journalist:in hat, der Musik gegenüber, der Community gegenüber, der Gesellschaft gegenüber. Es ist ja eigentlich ein gutes Zeichen, dass der Jazz, und wenn nur in der kleinen Szene seiner Anhänger, immer noch für Kontroversen gut ist.
Proutys Buch gibt Anregungen vor allem für Jazzpädagog:innen, die sich über die eigene Rolle in der Jazzwelt Gedanken machen. Nicht der gesamten Jazzwelt, wohlgemerkt, denn Prouty beschränkt sich auf die US-amerikanische Realität. In Europa sähe die Lage anders aus. Einige der von Prouty angerissenen Themen könnte man (unter leicht geänderten Vorzeichen) auch hierzulande diskutieren, andere nimmt man höchstens aus dem Augenwinkel (und als US-amerikanisches Problem) wahr. Hier kämen Themen hinzu wie die von Land zu Land sehr unterschiedlichen Akkulturationsprozesse, das Maß, in dem Jazz mit anderen, etablierten Kunstsparten konkurriert – und zwar auch um Subventionen –, die Repräsentanz marginalisierter Menschen in einer Musik, die sich zum Teil ja auch als gesellschaftspolitisches Sprachrihr versteht, usw. Allerdings gibt es in Europa bislang bei weitem weder die Tiefe an Reflektion über Jazzpädagogik noch die entsprechende Grundlagenforschung. Wir arbeiten dran, in Deutschland etwa alle zwei Jahre beim Darmstädter Jazzforum, oder auf europäischer Ebene bei den Rhythm Changes-Konferenzen.
Wolfram Knauer (Juli 2025)