Über die fragwürdige Männlichkeitsästhetik des Jazz
Diesen Text verfasste ich fürs Programmheft des 53. Jazzfests Berlin (als PDF hier abrufbar), für das Festivalleiter Richard Williams zum ersten Mal eine Parität zwischen den Geschlechtern unter den Bandleader:innen schuf. Abgesehen davon, dass ich gerade einen solchen Text heute wahrscheinlich gendern würde, geht er – sicher auch den Vorgaben zum Umfang geschuldet – bei weitem nicht tief genug, hinterfragt insbesondere nicht meine eigene Position in diesem Diskurs, als Autor, Veranstalter, Dozenten und damals Direktor des Jazzinstituts Darmstadt.
Zu den vielen Klischees, die es über den Jazz gibt, zählt ganz gewiss jenes, dass der Jazz eine Männermusik sei. Und es stimmt ja auch: Die üblicherweise gefeierten Heroen des Jazz, von Louis Armstrong über Duke Ellington, Charlie Parker, Miles Davis, John Coltrane, Herbie Hancock bis hin zu den jüngsten Namen, die angeblich die Wiederbelebung des Genres auszeichnen, Robert Glasper, Jason Moran oder Kamasi Washington, um nur die amerikanische Linie anzuführen – alles Männer. Tatsächlich gibt es genügend Frauen, die an der Entwicklung des Jazz mitgewirkt haben, nicht nur jene, die bei diesem Thema immer genannt werden, Mary Lou Williams, Maria Schneider oder Barbara Thompson, Ella Fitzgerald, Jutta Hipp oder Carla Bley. Die amerikanische Musikethnologin Sherrie Tucker hatte 2004 eine Publikation über den Anteil von Musikerinnen im New Orleans des frühen 20sten Jahrhunderts veröffentlicht und dabei mit dem Vorurteil aufgeräumt, schon von Anfang an sei der Jazz eine Musik von Männern gewesen. Aus anderen Quellen erfahren wir – wahrscheinlich zum Erstaunen der meisten –, dass es kurz nach der Jahrhundertwende mehr Frauen- als Männerensembles in Europa gab, oder dass auch in Deutschland mancherortsdie ersten dort zu hörenden amerikanischen Jazzbands in den 1920er Jahren Frauenorchester gewesen waren.
Es gibt also, wenn man nur tief genug gräbt, genügend Informationen darüber, dass der Jazz, anders als man gemeinhin glaubt, keineswegs eine Männermusik sein muss. Warum aber wird er so oft als eine solche gesehen? Warum hält sich das Klischee bis in unsere Tage? Und wie ließe sich der Wahrnehmung von Jazzgeschichte als einer männlichen Domäne korrigierend entgegentreten? Ganz bestimmt nicht allein dadurch, das man in Konzerten und bei Festivals von Musikerinnen geleitete Ensembles oder gar ganze „Frauenbands“ auftreten lässt. Es geht ja weniger darum, zu zeigen, das Musikerinnen „genauso gut“ spielen wie Musiker, als vielmehr darum, dass ihre Beweggründe, sich in diesem Genre ausdrücken zu wollen, dieselben sind wie die ihrer männlichen Kollegen. Wenn aber die musikalischen Voraussetzungen und die Motivation des Musikmachens grundsätzlich ähnlich sind, müssen die Gründe für die weitgehende Marginalisierung von Musikerinnen im Jazz anderswo zu suchen sein.
Vielleicht lohnt es sich, von den vielen Perspektiven dieses Themas zumindest drei kurz anzureißen.
Da sind zum einen die Jazzkritiker, denen wir, lange bevor es so etwas wie Jazzforschung überhaupt gab, die Dokumentation von Jazzgeschichte zu verdanken haben. Sie waren teilweise Experten, teilweise hingebungsvolle Fans, die der Musik großen Respekt entgegenbrachten, ohne aber oft tatsächlich das, was da musikalisch verhandelt wurde, angemessen beschreiben zu können. Die Jazzkritik fand überdies bis in die 1950er Jahre hinein vor allem in der populären Musikpresse statt, richtete sich also an ein Laienpublikum. Und so suchten viele der frühen Kritiker eher nach guten Geschichten, als dass sie wirklich auf die Musik hörten. Ihre Berichte über phänomenale Soli oder über die Tenor Battles in Kansas City lesen sich oft genug wie Sportreportagen, bei denen der – gesellschaftlich eher männlich konnotierte – Wettbewerbscharakter stärker im Vordergrund zu stehen scheint als etwa die – gesellschaftlich eher weiblich konnotierte – Einfühlsamkeit des Aufeinander-Hörens und Aufeinander-Reagierens der Musiker/innen. Das Höher-Schneller-Weiter (und immer wieder auch „Neuer“) der amerikanischen und europäischen Jazzkritik entstand aus einer Haltung heraus, die den Fokus auf (männliche) Musiker und die Marginalisierung weiblicher Musikerinnen nur unterstützte.
Da ist zum zweiten das Publikum, das über die Jahre – ebenfalls gesellschaftlich begründet – immer mehr aus Männern zu bestehen schien. In New Orleans war der Jazz noch eine in der Gemeinschaft verankerte Musik. In der Swingära war Jazz geschlechterübergreifend der Soundtrack fürs erste Date. Je mehr Jazz aber zum Kultobjekt einer ganz eigenen Community (jener der Jazzhörer nämlich) wurde, desto weniger waren Frauen Teil dieses Kreises. Das hat viele Gründe, von denen einer der Jazzclub sein mag, in dem auf unterschiedlichste Art und Weise Geschlecht markiert und zwischen den Geschlechtern vermittelt wurde. Hier mutierte der Jazzfan zum sprichwörtlichen Briefmarkensammler, der statt seltener Marken Platten oder Livemusikerlebnisse sammelt, der sich durch das Wissen um die Musik im Männerbündnis der anderen Sammler und Experten positioniert, der den Jazzkeller zugleich aber auch (zumindest in den 1950er bis 1970er Jahren) als potentiellen Flirt- oder außerfamiliären Freiraum betrachtet. Wie bei so vielem war die Konzentration männlicher Sammelleidenschaft dabei irgendwann so übermächtig, dass viele der Frauen, sofern sie zu diesem Zirkel überhaupt Zugang fanden, aufgaben, weil es Wichtigeres gibt, sei es – um das Klischee zu bedienen – Familie, Beruf oder aber tatsächlich: die Musik.
Da sind zum dritten die Musiker selbst, die vor allem im homosozialen Umfeld der Männerensembles wirkten. In der Swingära war die einzige Frau auf der Bühne oft genug die Sängerin, die vor allem bei Schlagern zum Einsatz kam und ansonsten vor der Band zu sitzen und schön auszusehen hatte. Der „Canary“ (wie man die Bigbandsängerinnen damals abschätzig nannte) war ein Ausdruck der durch die musikindustrielle Vermarktung von Jazzorchestern festgeschriebenen neuen Geschlechterordnung, nach der Männer die Musiker und Frauen höchstens Sängerinnen, ansonsten vor allem Begleiterinnen der Jazzfans waren. All das wiederum ist eine Reaktion auf die durch Heteronormativität geprägte Gesellschaftsordnung des 20sten Jahrhunderts. Wenn auch der Jazz zu Beginn seiner Geschichte durchaus Verbindungen in ein Milieu besaß, in dem Frauen als Ware betrachtet wurden, so genossen die Musikerinnen in jenen frühen Tagen doch große Wertschätzung. Ab den 1930er Jahren wurden sie auf der Bühne dagegen vermehrt als (immer auch sexuelles) Objekt präsentiert und wurde diese Objekthaftigkeit von Weiblichkeit durch alle die Musik begleitenden Medien tradiert und in einen scheinbaren Gegensatz gesetzt zur überbetonten Subjekthaftigkeit, also dem Alleinstellungsmerkmal musikalischer Individualität, ihrer männlichen Kollegen.
Wo aber stehen wir heute? Die Genderdiskussion ist mittlerweile auch im Jazz angekommen, etwas unaufgeregter als in anderen Bereichen, auch deshalb, weil die gesellschaftlichen Veränderungen eine neue Art von „Normalität“ herstellen, wie es sie vor 20 Jahren so noch nicht gegeben hatte. Kann es vielleicht sein, dass, so wie bi-lingual aufgewachsene Menschen oft nicht wissen, ob sie ein Buch in der einen oder anderen Sprache gelesen haben, Geschlecht und sexuelle Orientierung von Musiker/innen heutzutage kaum mehr Einfluss auf die Rezeption ihrer Musik haben? Das 1996 ins Leben gerufene Mary Lou Williams Women in Jazz Festival wurde 2014 in Mary Lou Williams Jazz Festival umbenannt, weil die Veranstalter den Fokus auf Frauen für zu einseitig hielten: Er implizierte zu oft die Frage, ob dort auftretende Musikerinnen generell oder aber nur „für eine Frau“ großartige Musik machten. „Man muss nicht das Geschlecht dieser wunderbaren Frauen herausstellen“, erklärte eine der Organisatorinnen. „Talent ist Talent ist Talent.“ Und als 2014 das OutBeat Festival in Philadelphia ein Programm um Musikerinnen und Musiker strickte, die sich der LGBTQ-Community zugehörig fühlten, murrten beide Seiten auf: Einige der auftretenden Künstler wollten nicht einzig durch ihre sexuelle Orientierung definiert werden; einige nicht schwul-lesbische Musiker kritisierten: Seit wann ist schwul oder lesbisch ein musikalisches Qualitätskriterium? Die einzige transsexuelle Künstlerin des Events, die Bassistin Jennifer Leitham, witzelte in ihrer Ansage: „Was man heutzutage nicht alles tut, um einen Gig zu kriegen!“ Der Pianist Orrin Evans aber, der in Philadelphia an einer der Diskussionsrunden zu Homophobie im Jazz teilnahm, fasste die eigene Haltung und die der meisten Kolleg/innen seiner Generation lapidar zusammen, als er auf die Frage, wie er es mit schwulen oder lesbischen Musiker/innen in seiner Band halte, antwortete: „I don’t care whom you’re screwing… as long as you’re screwing somebody.“ Musik, will er damit sagen, handelt nun mal vom Zwischenmenschlichen; sie ist nichts für Eremiten.
Die Zeit männlicher Dominanz im Jazz und in der Reflektion über Jazzist noch nicht vorbei. Immer noch gibt es sehr viel mehr männliche als weibliche Booker bei Clubs oder Festivals, Professoren an Hochschulen, Jazzredakteure an den Öffentlich-Rechtlichen Sendern. Musiker/innen und wissenschaftliche Studien suggerieren, dass es auch im Spielen, beispielsweise in Jam Sessions, Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Musiker/innen gibt. Das biologische Geschlecht aber, erklärt Judith Butler, ist keine fixe Größe dessen, was man ist oder was man hat, sondern höchstens ein Teil des Prozesses, durch den Weiblichkeit oder Männlichkeit im augenblicklichen gesellschaftlichen Diskurs markiert wird. Die Welt ändert sich, und mit ihr ändert sich auch die Wahrnehmung künstlerischer Rollenzuschreibungen. Der Blick zurück wird vielleicht noch lange die Verklärung von Männerbünden als zentrales Narrativ im Blick behalten – zu eingebrannt ist diese in die Erinnerung der Jazzgeschichte. Dieser männliche Blick auf die Historie lässt sich auch nicht einfach dadurch ändern, dass man den Fokus auf die Frauen im Jazz richtet. Vielmehr ist es wichtig, über Jazz aus der Perspektive von Musikerinnen nachzudenken. Vor allem aber, regte Sherrie Tucker beim Darmstädter Jazzforum über „Gender and Identity in Jazz“ im letzten Jahr an, gehe es beim Thema „Gender“ darum, vielleicht über das Thema „Frauen im Jazz“ zu sprechen, tatsächlich aber „Vielfalt im Jazz“ zu meinen. Einer solchen Haltung sind wir immerhin näher als je zuvor: Die Maskulinitätsästhetik des Jazz löst bereits in der Gegenwart höchstens noch Kopfschütteln aus; in der heutigen Generation von Jazzmusiker/innen geht es vor allem um … Musik.
Wolfram Knauer (September 2016)
Weiterführende Literatur:
Sherrie Tucker: A Feminist Perspective on New Orleans Jazzwomen, 2004. https://www.nps.gov/jazz/learn/historyculture/people.htm
Nichole T. Rustin & Sherrie Tucker: Big Ears. Listening for Gender in Jazz Studies, Durham/NC 2008 (Duke University Press)
Gender and Identity in Jazz, herausgegeben vom Jazzinstitut Darmstadt, Hofheim 2016 (Wolke Verlag: Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, Band 14)
I wrote this essay about Cecil Taylor as composer together with two other essays (on Jelly Roll Morton and John Lewis) for the two-volume International Dictionary of Black Composers, edited by Samuel A. Floyd Jr., published in 1999 by Fitzroy Dearborn Publishers, Chicago (p. 1093-1102)
1. Jazz Composition before Cecil Taylor
The term „composition“ in jazz relates to aesthetic ideals which are considerably different from those of „composition“ in European based art music. Jazz emphasizes improvisation, and thus the main task of the jazz composer was often limited to the creation of a framework setting the atmosphere for and structuring the performance. One does not necessarily need a composer or arranger for making a jazz performance more interesting harmonically, melodically or rhythmically. These elements can be just as well controlled by the interpreter, the improvising musician. After all, even the harmonic progression on which the chorus of a song is based, does mainly constitute the formal frame for the ensuing improvisations. The task of the composer, then, was to provide the larger formal structure and/or the melodic theme. Even composers of popular jazz standards often were by far not as well known as some of the musicians achieving a successful interpretation of their tunes. Hardly any jazz fan, for example, remembers Johnny Green, the composer of Body and Soul, but nearly everyone knows Coleman Hawkins‘ classic interpretation of the piece.
The main function of composition in jazz, thus, is to provide a structural frame. When the language of improvisation became more and more complex within the stylistic developments of the 1940s, some musicians were dissatisfied with the limitations of form in jazz — especially the prevalent chorus structures of repeated twelve or thirty two bar chord progressions. The Third Stream movement of the 1950s and early 1960s tried to alert musicians and composers to the fact that whereas improvisation in jazz had highly developed within the last twenty years, jazz composition had hardly kept up with it. Gunther Schuller and John Lewis envisioned musicians who were aware that within classical music there existed examples for compositional procedures which jazz musicians could learn from. Third Stream’s aim was a musician equally well versed in both traditions of African American and European musics and thus able to use whatever fitted his musical plans and ideas.
Jazz composers from Jelly Roll Morton to Duke Ellington, John Lewis, Thelonious Monk and Cecil Taylor usually followed two aims: They wanted to impress their own individual stamp, their stylistic identity as composers and at the same time give the musicians the freedom of contributing their own individuality as improvising soloists. One of their obstacles was to mediate between the worlds of composition and improvisation. Ellington wrote pieces fit for the individual style of his musicians and made this style part of his own sound. Monk wrote themes and provided accompaniments which always kept his personal stamp on the pieces. The same holds true for John Lewis who with sparse, blues-tinged accompanying phrases gave a counterpoint to Milt Jackson’s virtuoso elaborations and provided structural unity. Ellington and Lewis sometimes moved away from the usual twelve or thirty two bar chorus form. Cecil Taylor in his music proceeds even further changing the whole function of composition in jazz. His compositions no longer are mere formal outlines for ensuing improvisations but provide his musicians with a predetermined (which seems like a better term than the word „composed“) vocabulary of phrases, technical procedures, dynamic suggestions from which to choose, if not at random, at least in relative freedom.
2. Cecil Taylor as a Free Jazz Musician
The term „free jazz“ used for the music by many of the young musicians developing a new style in the early 1960s turned out rather to confuse than to define the understanding of jazz at that point. Free jazz was by far not as „free“ as the term seemed to imply. The music of Ornette Coleman, John Coltrane and Cecil Taylor had its roots in the history of African American music, in jazz. The aesthetic concept of many of the young musicians proved to be on a line with that of Duke Ellington, John Lewis, Charles Mingus or some of the Third Stream composers from the 1950s. By different means they tried to either bring together the most contemporary forms of improvisation and composition or to develop new forms and compositional procedures more suited to contemporary improvisation. Many of the avantgarde musicians of the early 1960s had been in close contact with some of the more important figures in the Third Stream. Ornette Coleman had studied with Gunther Schuller. Coleman and Eric Dolphy had participated in many projects by the Orchestra U.S.A., an ensemble founded to feature the new musical aesthetics of Third Stream. Cecil Taylor had studied the histories of jazz and contemporary European art music and was well versed in both traditions. In interviews he acknowledged influences from composers and musicians such as Duke Ellington, Lennie Tristano, Dave Brubeck, Arnold Schoenberg or Igor Stravinsky. He summarizes: „Everything I’ve lived, I am… I’m not afraid of European influences. The point is to use them — as Ellington did — as part of my life as an American Negro.“ [Taylor 1958]
Together with Coleman and John Coltrane, Cecil Taylor stands for the „classic“ period of American free jazz. In the late 1950s and early 1960s, Taylor developed a musical language of composition and improvisation which seemingly broke with many of the musical traditions of jazz — more so than in the cases of Coleman and Coltrane, it seemed at that time. Ornette Coleman in most of his music still retained a steady beat and often relied on an obvious „swing“ feeling. John Coltrane developed his style of playing gradually by extending the harmonic and formal language of jazz by means of modal improvisation. Cecil Taylor, though, in the early 1960s brought forth a new concept. In his music the forward motion usually achieved by „swing“ was substituted through an extreme rhythmic energy. Melody was mostly discarded in favor of short phrases or repetitions of phrase fragments. The harmonic basis consisted neither of changes as in traditional jazz nor of scales as in modal improvisation, but rather — if at all — of short tonal centers around which the improvisation developed. The formal outline of his pieces was neither a more or less notated structural frame nor complete structural freedom within stream-of-consciousness-like improvisations, but a distinct formal vocabulary working with short, predetermined structural units. Taylor explains: „This is not a question of ‚freedom‘ as opposed to ’nonfreedom,‘ but rather a question of recognizing different ideas and expressions of order.“ [Hentoff 1965]
More than with earlier jazz composers, though, with Taylor terms like „composition“, „improvisation“, „form“, „rhythmic energy“ have to be newly defined. Taylor’s music — in his solo as well as his group performances — is built upon a concept of structured free improvisation. His dynamic concept has been termed „energy play“ – a rhythmic-dynamic process which replaces the functions conventionally fulfilled in jazz by „swing“. Whereas traditionally jazz musicians refer to an underlying, though not always stated pulse, Taylor gives up this reference point. In his early recordings (up to 1960/61) he often played with musicians who insisted on the rhythmic basis, who did swing, while Taylor obviously followed a different ideal. Taylor himself calls the dynamic element in his music „energy“ and equals its effects with those of conventional swing, „swing meaning the traditional coloring of the energy that moves the music“ [Spellman 1966: 71]. He states that swing is „black energy brought to music… It has to do with how different people think about rhythm, about time, how they see themselves in space; what they think the body is.“ [Taylor 1979]. In his programmatic liner notes to the album Unit Structures from 1966, Taylor in his typical poetic language equals „Creative energy force = swing motor reaction exchange/fused pulse expands measured activity relating series of events. Explosive dynamics filter graduated tempi/a molecular condition of bearing/special levels qualitatively diverse and special/emerging event holds traditional recording men’s actions in heat life variable knit accord history a language in balance, direction.“ [Taylor 1966]. Energy play is not only a substitute for swing but a distinct formal ideal. Whereas swing represents mostly a continuous forward motion, the dynamically defined energy of Taylor’s music builds up to dynamic culmination points, is an active ingredient in his formal concept. Taylor himself defines the different musical ingredients — form, rhythm, musical communication — in their relation to each other:
„The Ensemble Exists beginning microcosm germ expanding simultaneously in 3 areas: outer curve – intra section (density) rhythmic eclipse (time) Resulting weight produce organism thrust archetypical event energy source swing“
[Taylor 1976]
Taylor’s concerts consist of long sets in which the players find together in passages of intense musical conversation. De facto, though, these sets are built upon carefully planned compositional ideas – compositions, though, very different from the composed „opus“ of European music, and different just as well from the theme composition or mere arrangement which one usually encounters in jazz. In recent years, Taylor has recorded some of his compositions in short versions which allow a more detailed analytic study of their concept.
3. Composition with Cecil Taylor
Taylor’s recordings from the early 1960s onward show him experimenting with group sounds, trying to find a new way of playing together, to establish a dense musical texture not hitherto heard in jazz. His music contains clear structures – not in the sense that one finds in notated, analytical compositions or arrangements but in the sense of a structuring of musical time. Taylor does rarely use notated music. In numerous interviews he argues against notation: „The eyes are really not to be used to translate symbols that are at best an approximation of sounds. It’s a division of energy and another example of Western craziness. When you ask a man to read something, you ask him to take part of the energy of making music and put it somewhere else. Notation can be used as a point of reference, but the notation does not indicate music, it indicates its direction.“ [Spellman 1966: 281-282]. Or, more concisely: „Western notation blocks total absorption in the ‚action‘ playing. The eye looks, mind deciphers, hands attack, ear informs.“ [Taylor 1966]. Taylor’s way of „transmitting ideas“, as he calls it, is the oral concept. Saxophonist Jimmy Lyons reminisces: „Sometimes Cecil writes his charts out, sometimes not. I dig it more when he doesn’t. I don’t know how to say this, but we get like a singing thing going when he teaches us the tunes off the piano. It has to do with the way Cecil accompanies. He has scales, patterns, and tunes that he uses, and the soloist is supposed to use these things. But you can take it out. If you go into your own thing, Cecil will follow you there.“ [Spellman 1966: 44]. Here, Lyons explains more than just the oral „transmission“ of ideas as opposed to interpreting notated music. Taylor is more interested in the musical process, in the direction the music takes than in the actual nameable (repeatable) result. At one instance, he states, „Music is a head game, and the idea is that all things that prevent complete absorption of the sound should be cut away as much as possible. We’ve devised different ways of organising the music, to get to musicians very quickly so that they can absorb the ideas and get it playing around in their heads and operating“. [Wilmer 1977: 48]. Taylor’s musicians are not supposed to blindly follow a compositional plan but to absorb musical ideas and influence the musical process to an even larger degree than with standard procedures in jazz. One may find Taylor preparing a concert by playing a certain motivic cell, spread over the whole keyboard, over and over again for hours, absorbing its possibilities. This motivic cell may then function as the point of reference for the evening’s concert, although it is hardly ever stated during the live event. To interpret for him means to absorb the musical idea. In 1957 Taylor recorded Nona’s Blues at the Newport Jazz Festival. He relates this story about his view on musical notation: „I’ve had musicologists ask me for a score to see the pedal point in the beginning of that piece. They wanted to see it down on paper to figure out its structure, its whole, but at that point I had stopped writing my scores out. I had found that you get more from the musicians if you teach them the tunes by ear, if they have to listen for changes instead of reading them off the page, which again has something to do with the whole jazz tradition, with how the cats in New Orleans at the turn of the century made their tunes. That’s our thing, and not composition. There are periods when I go through that and periods when I don’t, depending on the score and the musicians. But ‚Nona’s Blues‘ I did not write out. And the musicologists found that hard to believe, since on that tune one section just flows light into the next. That gives the lie to the idea that the only structured music possible is that music which is written. Which is a denial of the whole of human expression.“ [Spellman 1966: 70-71]
4. The Unit – Band and Solo
The term „unit“ was used as a name to many of Taylor’s ensemble since 1966 as well as a description of some aspects of his musical aesthetics. As a band it was a unit of individuals relating to each other and to each other’s personal and musical history: „When I say the Unit, it is not piano virtuoso or drum virtuoso or alto soloist, but a community of men feeding each other, relating to each other, and speaking to each other in musical architectural sounds which have been passed on to them through reverence of Sidney Bechet, Charlie Parker and Sonny Rollins, with due respect for Ornette Coleman, Eric Dolphy, if you happen to be Jimmy Lyons… or through the love of Fats Waller, Jelly Roll Morton, Erroll Garner, Bud Powell, Thelonious Monk, Horace Silver, if you happen to be Cecil Taylor… I mean, that’s what improvisation is. It is the ability to communicate with the geniuses that have prededed us and to come with reverence to obtain some personal meaning from their universe and translate it for ourselves to give to those who follow.“ [Taylor 1979]
While this quote emphasizes the importance of historical awareness in Taylor’s music, in his liner notes to the album Air Above Mountains (1966), Taylor explains the moment of individuality and the very personal sides of improvisation in his own and his group’s music:
„Improvisation is a tool of refinement an attempt to capture ‚dark‘ instinct cultivation of the acculturated to learn one’s nature in response to group (society) first hearing ‚beat‘ as it exists in each living organism.“
[Taylor 1976]
Taylor himself, without doubt, is a virtuoso pianist. He has total command of the keyboard but applies it according to his own stylistic concept. The percussive quality of Taylor’s piano playing has often be singled out as a special characteristic of his style. Taylor often uses a technique involving fast cluster movements covering the whole keyboard of his instrument. He holds his hands, finger pressed together, in a hammerlike position and moves them, one hand above the other, across the whole or part of the keyboard. Taylor uses clusters in several ways depending on their structural task: In improvisatory parts these clusters help producing highly energetic results. Another cluster type produces melodic or rhythmic motives, sets recognizable patterns and functions as a motivic unit and as such as an element of form in Taylor’s music. Such clusters are mostly used in the thematic parts which can be freely combined by the musicians. Taylor himself characterizes his piano playing analytically: „The piano as catalyst feeding material to soloists in all registers, character actor ‚assoluta‘. Attitude encompassing single noted line, diads, chord cluster, activated silence (motion in the dark light square) it is played percussively (stiff bodied fingers) …“ [Taylor 1966]. His ideal of piano solo playing is to sound like an orchestra — an ideal not too rare with jazz pianists. In his solo pieces the three structural categories which Taylor calls „anacrusis“, „plain“ and „area“ are clearly discernible by their different pianistic character (as discussed below for Air Above Mountains). Within the ensemble, the unit, Taylor usually worked together with musicians who were able to relate to his dynamic concept of improvisation. Some of the musicians stayed around Taylor for a considerable time, the saxophonist Jimmy Lyons for instance for more than twenty years.
5. Unit Structures – Cecil Taylor’s musical program
Taylor — and with him other exponents of the „new thing“ — did rarely play „standards“ with fixed harmonic progressions (i.e. with a preset formal outline). Taylor looked for new ways to structure improvisation in order to find an alternative to the conventional form (and structuring) in jazz.
In Taylor’s music from the 1960’s into the 1990’s one often hears similar melodic and motivic elements. Listening to his recordings one soon discerns a distinct motivic vocabulary. There seem to be not too many „words“ in this vocabulary, as one encompasses similar formulas over and over again. There are motivic cells like a rhythmic octave pendulum motive; there are typical harmonic progressions like Taylor’s fondness for chromatic passages; there are formal conventions such as the static-energetic repetition of small motivic units.
The single constituents of Taylor’s stylistic vocabulary are the structural units. Unit Structures — also the title of Taylor’s first album for the Blue Note label from 1966 — was a musical program based on more or less defined structural units. This unit concept becomes the most important feature of Taylor’s formal language throughout the years. Starting with Unit Structures and Conquistador (1966), Taylor developed the unit concept in his group as well as in his solo projects. A „unit“ in this concept is an isolated musical occurence, a time unit, a formal entity. Taylor exlains in his liner notes to Unit Structures: „Rhythm-sound energy found in the amplitude of each time unit. Time measurement as isolated matter abstracted from mind, transformed symbols thru conductor, agent speaking in angles…“ [Taylor 1966]
Taylor introduces terms for three formal elements central to his compositions:
„anacrusis“: „Anacrusis“ is a thematic introduction which, as Ekkehard Jost explains, „defines above all the emotional level of the ‚collective compositions'“ [Jost 1981: 77]. Anacrusis, then, is not the thematic material for improvisation but rather an introduction setting the atmosphere for what follows.
„plain“: „Plain“ are short motivic cells which constitute the most recognizable part of Taylor’s music, the „vocabulary“: composed or predetermined parts which can be combined by choice. Taylor explains the „plain“: „architecture, particular in grain, the specifics question-layers are disposed-deposits arrangements, group activity establishing the ‚Plain‘.“ [Taylor 1966]. Typical „plain“ cells include simple octave pendulums, chromatic changing note passages, repeated chordal phrases, fast harmonic arpeggios often covering several piano registers.
„area“: The „area“ is the field for improvisation, leading from the surrounding structures into an improvisatory exploration of given material — though the material itself does not necessarily have to be the basis for improvisation. Taylor explains: „… where intuition and given material mix group interaction. (…) The players advance to the area, an unknown totality, made whole thru self analysis (improvisation), the conscious manipulation of known material“ [Taylor 1966].
A fourth element in Taylor’s universe of composition is called „strata“ and defines the personality of each musician, his musical approach and his individual sound. Taylor: „Each instrument has strata: timber, temperament“ [Taylor 1966].
The use of the three structural elements „anacrusis“, „plain“ and „area“ results in a recognizable overall structuring of Taylor’s music, which nevertheless allows for extreme personal freedom of the individual musicians. Taylor explains: „From Anacrusis to Plain patterns and possibility converge, mountain sides to dry rock beds, a fountain spread before prairie, Form is possibility; content, quality and change growth in addition to direction found.“ [Taylor 1966; emphasis is mine]. Or, in less metaphysical words: „My music is constructionistic, that is, it is based on the conscious working-out of a given material“ [quoted in: Jost 1981: 75].
6. Conquistador!
Conquistador! is the second of two albums Cecil Taylor recorded for the Blue Note label in 1966. The Blue Note deal was Taylor’s first contract with an established company. All musicians of the date had played with Taylor before. Taylor had used the two bassists Alan Silva und Henry Grimes since 1964; Jimmy Lyons had worked with the pianist since 1961; drummer Andrew Cyrille, whose second album with Taylor this was, would stay with the pianist into the mid-1970s. The years before the recording had been relatively successful for Taylor, who, for instance, held an engagement at the prestigious Village Vanguard in New York for five consecutive weeks. The reviews of Taylor’s first Blue Note album (Unit Structures) had been mostly positive. The album Conquistador!, though, ended Taylor’s contract with Blue Note. Conquistador! contains two extended compositions: the title piece as well as With (Exit), both almost twenty minutes in length.
Conquistador begins with a short cascade-like piano introduction. This is followed by a repetitive unison theme stated by trumpet and saxophone (see ex. 1) and accompanied by vivid piano phrases. The piano takes over with another melodic figure repeated in chromatic downward sequences, soon to be accompanied by long notes from the horns.
Jimmy Lyons takes his solo from here, beginning on top of the repeated rhythmic piano phrases. Whereas the unison theme in the beginning clearly states a gb (minor) modality, the alto solo stays in an eb (minor) surrounding. Lyons‘ solo itself works with repetitive structural elements, short phrases which are repeated, changed, interrupted by cascade-like runs, changed into new, related phrases which again are repeated. All this happens on top of a very active piano accompaniment, on top of irritating drum accents, on top of an ever-moving bass line — all of which veils the repetitive elements, giving the structure much more of a nervous appeal than it really holds. The repetitions of the saxophone and those of the piano do not necessarily coincide, Taylor‘ phrases often beginning at different time intervals from Lyons‘. Still, these repetitive elements constitute the structure of the long alto saxophone solo. The musicians refer to a common phrase vocabulary as may be noted when Lyons starts a sequence of intervallic triads (see ex. 2) similar to the intervallic structures often used by Taylor — and which the pianist actually plays not more than 30 seconds after the saxophone passage in question.
A change of atmosphere introduces a lyrical, nearly ballad-like trumpet solo in c minor, accompanied by sparse and much more harmony-oriented piano phrases, arco as well as pizzicato basses and single drum accents. Taylor’s accompaniment does not contain any of his typical cascade-like runs.
The short interlude-like trumpet solo is followed by a piano „vamp till ready“ section in eb minor preparing for a 4/4 theme which is stated by trumpet and alto saxophone in unison. After the first two measures this theme breaks out of the 4/4 structure and holds its own clear melodic line (ex. 3) against repeated piano phrases. This second theme has a strong hardbop feel. A „bridge“ constantly repeats a simple two measure phrase (first in f minor, then in ab minor).
From here Taylor starts his solo with sparse phrases on top of equally sparse drum accents and a dense bass carpet. Taylor repeats short phrases and single chords. His solo is structured harmonically in four parts: an a minor part; a second, more cascade-like part changing between G major chords and chords on its chromatic upper second (ab); a third part returning to the opening a minor; and a final part in g minor.
This leads back into a reprise of the second (hard bop) theme which after Taylor’s „vamp“ is shortly (just once) stated by the horns.
The following section features the basses. Fore- and background seem to be changing constantly. The texture becomes dense, has the effect of a constant dialogue between the two basses, piano and drums. After a while saxophone and trumpet enter with held notes (still in an eb minor feel), followed by an unaccompanied bass duo which more and more calms down, until piano and alto enter quietly.
The piece ends with a short motivic reminiscence of the opening theme. Ekkehard Jost’s conclusion of his analysis of Unit Structures holds true for Conquistador: „Beneath the emotional impact of his music, which is what the listener primarily responds to, is an intricate network of formal relationships. These inner formative aspects — created by composition and agreement, as well as by spontaneous interaction on the part of the players — are utterly independent of traditional schematic demarcations and thus have only a low degree of predictability for the listener.“ [Jost 1981: 83] In Conquistador, Taylor presents different thematic, atmospheric, improvisational approaches from which his musicians can choose. The larger formal outline is progressive rather than repetitive even though the second (hardbop) theme functions as a formal frame for part of the performance. The stylistic language of Taylor and his musicians in Conquistador comprises rhythmic and melodic repetition, pronounced tonal centers as well as a distinct negation of such tonal centers, solo passages and collective improvisation, aggressive accompaniment and lyrical melodies. Here as in other recordings by Taylor one meets phrases, melodic and rhythmic figures which form the basic vocabulary of Taylor’s music. In his solo recordings Taylor keeps mostly within such a vocabulary whereas in the group recordings his musicians have the freedom to contribute their own ideas within the given stylistic frame.
7. Air Above Mountains (Buildings Within)
Air Above Mountains (Buildings Within) was recorded in August 1976 during a solo piano concert in Austria. It was released on the German Enja label in two fragments, each of which covers about 26 minutes.
In his essay accompanying the extensive CD documentation of Cecil Taylor’s one-month stay in Berlin in August 1988, Ekkehard Jost [Jost 1988: 93] analyses the development of Taylor’s solo piano language from his earliest solo album (Praxis) from 1968 to his recording of For Olim in 1986. Jost notices a development from a cluster-emphasized highly energetic playing in earlier years to a stronger emphasis on short tonal centers and chromaticism, a development aiming at structural diversity and timbral variety. One might add that with the years Taylor obviously made more conscious use of certain of his „vocabulatory“ phrases, a development resulting in the solo/trio miniatures of the album In Florescence from 1989. Also, in recent years Taylor’s solo as well as his group projects have made more and more use of his own poetry recited either before or in the middle of his pieces, sometimes even accompanied by his own percussion or piano playing (Double Holy House, 1990, FMP CD 55).
In Air Above Mountains, Taylor uses an alternation of „plain“ and „area“ passages involving the following structural ideas:
„plain“:
octave pendulums, usually spread over up to four octaves but sometimes over the whole keyboard;
chromatic changing note passages, sometimes involving two, three or four neighboring notes, often played in forcefully attacked octave pendulums covering several octaves;
chordal phrases, usually hammered in frequent repetitions of single chords (sometimes spread over several octaves) or, as Ekkehard Jost describes them as „a motive consisting of two chords moving in parallel or in counter motion. When two hands are involved, each hand mirrors the other.“ (see ex. 4, taken from Jost 1988: 91);
fast arpeggios with a clear harmonic center, often played alternating with similar arpeggios a second above or below (chromatic shift). These arpeggios often only comprise a single octave, are repeated and then dissolved into an octave pendulum a second higher or lower as in ex. 5, taken from a phrase near the end of the second half of Air Above Mountains.
„area“:
cascade like improvised passages, played rapidly with both hands creating a seemingly single melodic occurence. These extremely fast passages often are hammered by Taylor in his unusual piano technique described above.
„Plain“ and „area“ sections as well as the single „plain“ units usually are easily identifiable. Single units are rarely longer than half a minute; passages of improvisational cascades lasting for more than two minutes as they occur in both halves of the recording stand out in the context of the performance. Sometimes the alternation of different techniques leads to frame-like structures. This is the case during the middle of the first part of Air Above Mountains, when Taylor plays a signalling passage reiterating „d“ (as a fifth in G major), then proceeding to a cascade-like improvisational passage which is followed by a clear reminiscence of the earlier frame. Only rarely do we encounter distinctly structured melodic lines or rhythmical phrases reminiscent of more conventional jazz playing. If any tonal identities are established, they don’t last long — usually not more than a couple of seconds before being discarded in favor of chromatic shifts or sudden change of technique. Structural changes are abrupt, there are no connecting interludes, no improvised transitions between the structural units.
Taylor’s solo piano performances tend to be more coherent than his group recordings. Relying on just himself as improvising soloist, Taylor often cuts „area“ sections to a minimum giving himself more room to explore the „plain“, to develop dynamic tension out of the the unit vocabulary. In general, with Taylor composition is neither aim nor frame but point of departure. Improvisation can be achieved on different levels: in the more „conventional“ free improvisations of Taylor’s „area“ passages; but also in the individual use and interpretation of the different „plain“ units.
It would be a mistake, though, to understand the limited motivic material in the „plain“ parts as musical center of Taylor’s compositional concept. The „plain“, the compositional reservoir he uses and let’s his musicians use is comparable to the vocabulary of a language, which in itself does not make sense but only in a semantic surrounding. Taylor’s motivic cells are tools to develop the energetic process of his pieces. Many performances use a similar vocabulary, and yet the results are extremely different, because the musical development as such is largely independent of the precomposed units. These have a function comparable to bricks in the building of architecture. One brick looks like the other, and yet one building will be a church and the other a hotel. (Taylor, by the way, is highly interested in architecture and dance. Both stand for ideals within his own musical thinking: architecture = structuralism; dance = rhythm, processual form.)
8. Ell Moving Track
In 1989 Cecil Taylor recorded the trio album entitled In Florescence containing fourteen pieces. Each composition is introduced by Taylor with short poetic lines. Many of these seem programmatic, for instance the lines preceding Charles and Thee: „How many ways can one note, its resonances physically impelled to produce a myriad of inflections, timeless in the glare of an absidian blade.“ All compositions on the album are miniatures compared to usual Taylor performances, lasting between 48 seconds and 11 minutes and averaging around 3 to 5 minutes. Many of the miniatures, though show a formal outline similar to the structural development of much longer concert performances. Thus, In Florescence kind of represents a dictionary of Taylors formal and compositional vocabulary. The short compositions show harmonically, melodically and rhythmically clearly structured forms. The skeleton transcription of Ell Moving Track in ex. 6 tries to direct the listener to the formal and structural development, notating only such elements (bass lines, chords etc.) which best identify single units. (Some of such units, it can be deduced from this skeleton transcription, center more on chordal playing, some on harmonic/chromatic figures, some stand out through clear melodic phrases, while others feature a distinct rhythmic character.)
Taylor opens the short performance (Ell Moving Track lasts for only 5’15“) with a recitation of two poetic lines: „Instrument always less than the music, spirits engulf blood to make“. The piece itself can be analytically structured in five sections. It begins with homophonic lines, hardly rhythmically stressed, increasingly interrupted by breaks and played in opposite motion by both hands (blocks 1-8 in the transcription). A second section (blocks 9-13) consists of chains of broken chords in the right and a clear bass line in the left hand. Notice a split second — barely discernable — of a swinging rhythm within block 11. A third section (blocks 14-16, 17) has a clear formal task: a passage reminiscent of ragtime figures frames a chordal improvisational passage. The fourth section (blocks 18-28) features improvised cascades framed by motivic „ritornellos“; in between there are motivicly related improvisations with clear — and for Taylor rather rare — melodic and harmonic references to the blues. Also one hears a distinct harmonic basis: blocks 18-19 indicate E minor, blocks 23-28 Gb minor. The last section (blocks 29-44) again features broken chords over distinct bass lines and is clearly reminiscent of section 2. Again there are tonal relationships, again one finds repetitions of various melodic/thematic groups.
The „composition“ of the whole piece results in a strong feeling of formal unity. The musical process can be deduced to relatively simple structural ideas which make up the single sections. Rhythmic intensity and with it a feeling of rhythmic development is not achieved by the jazz-traditional means of swing but by a more or less of musical energy. The high point doubtlessly are the improvised cascades in section 4.
The main traces of stylistic traditions from jazz history are rhythmic and harmonic references towards blues, ragtime, a swinging rhythm. These, though, nearly vanish behind the strong personal style of the pianist. Still, they stress the importance of African American musical heritage for Cecil Taylor: „The determinant agent of this music has to do with ancestor worship, it has to do with a lot of areas in terms of a feeding process. It has nothing to do with energy except that one tries to keep one’s body in shape. It has to do with a language of sounds that are exchangeable depending upon one’s knowledge of the tradition.“ [Giddins 1981: 282-283]. The pianist acknowledges different influences, some of which can be heard in his music, some of which can only be experienced in his live performances: „The elements I draw from include the blues, the conservatory and even the Japanese Kabuki“ [Taylor 1979]. Taylor can often be seen in concerts of musicians from a broad stylistic variety of African American music. Tradition with him is an aesthetic as well as a technical prerequisite.
„technique is weapon to do whatever must be done/ is self-determined reflective of conscious application of ancient ritual within family“
[Taylor 1976]
From a traditional understanding of music it may seem odd that Taylor gives different titles to pieces which obviously make use of the same motivic/melodic elements. A title with Taylor is no longer the name for a single, identifiable piece, but the name for a unique improvised process. This becomes especially clear in the rare cases in which Taylor uses a title twice, such as on his solo album Silent Tongues. Live at Montreux ’74 (Arista Freedom Al 1005) in which the encores Jitney No. 2 and After All No. 2 mirror the original Jitney and After All from the same concert only in atmosphere — After All for example clearly identifiable as Taylor’s idea of a ballad. On the other side, it may be enlightening to compare the structural elements of a composition such as Ell Moving Track to recordings making use of similar material. In November 1989, for instance, Taylor recorded a solo album (Looking (Berlin Version) Solo, FMP CD 28) which features elements found in Ell Moving Track: In a short piece (just 1’22“) entitled Section 3 one finds a passage not unlike the one in blocks 9 to 11 from ex. 6: chromatic, chordal passages, a signaling motive and a short, slightly swinging rhythm. Section 4 from the same concert (length: 3’45“) might be compared to the fourth block from Ell Moving Track with the alternation of a ritornello frame and short, then increasingly longer cascade-like improvisations. In both Section 3 and Section 4 Taylor uses a glissando as another structural point de vue, this time one not heard in Ell Moving Track.
The vocabulary used in Ell Moving Track, thus, has not been coined especially for this piece. Taylor has used it before and since. An earlier example can be hear in the second piece of Taylor’s Iwont£nwonsi. Live at Sweet Basil (Sound Hills SSCD-8065), recorded in 1986 (released in 1995). Many of the above mentioned structural units are easily identifiable — the first fifteen minutes of the piece which lasts for slightly more than 44 minutes seem mostly like an enlargement of elements found in Ell Moving Track –, even though the units are combined differently. „Each piece is choice“, says Taylor in 1966 [Taylor 1966]. With Taylor, the term „composition“ can be traced back to its literal origin „com-ponere“: to combine a specified musical vocabulary. In his compositional aesthetics, Taylor moreover combines musical traditions from the European as well as the African American heritage. As composer and performer Taylor succeeds in arriving at highly energetic performances which, inspite of the limited musical material used as basis, are largely unpredictable to the listener. Taylor’s music, without doubt is demanding to the listener. But for those who take up the challenge, his compositions never loose the highest risk of an improvised jazz performance and yet bear the individual mark of an original composer.
Wolfram Knauer (March 1996)
References:
Balliett, Whitney. 1986. American Musicians. 56 Portraits in Jazz, New York: Oxford; chapter „Cecil“, p. 408-415
Coss, Bill. 1961. Cecil Taylor’s Struggle for Existence, in: Down Beat, 28/22 (26.Oct.1961), p. 19-21
Giddins, Gary. 1981. The Avant-Gardist Who Came In from the Cold, in: Gary Giddins: Riding On a Blue Note. Jazz & American Pop, New York: Oxford, p. 274-296
Goldberg, Joe. 1965. Jazz Masters of the 50s, New York: DaCapo; chapter „Cecil Taylor“, p. 213-227
Hentoff, Nat. 1965. The Persistent Challenge of Cecil Taylor, in: Down Beat, 32/5 (25.Feb.1965), p. 17-18, 40
Jost, Ekkehard. 1981. Free Jazz, New York 1981: Da Capo
Jost, Ekkehard. 1988. Instant Composing as Body Language. Towards an Understanding of Cecil Taylor’s Music of the Last Twenty Years, in: Cecil Taylor in Berlin ’88, Berlin 1989 [CD-booklet (FMP)], p. 85-102
Litweiler, John. 1984. The Freedom Principle. Jazz After 1958, New York: William Morrow; chapter „Cecil Taylor“, p. 200-221
Lyons, Len. 1983. The Great Jazz Pianists, Speaking of Their Lives and Music, New York: Quill; chapter „Cecil Taylor“, p. 301-311
Macnie, Jim. 1989. Liner notes: Cecil Taylor – In Florescence, A&M 395286-2
Mie·gang, Thomas. 1991. Semantics. Neue Musik im GesprÑch, Hofheim: Wolke; chapter „Cecil Taylor“, p. 169-174
Rosenthal, Juergen Abi S. 1990. Auf der Suche nach Cecil Taylor, Hofheim: Wolke
Rusch, Bob. 1984. Jazz Talk. The Cadence Interviews. 10 Jazz Masters Speak Candidly of Their Lives and Music, Secaucus/NJ: Lyle Stuart; chapter „Cecil Taylor“, p. 49-60
Schuller, Gunther. 1986. Musings. The Musical Worlds of Gunther Schuller, New York: Oxford; chapter „Cecil Taylor. Two Early Recordings“, p. 65-75
Spellman, A.B. 1966. Four Lives in the Bebop Business, New York: Pantheon, chapter „Cecil Taylor“, p. 3-76
Wilmer, Valerie. 1977. As Serious As Your Life. The Story of the New Jazz, London: Quartet; chapter „Cecil Taylor–Eighty-Eight Tuned Drums“, p. 45-59
Taylor, Cecil. 1958. Liner notes: Looking Ahead, Contemporary S 7562
Taylor, Cecil. 1966. Liner notes: Unit Structure, Blue Note Records BST 84237
Taylor, Cecil. 1979. Liner notes: Live in the Black Forest, MPS 0068.220
Wilmer, Valerie. 1977. As Serious As Your Life. The Story of the New Jazz, London: Quartet; chapter „Cecil Taylor — Eighty-Eight Tuned Drums“, p. 45-59
Wilmer, Valerie. 1977. Jazz People, London: Quartet; chapter „Cecil Taylor. Each Man His Own Academy“, p. 21-30 (F/I)
Eine Würdigung der Aufnahmen von James Reese Europe
Dieser Aufsatz erschien ursprünglich im Jazz Podium vom Mai 2019 (allerdings natürlich ohne die hier ergänzten YouTube-Audioclips).
Zwischen 1913 und 1919 machte James Reese Europe knapp 40 Aufnahmen, die die Jazzgeschichtsschreibung meist als „Vorformen“ des Jazz oder als „Proto-Jazz“ einstuft. Sie lohnen eingehenderes Hinhören, und zwar bewusst mit einem Verständnis dafür, dass das alles weder nach ODJB noch nach King Oliver oder anderen Aufnahmen klingt, die wir zumeist als Maßstab für den frühen Jazz benutzen. Zugleich aber kann man an ihnen bereits recht deutlich ablesen, welche Faszination die in ihnen spürbare afro-amerikanische Spielhaltung auf ihre Hörer gehabt haben mag.
James Reese Europe’s Society Orchestra: „Down Home Rag“ (Dezember 1913)
Vom Dezember 1913 etwa stammt der „Down Home Rag “ aus der Feder Wilbur Sweatmans. In beiden jeweils 48taktigen Themen des Titels hören wir vor allem den etwa sechsköpfigen Geigensatz, der die Melodie über dem stetigen Rhythmus von fünf Banjos und Mandolinen vorträgt. Hinter diesen klar komponierten, in unbändigem Tempo und deutlich zum Tanzen animierenden Melodien stechen vor allem die antreibenden Rufe heraus, die so etwas wie eine jazzmäßige Gegenbewegung zum Ragtime-typischen Hauptteil des Stücks darstellen.
James Reese Europe’s Society Orchestra: „Too Much Mustard“ (Dezember 1913)
In „Too Much Mustard“ von derselben Aufnahmesitzung muss man genau hinhören, um die Einsätze von Klarinetten und Kornett sowie die auch hier antreibenden Zwischenrufe wahrzunehmen.
James Reese Europe’s Society Orchestra: „Castle House Rag“ (Februar 1914)
Im „Castle House Rag“ vom Februar 1914 fehlt der Banjo/Mandolinensatz, dafür kommen Posaune und Flöte hinzu und scheinen Klavier und Schlagzeug klarer durch, wobei der Schlagzeuger auch gleich noch das Glockenspiel bedienen und zum Schluss der Aufnahme Solobreaks füllen darf.
James Reese Europe’s Society Orchestra: „Castle Walk“ (Februar 1914)
Im Arrangement über „Castle Walk“ von derselben Aufnahmesitzung stehen nicht allein die rhythmische Wirkung im Vordergrund, sondern daneben auch Harmonik, Form und Klangwechsel sowie einzelne kurze Solopartien. Und bei „You’re Here and I’m Here“, einer Broadway-Komposition von Jerome Kern, sollte man sich vor allem auf die verschiedenen Schlagzeugtechniken fokussieren, die das Ganze begleiten.
Was bei all diesen frühen Aufnahmen Europe fehlt ist: Improvisation – zumindest eine, wie wir sie kennen. Es gibt einzelne Breakpartien und kurze, aber scheinbar vorgeplante, wenn nicht gar ausgeschriebene solistische Ideen, dagegen weder Soli noch Kollektivimprovisationen im Sinne des späteren Jazz. Nun sind diese frühen Tondokumente keine Liveperformances, sind an ein zeitliches Limit von zweieinhalb bis drei Minuten gebunden und erlauben damit all die Interpretationsmöglichkeiten nicht, die der Band – wie wir aus Berichten über ihre Konzerte wissen – bei Auftritten durchaus möglich war.
Im Herbst 1916 wurde James Reese Europe damit beauftragt, für das 15te Infanterieregiment der US-Armee eine Kapelle aufzubauen. Es folgte ein landesweiter Aufruf, und als die 2.000 Soldaten des Regiments am Neujahrstag 1918 den Fuß auf französischen Boden setzten, waren unter ihnen auch die Musiksoldaten, die bereits am 12. Februar 1918, an Lincolns Geburtstag, in Nantes ein öffentliches Konzert gaben. Der Sänger Noble Sissle, der auch als Geiger und Tambourmajor mit dabei war, beschreibt für einen Artikel im St. Louis Post-Dispatch vom 10. Juni 1918, wie dieses Konzert das französische Publikum nicht nur mit ihrer Interpretation der „Marseillaise“ in den Bann zog. Der zweite Konzertteil, erinnert er sich, begann mit John Philip Sousas „Stars and Stripes Forever“, dann kam ein Arrangement mit „Plantagenmelodien“, schließlich der mitreißende „Memphis Blues“. Er beschreibt ganz konkret die improvisatorische Atmosphäre, in der die Musiker bald dem Vorbild ihres Dirigenten folgten, die militärische Haltung sein ließen, die Augen schlossen und spielten, was das Zeug hielt. „Cornet and clarinet players began to manipulate notes in that typical rhythm (that rhythm which no artist has ever been able to put down on paper), as the drummers struck their stride their shoulders began shaking in time to their syncopation. Then, it seemed, the whole audience began to sway, dignified French officers began to pat their feet, along with the American General, who, temporarily, had lost his style and grace. (…) The audience could stand it no more, the ‚jazz germ‘ hit them and it seemed to find the vital spot loosening all muscles and causing what is known in America as an ‚eagle rocking it‘. (…) All through France the same thing happened. Troop trains carrying allied soldiers from everywhere passed us en route, and every head came out of the window when we struck a good old Dixie tune. Even German prisoners forgot they were prisoners, dropped their work to listen and pat their feet to the stirring American tunes.“ (zit. nach Kimball/Bolcom 1973: 68)
Europes Musiker waren zusammen mit ihrem Bandleader auch im Kampfeinsatz. Im September nahm das 369ste Regiment (wie es jetzt hieß) an der Maas-Argonnen-Offensive teil, bei der mehr als 150 seiner Soldaten fielen. Im November gelangte Europes Band zusammen mit der 15ten Infanterie an den Rhein und spielte in den nächsten Monaten in ganz Frankreich, vor amerikanischen, britischen, französischen, belgischen oder italienischen Verwundeten genauso wie vor der französischen Bevölkerung auf Plätzen und in Parks. Die Begeisterung war ihnen überall gewiss. Mit ihnen war der Jazz als eine afro-amerikanische Spielhaltung in Europa angelangt, nicht auf Schallplatte, sondern so, wie er idealerweise gehört werden sollte: als Liveperformance, als eine geradezu körperliche Erfahrung, die sich dem Intellekt zu entziehen schien, der die westeuropäische Kultur damals prägte.
Lieut. Jim Europe’s 369th U.S. Infantry Band (Hell Fighters). „On Patrol in No Man’s Land“ (März 1919)
Nach der Rückkehr nach New York ging Europe im März 1919 mit einer auf 20 Musiker reduzierten Besetzung seiner Hellfighters ins Studio. Diese Aufnahmen erlauben uns zumindest eine vage Vorstellung dessen, was in Frankreich so begeistert hatte. Da gibt es Stücke wie „On Patrol in No Man’s Land“, zu dem Europe, wie er erzählt, die Idee im Schützengraben gekommen sei und dessen von Noble Sissle gesungener Text den Kriegseinsatz beschreibt. Man hört aus dem Orchester heraus erzeugte Klänge, die an Sirenen, Bombenexplosionen, Handgranaten, Maschinengewehrfeuer, schreiende Männer erinnern, eine effektvolle Kriegsgeräuschkulisse, über die sich die Band in exaktem Zusammenspiel setzt und der Sissles Broadway-Tenor einen tröstend-versöhnlichen Klang entgegenhält.
Lieut. Jim Europe’s 369th U.S. Infantry Band (Hell Fighters). „All of No Man’s Land Is Ours“ (März 1919)
„All of No Man’s Land Is Ours“ handelt von der Rückkehr des Soldaten aus dem Krieg zu seiner Liebsten und ist ein weiteres Beispiel dafür, wie sehr die Band an einer afro-amerikanisch geprägten Version des Broadway-Schlagers beteiligt war. Es sind die Inflektionen, nicht nur in Sissles Gesang, sondern auch in den begleitenden Posaunen und Klarinetten, die klar machen, dass alle Musiker aus derselben Tradition stammen, aus der sich zur gleichen Zeit auch der Jazz speiste.
Lieut. Jim Europe’s 369th U.S. Infantry Band (Hell Fighters). „Memphis Blues“ (März 1919)
Noch stärker ist dies in den Nummern aus der Feder W.C. Handys zu spüren. „Memphis Blues“ ist dafür vielleicht das beste Beispiel. Auch hier gibt es zwar kaum Improvisation, dafür aber enorm effektvoll ineinandergreifende Satzpassagen von Posaunen, Klarinetten und Trompeten sowie kurze Breaks.
Heute hört man solche Passagen kaum mehr als Solo, doch war das Solo in dieser Art von Musik bis in die Mitt-1920er Jahre hinein ja noch keinesfalls der Höhepunkt der Performance. Es ging im Jazz der Original Dixieland Jazz Band genauso wie anderer früher Ensembles um die Energie, die aus dem Zusammenspiel der verschiedenen Leadstimmen entstand, aus der Abwechslung von Kollektiv und kurzen Soli, aus der Wiederholung eingängiger Passagen, aus dem antreibenden und zum Tanzen animierenden Rhythmus, der dem Ganzen zugrunde lag. Wenn wir den „Memphis Blues“ und viele der anderen Aufnahmen von 1919 mit Europes Aufnahmen von 1913/14 vergleichen, so fällt auf, dass die Arrangements komplexer geworden sind, mit ineinandergreifenden Stimmen, die in der Faktur durchaus an das erinnern, was die Original Dixieland Jazz Band zur selben Zeit spielte, auch wenn es bei dieser, weil einfach besetzt, „improvisierter“ wirkt als hier. Es zahlte sich aus, dass es Europe gelungen war, für die einzelnen Instrumentalsätze der Kapelle professionelle Satzführer zu verdingen, die dafür sorgten, dass alle Stimmen präzise gespielt wurden, ohne dass dadurch die rhythmische Energie und das Gefühl von Spontaneität verloren gingen.
Lieut. Jim Europe’s 369th U.S. Infantry Band (Hell Fighters). „Plantation Echoes“ (März 1919)
Im Repertoire finden sich fast schon programmatisch intendierte Stücke wie „Plantation Echoes“, das verschiedene Stimmungen des Landlebens im Süden musikalisch überhöht und in Stephen Fosters operettenhaft gesungenen „Swanee River“ sowie einem meisterlich genommen Arrangement von „I Wish I Were in Dixie“ gipfelt.
Lieut. Jim Europe’s 369th U.S. Infantry Band (Hell Fighters). „Jazz Baby“ (März 1919)
Für die Aufnahmesitzung vom 14. März hatte Eubie Blake einige Stücke beigesteuert, „Jazz Baby“ etwa, das sich textlich über die neue musikalische Mode auslässt, oder „Mirandy“, das den Erfolg vorausahnen lässt, den Sissle and Blakes Show „Shuffle Along“ zwei Jahre später am Broadway haben würde.
Lieut. Jim Europe’s 369th U.S. Infantry Band (Hell Fighters). „Miranda“ (März 1919)
Lieut. Jim Europe’s 369th U.S. Infantry Band (Hell Fighters). „That Moaning Trombone“ (März 1919)
Und „That Moaning Trombone“ stellt die Posaunengruppe mit virtuosen Glissandobreaks heraus, eine insbesondere in afro-amerikanischen Blechkapellen des frühen 20sten Jahrhunderts beliebte Klangfarbe, die hier aber nicht etwa solistisch, sondern gleich im Chor des ganzen Posaunensatzes getätigt wird.
Lieut. Jim Europe’s 369th U.S. Infantry Band (Hell Fighters). „Broadway Hit Medley“ (März 1919)
Das „Broadway Hit Medley“ zeigt, welch unterschiedliches Repertoire zwischen Marsch, Walzer, Ballade und Blues die Band zu spielen hatte, und wie wichtig Europe typische Intonationsformen des frühen Jazz waren, etwa in den Growls der Blechbläser.
Lieut. Jim Europe’s 369th U.S. Infantry Band (Hell Fighters). „Ja-Da“ (März 1919)
Lieut. Jim Europe’s 369th U.S. Infantry Band (Hell Fighters). „The Darktown Strutters‘ Ball“ (März 1919)
Spätere Jazzstandards wie „Ja-Da“ oder „The Darktown Strutters‘ Ball“ belegen die musikalische Disziplin in der Band, geben aber auch eine Vorstellung davon, dass insbesondere in einer Musik, die von Wiederholung lebt, klangliche Kontraste wichtig sind, sowohl im Arrangement wie auch in der Spielweise. Und schließlich finden sich hier erste Passagen, die nun deutlich als Soli erkennbar sind.
Lieut. Jim Europe’s 369th U.S. Infantry Band (Hell Fighters). „That’s Got ‚em“ (März 1919)
Noch zwei Tage vor Europes Tod ging die Band ins Studio, um einige ihrer aus heutiger Sicht vielleicht jazz-haltigsten Titel einzuspielen. In „That’s Got ‚em“ von Wilbur Sweatman hört man einerseits noch die Haltung der Militärkapelle durch, ahnt andererseits aber bereits, was jemand wie Fletcher Henderson wenig später aus solchem Material machen würde.
Lieut. Jim Europe’s 369th U.S. Infantry Band (Hell Fighters). „Clarinet Marmelade“ (Mai 1919)
Vor allem nimmt sich die Band mit Larry Shields und Henry Ragas‘ „Clarinet Marmelade“ eines Klassikers an, der einerseits den Vergleich mit der Original Dixieland Jazz Band aufdrängt, an deren Aufnahme sich Europes Ensemble deutlich abarbeitet, andererseits vorausahnen lässt, wie dieses Stück in den 1920er Jahren interpretiert werden würde. Insbesondere der Klarinettensatz lässt einen unweigerlich an Hendersons oder Don Redmans Klarinettentrios denken.
James Reese Europe war von dem Erfolg seiner Band in Europa selbst erstaunt und erkannte, dass es nicht so sehr das Repertoire war, von dem das Publikum begeistert war, als vielmehr jener grundlegende Unterschied zwischen einer europäischen und einer afro-amerikanischen Art musikalischer Artikulation. Die Phrasierung, die gebeugten Töne, der Umgang mit Harmonik, rhythmische Aspekte, Dynamik, das Einflechten von Breaks und das Zulassen von Improvisation – all das unterschied sich deutlich von der strengen Interpretation insbesondere europäischer Militärkapellen. Europe war stolz darauf, dass seine Band die Musik so spielte, wie sie geschrieben stand, aber er war nicht weniger stolz auf die neuen Klangnuancen, das Spiel mit Dämpfern etwa, auf den anderen Ansatz, auf eine musikalische Identität, von der er sagte: “ It is natural for us to do this; it is, indeed, a racial musical characteristic.“
Das Wort „Jazz“ war damals noch ganz neu und noch lange nicht einzig mit jener Musik verbunden, mit der wir es heute identifizieren. Bereits 1919 aber attestierte der Journalist Charles Welton der 369th Regiment Band, sie habe „Frankreich mit Jazz gefüllt“. James Reese Europes Auftritte jedenfalls waren wie eine Art Public Relations-Maßnahme für ein neues Genre: Ihr Erfolg machte afro-amerikanische Musik in Europa populär. Die Mitglieder seiner Band beeinflussten Musiker vielleicht nicht auf dieselbe Art und Weise wie die Schallplatten aus den frühen 1920er Jahren oder Tourneen afro-amerikanischer Künstler wie Sam Wooding und Arthur Briggs. Aber sie ebneten den Weg für die Popularität, die der Jazz in den 1920er Jahren erfahren sollte. James Reese Europes Erfolg brachte Schlagzeilen hervor wie jene in der New York Age vom 8. Februar 1919: „French Now Want Colored Musicians From the United States“, und war ein Grund dafür, dass einige seiner Bandmitgliederm unter ihnen eben jener Arthur Briggs (der wegen seines jungen Alters nicht mit nach Frankreich gekommen war), der Posaunist Herb Flemming oder der Schlagzeuger Buddy Gilmore in den 1920er Jahren nach Europa zurückkehrten.
Die Begeisterung für die Hellfighters Band wurde in Frankreich immer mit der Befreiung des Landes assoziiert. Die Würde und die Ernsthaftigkeit, mit der James Reese Europe und seine Männer ihre Aufgabe der Truppenunterhaltung mit ihrer eigenen Art von Musik wahrnahmen, stellte daneben aber auch ein wichtiges Statement an die eigene Community dar. Die Musiker seiner Band machten ja nicht nur Eindruck auf die europäischen Zuhörer, sondern beeinflussten genauso das ästhetische Selbstbewusstsein Afro-Amerikas. Nach seiner Rückkehr jedenfalls fasste James Reese Europe dies geradezu programmatisch zusammen: „We won France by playing music which was not a pale imitation of others, and if we are to develop in America we must develop along our own lines…“
Wolfram Knauer (April 2019)
Wem biographische Details fehlen: Im Jazz Podium vom Mai 2019 wurde James Reese Europes Biographie von Gabriel Anion erzählt. Europes Musik wurde in den vergangenen Jahren insbesondere durch ein Projekt des Pianisten Jason Moran wiederentdeckt: „From the Dancehall to the Battlefield“.
Literatur:
Reid Badger: A Life in Ragtime. A Biography of James Reese Europe, New York 1995 (Oxford University Press)
Robert Kimball & William Bolcom: Reminiscing with Sissle and Blake, New York 1973 (The Viking Press)
Eine Reflektion über das ungewollt Revolutionäre eines Jazzalbums
Dieser Vortrag entstand aus Anlass der Veranstaltungsreihe "50 Jahre Peter Brötzmann Machine Gun" im Mai 2018 in Bremen. Am Abend nach dem Vortrag spielte Brötzmann im Trio mit Alexander von Schlippenbach und Han Bennink in der Lila Eule. Eine Schriftfassung dieses Vortrags findet sich im Buch "Jazzforschung heute. Themen, Methoden, Perspektiven", herausgegeben von Martin Pfleiderer und Wolf-Georg Zaddach (2019), Download hier.
Der amerikanische Präsident Bill Clinton wurde während seiner Amtszeit vom Oxford American, einer renommierten amerikanischen Kulturzeitschrift, gefragt, welchen Musiker er schätzt, der die Leser des Interviews wohl überraschen würde. Seine Antwort war: „Peter Brötzmann“. Bill Clinton, muss man dazu wissen, war Hobbysaxophonist – sein Saxophon ist heute im American Jazz Museum in Kansas City zu sehen. Brötzmann dagegen ist ein deutscher Saxophonist, der seit den Mitt-1960er Jahren auf der Szene unterwegs ist und gern zu den kompromisslosesten Musikern des Jazz gezählt wird. Er ist einer der Protagonisten des Free Jazz, der ja für sich bereits vielfach auf Unverständnis stößt, weil er eine Auflösung der Strukturraster zu implizieren scheint, an denen sich auch Jazz-unvorbelastete Hörer orientieren können. Brötzmanns Art des Free Jazz scheint allerdings selbst all das, was die amerikanischen Musiker der 1960er Jahre vorgemacht hatten, ins Extrem zu treiben. Man spricht oft – insbesondere in Bezug auf ihn – von der Kapputtspielphase des deutschen Jazz.
Im Mai 1968 nahm Brötzmann zusammen mit sieben Musikerkollegen in Bremen ein Album auf, das Musikgeschichte schrieb. Es trägt den Titel „Machine Gun“ und ist zu einem der einflussreichsten europäischen Jazzalben geworden. Diesem Album verdankt Brötzmann einen Teil seines Rufs als authentisch-kompromissloser Künstler, von dem er bis heute – und zwar völlig zu Recht – zehrt: Mit seiner sperrigen, scheinbar schwer-zugänglichen Musik ist Peter Brötzmann bis heute der international vielleicht bekannteste und erfolgreichste Jazzmusiker Deutschlands.
Vor einem Jahr jährte sich die Aufnahme dieses Albums zum 50sten Mal. Aus Anlass des Jubiläums organisierte der Veranstalter und Soziologe Thomas Hartmann ein Konzert in der Lila Eule in Bremen, bei dem Brötzmann und Han Bennink von der Originalbesetzung von „Machine Gun“ mit von der Partie waren, außerdem ein weiteres deutsches Free-Jazz-Urgestein, der Pianist Alexander von Schlippenbach. Ich war am Abend zuvor eingeladen, das epochale Album, das oft als Musterbeispiel „politischer Musik“ gewertet wird, ein wenig in die ästhetische und gesellschaftspolitische Diskussion der Zeit einzuordnen. Was ich Ihnen heute erzähle, basiert auf diesem Bremer Vortrag, ist außerdem ein etwas ausführlicher formulierter Ausschnitt aus meinem Buch „Play yourself, man! Die Geschichte des Jazz in Deutschland“, das im September beim Reclam-Verlag erscheinen wird.
In Bremen lautete die Einladung ursprünglich, ich möge doch das Album „Machine Gun“ einmal aus musikwissenschaftlicher Perspektive beleuchten. Das habe ich getan und werde dies auch hier in den nächsten 50 Minuten ein wenig versuchen einzulösen, hoffe, dass Ihnen das nicht zu trocken gerät, werde dabei über musikalisches Material berichten und darüber, wie die Herangehensweise der am Album beteiligten Musiker sich von konventionellen Spielweisen des Jazz unterscheidet – oder auch nicht. Dann frage ich danach, wieweit Jazz überhaupt politisch sein kann, in den USA im Kontext der Bürgerrechtsbewegung oder wie in Europa im Kontext von Vietnamkriegs-Protesten und Studentenrevolten. Und schließlich will ich am Rande auch der Frage nachgehen, inwieweit sich der europäische Free Jazz in diesen Jahren von den amerikanischen Vorbildern loslöste, wie er eigene Traditionen entwickelte, die bis in die Gegenwart hinein nachwirken –nicht zuletzt durch Musiker wie Brötzmann, Evan Parker und Han Bennink, die 1968 in der Lila Eule mit von der Partie waren.
v.l.n.r.: Sven-Åke Johansson, Han Bennink, Buschi Niebergall, Fred Van Hove, Peter Brötzmann, Willem Breuker, Peter Kowald, Evan Parker
MUSIK 01: „Machine Gun“ Thema (ca. 0:30)
Fangen wir also mit der Analyse an – und ich werde vor allem das Titelstück des Albums heranziehen, „Machine Gun“. Das ist in zwei Takes vorhanden, der eine knapp 15 Minuten, der zweite gut 17 Minuten lang. Die Wiederveröffentlichung des Albums, die beide Takes enthält, verrät, dass es sich dabei um die Takes 2 und 3 handelt. Ein erster Take scheint also auch aufgenommen worden zu sein, ist allerdings – auch in der 2007 bei Atavistic erschienenen Edition „The Complete Machine Gun“ – nie veröffentlicht worden. Dieses „Complete“-Album allerdings enthält eine frühere, ebenfalls im März 1968 aufgenommene Liveversion des Stücks vom Deutschen Jazz Festival in Frankfurt. Sie sehen, es gibt noch zwei weitere Versionen, über die ich später kurz berichten werde. Auch die Frankfurter Fassung jedenfalls dauert etwa 17 Minuten und unterscheidet sich rein strukturell von den Bremer Versionen zum einen durch die Anwesenheit eines vierten Holzbläsers – nämlich Gerd Dudek –, zum zweiten dadurch, dass Willem Breuker hier kein Bassklarinettensolo spielt, sondern stattdessen eine weitere Saxophonpartie zu hören ist, und zum dritten dadurch, dass der in Bremen ausgeprägte Klavier-Bass-Schlagzeug-Trialog hier durch ein weiteres Saxophonsolo über intensiver Grundierung ersetzt wird, dafür am Ende, vor dem Kontrabassduett, aber noch ein klares Klavier-Schlagzeug-Duett eingepasst wird.
So! Schön gesprochen – aber mit solcher Information können Sie eigentlich nur etwas anfangen, wenn Sie alle Versionen selbst gehört, vor allem aber immer noch im Kopf haben. Was ich Ihnen eigentlich sagen will mit solch halb-detaillierten Hinweisen ist, dass „Machine Gun“ eine ziemlich klare und nachvollziehbare Struktur besitzt, die die Musiker in allen drei Aufnahmen „abfeiern“, einen Rahmen mit beschreibbaren Haltepunkten, mit Freiflächen, mit Räumen für solistische Aktion genauso wie für Interaktion zweier, dreier oder gleich aller Instrumente auf der Bühne.
Das werden wir uns gleich ein wenig näher betrachten, vorerst aber ein kurzer Einschub zur Zeit, in der dieses Album aufgenommen wurde.
1968 also. Am 3. Mai hatten Studierende der Sorbonne in Paris die Universität besetzt, um Verbesserungen der Studienbedingungen zu fordern. Es war eine Mischung aus politischen Gründen, die zu den Studentenrevolten führten: der globale Protest gegen den Vietnamkrieg einerseits, Diskussionen über sexuelle Revolution und Selbstverwirklichung andererseits, die sich dann beispielsweise in Forderungen nach Aufhebung der Geschlechtertrennung in Studentenheimen niederschlugen. In der Folge der Proteste kam es zu Straßenschlachten und Wasserwerfer-Einsätzen der Polizei, in der Folge solidarisierten sich Gewerkschaften, aber auch ein Großteil der Bevölkerung mit den Studenten. Mitte Mai gab es Solidaritätsstreiks in Betrieben der Metall- und Chemieindustrie, in denen die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem sozialen System in Frankreich deutlich wurde.
In Prag hatte Alexander Dubcek im Februar 1968 die Pressezensur aufgehoben und den Prager Frühling eingeleitet, der im August durch den Einmarsch sowjetischer Panzer nach Prag gewaltsam beendet wurde.
Und in Berlin hatte ebenfalls im Februar 1968 der Vietnamkongress vor mehreren tausend Studenten stattgefunden. Am 11. April wurde Rudi Dutschke auf der Straße niedergeschossen und überlebte nur knapp. Am 30. Mai erließ die Bundesregierung die Notstandsgesetze, durch die die Handlungsfähigkeit des Staates in Krisensituationen sichergestellt werden sollte, die aber insbesondere auch Einschränkungen von Grundrechten enthielten. Im Vorfeld der Proteste gegen diese Notstandsgesetze gab es am 11. Mai einen Sternmarsch auf Bonn, an dem sich zehntausende Demonstranten beteiligten.
MUSIK 02: Maschinengewehrsalven [0:40]
Gleich vorneweg: Den sehr realen Eindruck eines Maschinengewehrs zu Beginn meines letzten Beispiels haben Sie meiner Manipulation zu verdanken. Ich habe einfach mal den Sound einer solchen Waffe vor den Ausschnitt aus den abschließenden Instrumentalsalven der Musiker geschnitten. Ich spiele mit dieser Manipulation auf die häufig gelesenen Verweise an, die rasanten Tonrepetitionen und perkussiv wirkenden Klangsalven, die „Machine Gun“ beginnen, beenden und auch mittendrin immer wieder bestimmen, seien als geräuschhafte Annäherungen an den Titel der Platte gedacht gewesen, seien also maschinengewehrhafte Salven, herausgetrötet von Brötzmann, Evan Parker und Willem Breuker, denen Fred van Hove am Klavier, die beiden Kontrabassisten Peter Kowald und Buschi Niebergall und die Schlagzeuger Sven-Åke Johansson und Han Bennink eine Art energetische Grundlage geben. Neben diesem Klischee zu „Machine Gun“ gibt es noch ein zweites, mit dem ich vielleicht zuerst aufräumen möchte. Es wird nämlich genauso gern darauf hingewiesen, dass diese Musik, diese kollektiven Energiekurven dem Augenblick entsprungen seien. Tatsächlich aber liegt dem Stück ein klarer Ablauf zugrunde, in allen drei Aufnahmen identisch, wenn auch die improvisatorische Ausführung unterschiedlich ist.
Das ist eigentlich, legt man die Größe des Ensembles zugrunde – also acht, in der Ursprungsfassung sogar neun Musiker – gar nicht erstaunlich: Zu dritt – wie auf der 1967 eingespielten ersten LP Brötzmanns, „For Adolphe Sax“ – lässt sich aus der Improvisation heraus leichter eine Form finden als im großen Ensemble. Auch andere Ensembles des Free Jazz, die mehr als Small-Band-Größe hatten, bedienten sich ja Haltepunkten als Organisationsgerüsten der Musik, teils entweder in Noten oder graphisch notiert, teils durch Handgesten, quasi Dirigate getriggert, teils einfach vorher abgesprochen – und auch head arrangements sind ja Arrangements (vgl. Brötzmann in Jazz Podium, Nov.1984: 8).
Am besten sollte man das eigentlich in seiner Gesamtheit hören, aber das würde bei allen drei Aufnahmen mehr als 45 Minuten dauern, also zeige ich es Ihnen einfach mal. Sie sehen hier Spektogramme der drei Aufnahmen, und die Formteile habe ich Ihnen auch eingezeichnet. Die Originalaufnahme, aus der ich auch die Ausschnitte für heute Abend zusammengeschnitten habe, finden Sie in der Mitte.
Es beginnt (Buchstabe A) mit dem klangmalerischen Machine Gun-Thema, Tonrepetitionen, nein, Klangsalven der drei Bläser, die diese auch zum Schluss des Stücks wieder aufnehmen (Buchstabe H) und so fast schon eine klassische Rahmung schaffen.
Den zweiten Teil (Buchstabe B) könnte man in klassischer und sehr europäisch geprägter Terminologie als Saxophonsolo mit Bläserritornellen beschreiben (Sie sehen diese Einwürfe insbesondere im 2. Take sehr deutlich). Die ausbrechende Improvisation Brötzmanns findet über einer wilden und kollektiv mit ihm kommunizierenden Bass- und Schlagzeuggrundierung statt.
Hören Sie einfach mal selbst, drei dieser „Ritornelle“, herausgegriffen aus dem veröffentlichten Bremer Take 3:
MUSIK 03: „Machine Gun“, Ritornelle [01:00]
Diese Bläsereinschübe sind klangliche, ja sogar tonale Akzente, irgendwo angesiedelt zwischen As und B – und tatsächlich hört man in der Klanggestalt dieser Akzente durch die Bläser genügend andere Töne heraus, um sie sogar harmonisch deuten zu können, als einen F-Dur-Akkord ohne Grundton etwa oder als einen B-Dur-Akkord. Es wäre allerdings völlig falsch, solche Tonzentren harmonisch zu deuten, sie sind viel eher eine Sache der Klangfarbe. Es macht eben einen Unterschied, ob ein Klang clusterartig zusammengesetzt wird, ob sich ein Tonzentrum langsam herausschält oder ob ein klares vorhandenes Tonzentrum sich durch zusätzliche Stimmen entwickelt. Wir haben alle drei Varianten in diesen Aufnahmen, und Frankfurt spielt am stärksten mit der Unterschiedlichkeit der ritornellhaften Einwürfe. Und schließlich will ich noch betonen, dass das alles eher für die Hörerwartung des Rezipienten Sinn macht, nicht aber für die Funktion dieser Einwürfe im improvisatorischen Ablauf. Da nämlich fungieren sie vor allem als dramaturgische Strukturpunkte, als ein Gerüst, in dem sich das Solo entwickeln kann, oder besser, in dem Brötzmann im Zusammenspiel mit den anderen Musikern die dramatische Steigerung der musikalischen Energie entwickeln kann.
Lassen Sie mich einen zweiten Einschub machen, diesmal zur Vorgeschichte des Albums.
Am 24. März 1968 hatte Peter Brötzmann also auf dem von Horst Lippmann und Fritz Rau mit-veranstalteten Deutschen Jazz Festival in Frankfurt gespielt. Dort war der letzte Abend dem Free Jazz gewidmet, spielten neben Brötzmann Manfred Schoof und Gunter Hampel; und Wolfgang Dauner hatte einen legendären Auftritt, bei dem der Schlagzeuger Fred Braceful „nackt über die Bühne sprang und Dauner selbst eine Geige zertrümmerte“ (Schwab: Frankfurt Sound: 179). Jede Ausgabe des Jazz Podiums dieser Zeit hatte mindestens einen Beitrag, der sich ernsthaft mit der Situation und der Zukunft des Jazz auseinandersetzte. Und Joe Viera tat dies erklärend in seiner Serie „Zur Terminologie des Free Jazz“, die etwa im April unter der Überschrift stand „Was bedeutet in der Musik Form?“
Lippmann und Rau hatten also im Auftrag der Deutschen Jazz Föderation Radio Bremen kontaktiert und beim dortigen Redakteur Siegfried Schmidt-Joos angefragt, ob sein Sender nicht ein Konzert mit Blues und Soul beim Deutschen Jazz Festival präsentieren könnte, das damit quasi zwei Extreme des aktuellen Jazzdiskurses präsentieren wollte: die Auseinandersetzung mit der populären Seite der Musik auf der einen, die Avantgarde des Free Jazz auf der anderen Seite.
Dieter Zimmerle, der fürs Jazz Podium über das Frankfurter Festival berichtete, zeigte sich am überzeugtesten vom Auftritt des Brötzmann-Nonetts und gipfelte in der Einschätzung: „Das Tenorsaxophon-Quartett Evan Parker, Wim Breuker, Gerd Dudek und Peter Brötzmann machte einen geschlossenen Eindruck, die Musiker konzentrierten sich deutlich aufeinander und man korrespondierte auch mit Klavier (…), den Bässen (…) und den Schlagzeugen (…). Das ‚Machine Gun‘ hatte keine Ladehemmung, was es verschoß, zeigte Wirkung – keine tödliche, sondern eine recht belebende.“ (Jazz Podium, Mai 1968: 155).
Eine Woche später war „Machine Gun“ beim Jazz Ost-West in der Meistersingerhalle in Nürnberg zu hören; hier ersetzte Manfred School Gerd Dudek –, und der Rezensent (ein gewisser „N.W.“) streicht im Jazz Podium heraus, dass das Nürnberger Konzert zeitlich nicht so eingeschränkt gewesen sei und die Musiker sich daher „richtig austoben“ konnten, um dann zu ergänzen: „Aber es zeigte sich, daß seine Musik eben kein reines Austoben mehr ist, als das sie am Anfang gelegentlich wirken mochte. Ohne von ihrer platzenden Vitalität eingebüßt zu haben, hat sie an Farbe, Abwechslung und erkennbaren Motivgestalten gewonnen. Sie ist auch zum Teil satirisch geworden, und ob der vielzitierte Zorn noch so eine große Rolle spielt, ist sehr die Frage. Künstlerischer Spieltrieb ist in Brötzmanns Musik mindestens genauso wichtig geworden.“ (Jazz Podium, Mai 1968: 156)
Sie sehen aus diesen Rezensionen – alle aus dem Liveerlebnis heraus geschrieben –, dass die Kritik vielleicht die Schwierigkeit im Zugang zu dieser Musik bemerkte, zugleich aber die Konsequenz, mit der die Musiker das alles auf die Bühne brachten, anerkannte und versuchte, die offenbar ganz anderen Kriterien, nach denen solche eine Musik zu beschreiben ist, zu ergründen.
Am weitesten war da Manfred Miller gegangen, der bereits 1966, noch vor dem Erscheinen von „For Adolphe Sax“, Brötzmanns erstem großem Plattenwurf, gefordert habe, man müsse diese Musik nach ihrer „inneren Stimmigkeit“ beurteilen. Miller betonte, dass dieser neue Klang als die Suche nach einer neuen Sprache mit einer ganz eigenen Grammatik zu verstehen sei, und: „Material dieser neuen Sprache ist grundsätzlich jeder Klang, jede Klangverbindung – Klang in seinem weitesten Sinne als akustisches Phänomen verstanden.“ (Jazz Echo, Sep.1966: 40). Und er weist darauf hin, dass man sich als Hörer nicht so sehr an den konventionellen Haltemarken orientieren solle, Melodik, Harmonik, Rhythmik, swing, klare Form, sondern stattdessen genießen möge, wie bei Brötzmann die Form „erst im freien Zusammenspiel als die Geschichte der Materialverarbeitung“ entstünde (Jazz Echo, Sep.1966: 41). Und er nimmt die Frage auf, die seinerzeit – und übrigens bis heute immer wieder – gestellt wurde, ob das alles denn noch Jazz sei. Seine Antwort: „Doch bleibt hier erhalten, was zum Besten im Jazz gehört: die gewaltige rhythmische Spannung; die unbedingte Emotionalität, das Blueserbe des Jazz; und die Improvisation, die hier erst in den ganzen Bereich ihrer Möglichkeiten eintritt.“ (Jazz Echo, Sep.1966: 42)
Der dritte Teil von „Machine Gun“(Buchstabe C) ist eine Art Klavier-Bass-Schlagzeug-Impro mit späteren Bläserakzenten, kurzen, nach oben gerichteten melodischen Bögen, die dann vom Klavier aufgenommen und in die Improvisation eingebaut werden. In Frankfurt kommt hier übrigens noch Gerd Dudeks Saxophon hinzu, dafür gibt es anschließend eine Art Klaviersolo mit Schlagzeugakzenten.
Es folgt als vierter Teil (Buchstabe D) ein Duett der beiden, mit dem Bogen gespielten, Kontrabässe, im längeren Bremer dritten Take deutlich klarer strukturiert, klarer aufeinander bezogen, deutlich mehr als Kommunikation denn nur als Kollektivimprovisation gedacht – und dieser Take nimmt dabei Momente auf, die auch in Frankfurt zu hören gewesen waren. Sie sehen selbst im Spektogramm, dass die Intensität der beiden Abschnitte dieses Teils sich deutlich unterscheidet, im ersten Teil eher Steigerung, im zweiten Teil gleichbleibende – kommunizierende – Energie.
MUSIK 04: Bassduett (ca. 1:00)
Zwei fest gebuchte Festivalauftritte also sowie ein für den 28. März angekündigtes Konzert in der Lila Eule, und danach, „in der Nacht“ die Aufnahme des Albums. Die beiden Festivals hatten die Finanzen gesichert, die es brauchte, um dieses Projekt auf Platte aufzunehmen.
Seine erste Platte hatte Brötzmann ja im Juni 1967 zusammen mit Peter Kowald und Sven-Åke Johansson noch selbst produziert. Das Trio war mehrmals in der Lila Eule aufgetreten, einem Club, der aktuelle Musik genauso zur Diskussion stellte wir aktuelle Politik. Rudi Dutschke hatte im November 1967 hier gesprochen, und die Bremer CDU-Fraktion wertete den Spielort als linken Versammlungsort, der „die Jugend für die Revolution sensibilisiert“ (Der Spiegel, 23.Sep.1968: 195; zit. nach Kisiedu: 69). Anders als oft angenommen war die Aufnahme allerdings kein Livemitschnitt eines Konzerts, sondern das Ergebnis einer Studiositzung, für die Brötzmann den Club benutzte, und dazu einen Toningenieur von Radio Bremen engagierte, um die Band unter schwierigen akustischen Bedingungen aufzunehmen.
Manfred Miller, der damals die Jazzredaktion bei Radio Bremen leitete und mit technischem Beistand bei der Produktion half – wie er später schrieb „ein wenig außerhalb der von seinen Arbeitgebern vorgesehenen Modalitäten“ –, Manfred Miller also beschreibt im Sounds vom September 1968 die Aufnahmesituation. Ich will Ihnen seine launige Beschreibung der Aufnahme nicht vorenthalten: „Die erste Nacht wurde ein Desaster. Doch das betraf nicht die Musik: Morgens gegen fünf war nichts gewonnen als die Erkenntnis, daß eine einzige Whiskyflasche acht Musikern, einem Techniker und ein paar Freunden nicht standzuhalten vermag, und daß es zwischen den hallenden Betonwänden des Kellers fast aussichtslos war, einen auch nur halbwegs klaren Klang auf ein semiprofessionales Stereo-Tonband zu bannen. Selbst zwei Polizisten, die mit einer fröhlichen Einlage und der Bemerkung, hier sei die hanseatische Polizeistunde gesetzwidrig überschritten worden, ihr Bestes gaben, konnten die Stimmung nicht wesentlich bessern. Trotzdem wurde es an nächsten Abend noch einmal versucht, wurden Tische und Bänke zu reichlich labilen Trennwänden aufeinandergetürmt, wurden aus zwei großen Bodentüchern des Bremer Theaters Verschläge für die beiden Schlagzeuger gebastelt.“ (Sounds, Sep.1968: 16)
Aber, ergänzt Miller hier genauso wie in seiner nicht-gezeichneten Rezension im Jazz-Echo einen Monat später, aber „vielleicht ist es gut, daß diese Musik nicht vom trockenen, sterilen Studio-Klang ermordet wurde, daß der fantastische Sound des Saxophone-Ensembles (das klingt wie ein avantgardistischer Super-Roland-Kirk) nicht säuberlich von den Mikrofonen seziert wird: So bleibt auch auf der Platte jene intensive Spontaneität erhalten, die zum Besten gehört, das der Free Jazz zu bieten hat; so wird auch auf der Platte akustisch die Spannung jener Momente deutlich, in denen eine Stimme sich aus dem Ensemble löst, die anderen zum Schweigen zwingend.“ (Jazz Echo, Oct.1968: 35)
MUSIK 5: Bassklarinettensolo (ca. 0:35)
Teil 5 (also Buchstabe E) ist eine Art Bassklarinettensolo Willem Breukers, zum Teil unbegleitet, zum Teil über einer Art „Maschinengewehr“-Salven der Perkussionisten, eine Passage, die dann in eine klare, wiederholte Rifffigur der Bläser mündet (Buchstabe F) und gleich darauf in ein Armageddon aller Beteiligten übergeht, eine kollektive Phase des Brüllens und des Schreiens. In Frankfurt war dieser Teil übrigens ein klares Saxophonsolo, das sich insbesondere über dem Schlagzeug entwickelte.
Hören Sie diese Rifffigur, die übrigens in allen Aufnahmen genauso vorhanden ist, und wir werden gleich noch ein zweites ungewöhnliches Zitat hören, das genauso in allen Fassungen vorkommt:
MUSIK 6: Riffigur
Wenn uns solche Rifffiguren an etwas erinnern, dann an die Rhythm ’n‘ and Blues-Saxophonisten, die mit ihrem archaischen Ansatz in den USA Musiker der 1960er Jahre beeinflussten, die ganz besonders die Blackness ihres Sounds herausstreichen wollten: Coltranes Saxophonpredigten genauso wie die von New-Orleans-Märschen und Blues-Shouts durchzogenen Gottesdienste eines Albert Ayler. Und an letzteren erinnert noch mehr der jetzt folgende Teil 6 (also Buchstabe G), bei dem sich aus der Wucht der röhrenden Saxophone eine Art swingendes Rhythm ’n‘ Blues-Thema herausschält, das immer intensiver wird, bis es in kollektiver Improvisation endet, aus der heraus schließlich die Tonrepetitionen des Machine-Gun-Themas ertönen (Buchstabe H), die die Aufnahme beenden.
MUSIK 7: RnB-Thema bis Schluss [02:10]
Ich finde, dass diese beiden Teile – die Rifffigur also und das Rhythm ’n‘ Blues-Thema – sehr viel über die Musik aussagen, aber auch über Brötzmanns – und ich nehme seine Mitmusiker dabei nicht aus – … Selbstverständnis dessen, was sie da machen. Ja, dies ist eine unbedingt andere Art freier Improvisation als das, was in den USA zur selben Zeit stattfindet. Aber: Die immer wieder behauptete totale Emanzipation vom amerikanischen Jazz ist es eben nicht, sondern zugleich eine Entwicklung aus der Sprache tiefster afro-amerikanischer Emotionalität heraus, ein bewusster Bezug auf die Wurzeln dieser Musik, auf den Blues, auf Call and Response, auf Intensität, auf eine fast spirituell erlebbare Feier der Community. Diese Momente stehen dem scheinbar Destruktiven im Klangeindruck der restlichen Aufnahme fast schon konträr gegenüber, tatsächlich aber erklären sie zugleich die Haltung des ganzen Stücks: Die Betonung von Individualität, das Aufbrechen konventioneller Formmodelle, das Beharren auf neuen ästhetischen Auffassungen, bei denen etwa Intensität und emotionaler Ausdruck Vorrang vor vordergründiger „Schönheit“ haben… das alles ist zugleich Zeichen einer gemeinsam erlebten, nein, gemeinsam geschaffenen Solidarität, die erstens nur in der Gruppe möglich ist, und die zweitens mit der Tradition nicht bricht, sondern diese im Gegenteil beim Worte nimmt.
Womit wir jetzt endgültig bei der Deutung der Aufnahme wären, mit der Brötzmann seit 1968 immer wieder konfrontiert wurde. Ein Weg zur Deutung der Aufnahmen hat mit der Musik herzlich wenig zu tun und ist vor allem ikonographisch:
Das Maschinengewehr, das auch auf Brötzmanns Cover zu sehen ist, war in der damaligen Zeit bereits zu einem Symbol mit sehr unterschiedlichen inhaltlichen Verweisen geworden. In den 1960er Jahren ließ sich beispielsweise Fidel Castro gern mit Maschinengewehr abbilden. 1968 wurde Monk’s „Underground“-Album veröffentlicht, dessen Cover einerseits mit dem Verweis auf die Resistance während des II. Weltkriegs spielt, andererseits mit der tagesaktuellen Forderung der Black Panthers nach dem Recht auf Bewaffnung auch für schwarze Amerikaner.
Von 1968 dann stammt Brötzmanns Cover für „Machine Gun“, das einen amerikanischen GI mit Maschinengewehr zeigt. Es ist ein Bild, wie es zu der Zeit aus etlichen Illustriertenabbildungen zum Vietnamkrieg bekannt ist.
1971 schließlich entwarf ein Bekannter von Ulrike Meinhoff das RAF-Logo mit einer Maschinenpistole (eigentlich wollte er eine Kalaschnikoff zeichnen) über einem fünfzackigen roten Stern, und gab damit der Waffe, die hierzulande ja eher als Verweis auf Geschehnisse anderswo wahrgenommen wurde, einen sehr präsenten, plötzlich die Alltagswirklichkeit Westdeutschlands betreffenden Bezug.
In all diesen Bildern – und ich hätte noch Hunderte weitere finden können – werden der Waffe also Konnotationen beigeordnet. Mal ahnt man Heldenhaftigkeit, mal die Verteidigung der westlichen Welt, mal die Wehr gegen Unrecht und Kapitalismus, mal Terror und Gewalt. Mal aber auch die Abkehr von allen inhaltlichen Verweisen, wenn etwa 2011 Brötzmanns Albumcover von einem italienischen Fan als bedrucktes T-Shirt angeboten wurde.
Vom Albumcover ganz abgesehen wurde das Album jedenfalls, sicher vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussionen sofort als politisches Statement wahrgenommen. Es gab auch andere Stimmen, die der Musik im Nachhinein diesen Status etwa mit dem Hinweis darauf wieder absprachen, dass der Albumtitel ja keineswegs als Verweis auf Krieg und Rebellion gedacht war, sondern schlicht und einfach der Spitzname war, den Don Cherry dem Saxophonisten wegen seines energetischen, Stakkato-geladenen Spiels verpasst hatte: „Hey, Machine Gun!“.
In den Deutungsgeschichten von „Machine Gun“ gibt es diese beiden Extreme: die eine Interpretation des Albums als eines hochpolitischen Statements und die andere als einer rein ästhetisch-künstlerischen Aussage. Die Wahrheit liegt wahrscheinlich, wie so oft, in der Mitte. Brötzmann selbst hatte im Mai 1967 an einer Fernsehsendung teilgenommen, bei der Musiker und Experten über die beiden scheinbar gegensätzlichen Pole der aktuellen Jazzentwicklung diskutierten, den Pop-Jazz Klaus Doldingers auf der einen und den Free Jazz Peter Brötzmanns auf der anderen Seite.
Hören Sie einen längeren Interviewausschnitt mit Brötzmann, der sich den Fragen von Schmidt-Joos, Werner Burkhardt, Uli Olshausen und Felix Schmidt stellt.
MUSIK 08: Broetzmann-Interview (03:00)
Schmidt-Joos: Kritische Einwände, wer möchte sich hier zu Wort melden? Herr Schmidt…
Felix Schmidt: Ja, ich möchte gern einmal wissen: Haben Sie irgendetwas wie ein System, das Sie Ihrer Musik zugrunde legen?
Peter Brötzmann: Das System, das der Musik zugrunde liegt, das bin ich. Sonst gibt es nichts.
Schmidt: Sie notieren die Musik auch nicht? Es gibt keine graphische Partitur?
Brötzmann: Das ist überhaupt nicht mehr möglich. Man kann natürlich graphische Partituren machen, das haben wir auch zum Teil gemacht, aber wenn man sich lange genug kennt, und das ist das Wichtigste bei der Musik, fallen diese Dinge fort, sind einfach nicht notwendig.
Schmidt-Joos: Nun ist der Einwand ja oft erhoben worden, dass Musiker des Free Jazz, die eine solche wilde Klangorgie, wie Sie sie produzieren beim Spielen, hervorbringen, nicht in der Lage seien, auch normal ihr Instrument in Jazzvariationen über, sagen wir, „Summertime“ oder „St. Louis Blues“ zum Sprechen zu bringen.
Brötzmann: Wenn ich wollte, könnte ich Ihnen was vorspielen. Ich tue es nicht, weil’s einfach nicht meine Sache ist. Diese Frage kommt immer zurück auf die Technik, und dann werden immer die Stimmen laut: Ja, der Mann, der kann nicht spielen, der hat keine Technik, der hat überhaupt nichts. Das sind dann die Leute, die nur von sich selbst oder von irgendeinem alten Klischee ausgehen, die sich nicht mal die Mühe machen, einfach sich hinzusetzen einen Abend lang und mal zuzuhören und alles andere, was vorher und hinterher und daneben ist, abzuschalten, einfach mal dasitzen und hören. Das ist das Wichtigste, vorerst.
Werner Burkhardt: Herr Brötzmann, ich bin gern bereit mir die Mühe zu machen. Ich habe eben diese Drei-Minuten-Stücke etwa mit viel größerem Vergnügen, auch ästhetischem Genuss gehört als gelegentlich Dinge, die ich von Ihnen in der gelösteren Atmosphäre des Kellers gehört habe, denn da habe ich oft das Gefühl, dass Sie dann, wenn Sie über 20, 25 oder gar 30 Minuten improvisierend musizieren, auch gelegentlich in jene Dinge verfallen, die Sie anders und traditioneller gebundenen Formen des Jazz als Klischee vorwerfen.
Brötzmann: Natürlich. Die Gefahr besteht bei jedem. Da schließe ich mich absolut nicht aus, natürlich.
Siegfried Loch: Sind Sie der Meinung, dass Sie mit den normalen Möglichkeiten, die Ihnen der Jazz bietet als Musiker, nicht auskommen und deswegen ausgebrochen sind in den Free Jazz?
Brötzmann: Das ist tatsächlich zwischen Doldinger und mir doch eine Generationsfrage; die paar Jahre dazwischen spielen keine Rolle. Aber die Leute sind groß geworden mit irgendwelchen Vorbildern und sind sich nie der Aufgabe bewusst geworden, die man hat, sich selbst und der Gesellschaft gegenüber. Und da ist überhaupt der grundlegende Unterschied des Free Jazz zum herkömmlichen Jazz. Und das ist der hauptsächliche Punkt an dem ganzen Wechsel und an der ganzen Umformung.
Ulrich Olshausen: Herr Brötzmann, die modernen Musiker, die so ähnlich spielen wie Sie, sind im Allgemeinen sehr stolz darauf, dass Sie einen sehr intensiven Dialog pflegen in ihrer Musik. Worin besteht Ihrer Ansicht nach in Ihrer Musik das Gemeinsame, das Verbindende zwischen Ihnen und den anderen Musikern, die mit Ihnen spielen?
Brötzmann: Das Feeling. Immer noch dasselbe Feeling, das man hat zusammen.
Olshausen: Ein thematisches Miteinander gibt es nicht mehr?
Brötzmann: Nee, Nee.
Ich habe Ihnen diesen Ausschnitt zusammenhängend vorgespielt, auch, weil eine Aussage, die Brötzmann machte, von den Mit-Diskutanten nicht aufgenommen, vielleicht nicht einmal wahrgenommen wurde. Lassen Sie mich diese Aussage noch einmal vorspielen:
MUSIK 09: Brötzmann-Interview (0:40)
Gesellschaftliche Verantwortung der Künstler also. Ein Thema, das 1968 in der Luft lag, aber sicher nicht erst 1968. Brötzmann hatte 1963 für die Ausstellung „Exposition of Music – Electronic Television“ in der Wuppertaler Galerie Parnass ja eng mit Nam June Paik zusammengearbeitet, dessen Kunst ein „permanentes Experiment“ war, „das gesellschaftliche, politische, technologische und ökonomische Prozesse hinterfragte“ (http://www.hatjecantz.de/nam-june-paik-2561-0.html). Siegfried Schmidt-Joos, der die eben gehörte Sendung moderierte, führte für das Aprilheft des Jazz Podiums ein Gespräch mit Brötzmann, während dessen er ihn auch nach dem Schock befragt, den seine Musik bei Zuhörern auslösen möge. Brötzmanns Antwort: „[D]ie Musik kommt aus uns selbst wie sie ist, und wir beabsichtigen in keiner Weise irgendwen zu schockieren. Daß sie natürlich bei gewissen Leuten einen Schock hervorruft, ist klar. Andererseits muß man wissen, in welcher Zeit man lebt, man muß wissen, daß viele Dinge geändert werden müssen. Und aus diesem Grunde spielt man natürlich nicht so vor sich hin, man überlegt viele Dinge und man muß sicher sein, mit dem, was man machen will.“ (Jazz Podium, April 1968: 129)
Zurück zu „Machine Gun“: Sie haben also eine klare Ablaufstruktur: Thema, fünf bis sechs Teile und eine Reprise. Es gibt Absprachen darüber, wer solistisch im Vordergrund steht und wann, wo, und wie eine Zunahme der Intensität stattfinden soll. Es gibt klare thematische Vorgaben, sowohl für das Anfangsthema wie auch für die Einwürfe oder die beiden Riffs. Es gibt Absprachen über das Kontrabassduo – und da dies ein Part ist, der sich in den beiden Bremer Takes am meisten unterscheidet, mag man darüber spekulieren, ob Kowald und Niebergall zwischen den Takes kurz darüber gesprochen haben, sich gegenseitig mehr Luft zu lassen, vielleicht so wie in Frankfurt, stärker dialoghaft statt übereinander zu agieren. Es gibt eine klare Vorstellung von der Intensitätssteigerung des Gesamtablaufes. Ansonsten ist alles Improvisation, „emotionale Hitze“, „geradezu atemberaubende Energie“, wie Ekkehard Jost das gemeinsame Powerplay des Oktetts beschreibt (Europas Jazz: 118). Brötzmanns eigene, bereits in den Jahren zuvor ausgebildete Spieltechniken, seine „hochlagigen Klangflächen“ und „Bewegungscluster“, wie Jost diese in Bezug auf „For Adolphe Sax“ identifiziert (Jost: Europas Jazz: 92), werden hier quasi auf den ganzen Saxophonsatz übertragen. Hinzu kommen klarere solistische Partien einzelner Bläser, die auch die Unterschiedlichkeit des musikalischen Ansatzes deutlich machen (am extremsten vielleicht in der Frankfurter Aufnahme, in der mit Gerd Dudek ein Vertreter einer früheren Generation mit von der Partie ist). Das Anfangssolo ist im zweiten Take ein wenig „eingänglicher“, formuliert quasi „geatmete“ Satzphrasen, im veröffentlichten dritten Take dann konzentriert es sich stärker auf die Phrasengestalt, die es als solche – also als Gestalt, nicht als motivisches Element – wiederholt oder fortführt. Die Übergänge gelingen im dritten, also dem letztlich veröffentlichten Take aus dem Spiel heraus, während die Anschlüsse im zweiten Take manchmal abrupter passieren. Dieser dritte Take wirkt also, alles in allem, organischer. Alle Phasen des improvisatorischen Ablaufs entwickeln sich fast schon stringent auseinander heraus.
Aber eigentlich will ich es bei diesen wenigen analytischen Anmerkungen belassen. Sie sollen einzig ein Schlaglicht darauf werfen, dass auch frei improvisierte Musik Strukturen hat, einige, denen wir beim Entstehen zuhören können, andere, die offenbar abgesprochen sind, dabei aber immer wieder Veränderungen zulassen. Und sie zeigen, dass auch in frei improvisierter Musik das nähere Kennenlernen des musikalischen Materials – und auch lose Absprachen über den Improvisationsverlauf gehören zum musikalischen Material – Einfluss haben auf das klangliche Ergebnis. So stark und heftig insbesondere das spontane und energiegeladene Moment in „Machine Gun“ wirkt, so basiert es auf den improvisatorischen Erfahrungen aller daran beteiligten Musiker, auf dem Sich-Verlassen-Können auf die Reaktionen der jeweils anderen, auf der gemeinsamen Vorstellung davon, wie sich Energie, oder sagen wir lieber Intensität, erzielen lässt, nicht zuletzt aber eben auch auf der kurzfristigen Erfahrung, den abgesprochenen Ablauf nämlich schon einmal durchgespielt zu haben. Hier unterscheidet sich „Machine Gun“ dann in nichts von den genauso improvisierten Aufnahmen Charlie Parkers etwa über „Parker’s Mood“.
Zu Recht stellt sich also die Frage, inwieweit das Politische in die Musik hineininterpretiert wurde, inwieweit Musikmachen (gerade zu jener Zeit, aber eigentlich immer) wie selbstverständlich Stellung bezieht in aktuellen politischen Diskursen, oder inwieweit die Musik denn irgendwie auch politisch „gemeint“ ist. Der britische Kritiker Barry Miles beschreibt in seiner Rezension des Albums den Unterschied zur Musik etwa eines Albert Ayler: „Die Musik basiert auf musikalischen Wurzeln, die tief in uralten Felsen Europas verankert sind. Machine-gun handelt von Maschinengewehren, die Amerika noch nicht einmal kennt. Europa mit seinen Bombentrichtern, mit den Konzentrationslager-Museen, mit kriegsvernarbten Menschen und Gebäuden, mit seiner Berliner Mauer und dem besetzten Prag.“ (Barry Miles, in: International Times, 6.-19.Sep.1968: 8; zit. nach Kisiedu: 71) [Diese Rezension stammt vom September, also nach der Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Sowjets.)
Wie war das denn mit den politisch-musikalischen Vorbildern in den USA? Dort hatte die Bürgerrechtsbewegung ja bereits seit Mitte der 1950er Jahre auch auf die Kultur übergeschwappt. Musiker wie Charles Mingus, Sonny Rollins oder Max Roach sahen ihre Kunst als einen auch politischen Ausdruck und machten das in Interviews wie auch auf der Bühne deutlich. Diejenigen allerdings, die ab 1960 als Revolutionäre des Jazz bezeichnet wurden, die Vertreter des frühen amerikanischen Free Jazz, Ornette Coleman, Cecil Taylor und John Coltrane, blieben allen politischen Interpretationen ihrer Musik gegenüber eher skeptisch. In einem legendären Interview mit dem Kritiker Frank Kofsky antwortet Coltrane beispielsweise auf die Frage nach dem politischen Gehalt bzw. Input seiner Musik wiederholt, Musik spiegele für ihn vor allem die reale Umwelt wider und damit natürlich auch politische Strömungen, er sähe darüber hinaus allerdings keinen konkreten Einfluss von Politik auf seine Musik.
Brötzmann klingt ganz ähnlich, als Bert Noglik ihn 1981 auf die politische Bedeutung seiner Musik 1968 anspricht: „Gegen die Konstruktion eines direkten Zusammenhanges würde ich mich wehren. Daß aber die politischen Bewegungen und Stimmungen dieser Jahre auch unsere musikalische Entwicklung in gewisser Weise beeinflußt haben, kann man schwerlich bestreiten.“ 2012 ergänzt er im Gespräch mit Christoph Bauer, „Free Jazz“ sei ja vor allem eine amerikanische Errungenschaft, die immer im Zusammenhang mit den verschiedenen Ausprägungen der Bürgerrechtsbewegung gesehen werden müsse (Bauer: Brötzmann Gespräche, 2012: 47). Provozierend, insistiert er gleichzeitig, sei seine Musik gar nicht gemeint gewesen: „Das war nicht so geplant – dass es natürlich Provokation war, das ist klar … aber für uns war das ganz ernst gemeinte, ehrliche Arbeit.“ (Bauer 2012: 64)
Daneben aber weiß auch Brötzmann, dass Musik, und insbesondere seine Musik, immer auch politisch ist. 1987 etwa weist er im Gespräch mit dem amerikanischen Journalisten Bill Shoemaker auf die spezielle Situation in Westdeutschland in den 1960er Jahren hin, „eine politische und gesellschaftliche Situation, die mich mehr ins radikale Denken drängte“ (Down Beat, Jan.1987: 25). Natürlich also habe seine Musik gesellschaftliche Bezüge, und die seien ganz persönlich bedingt. Ohne ein Bewusstsein für Politik sei das alles für sie doch undenkbar gewesen, insbesondere in den 1960er Jahren, sagt er im Gespräch mit Gérard Rouy (Rouy: Conversations: 60). Klar hätten sie mit der Musik auch die Gesellschaft verändern wollen, die Menschen, die Art des Zusammenlebens.
In Frankfurt habe ihn Daniel Cohn-Bendit Ende 1968 davon abhalten wollen, einen Gig mit großem Ensemble an der Goethe-Uni zu spielen, weil sie dort doch fürs Establishment auftreten würden. Er habe Cohn-Bendit dann überzeugt, indem er ihm gesagt habe, hört Euch doch erst mal an, was wir spielen, dann reden wir nach dem Konzert. Aber nach dem Konzert sei von denen keiner mehr da gewesen.
An der FU Berlin gab es Diskussionen darüber, ob das denn überhaupt Musik fürs Volk sei, das sei doch zu sehr Avantgarde, zu elitär, keiner würde das verstehen. „Wir prügelten uns fast, das waren alles politische Avantgardisten, sehr links, aber sie mochten Joan Baez, diese ganze amerikanische Scheiße, softe Gitarrenmusik.“ (Rouy: Conversations: 60-61) Politik und Politik sind also zwei verschiedene Paar Schuhe. Und natürlich war Brötzmanns Mitwirkung an der Gründung des FMP-Labels oder an der Etablierung des Total Music Meetings als Alternativfestival zu den Berliner Jazztagen, ebenfalls 1968, eine deutliche politische Aktion.
Es gibt da also – übrigens hüben wie drüben – einen Unterschied zwischen Intention und Rezeption. Und das ist dann ein Thema, das ich zum Schluss noch kurz ausführen und ein paar Fragen für die Gegenwart anschließen möchte.
Die Intention mag also gar nicht zuvorderst politisch gewesen sein, nicht bei Coltrane, nicht bei Brötzmann. Aber das Ergebnis, die Art und Weise, wie ihre Musik in jenen Jahren auf- und wahrgenommen wurde, war politisch, weil Musik nun mal nicht im leeren Raum erklingt, weil Musik immer eine Perspektive auf die Gegenwart bietet. Es gibt sie ja nicht in der Alltagswirklichkeit, die absolute Musik, die nur sich selbst genug ist, in der alles benutzte Material nur auf sich selbst verweist und auch nur so rezipiert werden sollte. Unser aller Konzerterlebnis ist immer eine Reflexion darüber, was die erlebte Musik uns in dem Augenblick, in der Situation, in der wir uns gerade befinden, als Individuen, als Gruppe, als Gesellschaft, sagt. Im simpelsten Fall bietet uns Musik einen Rückzugsort der unbewussten Reflexion; im besten Fall die Chance der Perspektivverschiebung.
Hat Musik, oder fragen wir konkreter: Hat Jazz also eine Botschaft? Durchaus: Gerade der Jazz als eine improvisierte Musik entsteht schließlich als Reaktion auf kulturelle, ästhetische und politische Diskurse, die uns alle umtreiben. Musik nimmt Stellung, sie bezieht Position, allerdings sollten wir nicht erwarten, dass diese Positionsbestimmung sich in politische Parolen übersetzen ließe. Sie nimmt Stellung, indem sie uns dazu bringt, unsere emotionale Haltung zu aktuellen Fragen zu reflektieren, und uns damit im Ringen um eine eigene Position bestärkt.
Nur weil wir die Wirkung von Musik also schwer in Worte fassen, zumindest nicht eins zu eins übersetzen können, heißt das noch lange nicht, dass Musik unpolitisch sei oder dass Musik höchstens als Soundtrack des „realen Lebens“ fungiere. Ich höre immer wieder, meist von älteren Jazzfans, die Musik sei heute ja nicht mehr politisch wie damals, als sie noch für etwas stand, als sie noch gesellschaftliche Relevanz besessen hätte. Nun, auch wenn man oft denkt, Geschichte wiederhole sich immer: Nein, wir sollten nicht erwarten, dass unsere Sicht auf Musik, unsere Vorstellung, was an ihr gut oder schlecht sei, unsere Erwartung an ihre gesellschaftliche Einbindung, das Maß der Dinge seien.
Nicht die Musik war politisch 1968, sondern die Menschen waren politisch, und wenn wir die Musik damals oder heute als politischen Kommentar hören, so tun wir das im Wissen um die realen Ereignisse jener Zeit. Und heute ist die Musik weder politischer noch unpolitischer. Wir leben ja insgesamt nicht gerade in revolutionären Zeiten. Jazz, Musik, Kunst im allgemeinen ist heute wie damals ein Spiegel der aktuellen Situation. Wenn in den USA auch die Musiker protestieren, und zwar nicht nur privat, sondern auch auf ihren Alben oder bei Bühnenauftritten, so spiegelt das die Realität von #BlackLivesMatter oder #MeToo oder #BoycottNRA in den USA wider, Protestformen, die weiter reichen als das, was wir hierzulande auf die Straße bringen. Wer also die mangelnde politische Haltung von Musikern beklagt, sollte auf die Art des Diskurses blicken, den wir zurzeit hierzulande führen, und der bei allen extremen Entwicklungen, die wir ja auch sehen, eher auf Ausgleich ausgerichtet ist als auf Krawall.
PS: Machine Gun wurde im Sommer des Jahres 1968 noch ein paar Mal gespielt, am 11. Mai 1968 etwa im Concertgebouw in Amsterdam, wo ebenfalls Manfred Schoof zum Oktett stieß oder im September des Jahres bei den Internationalen Essener Songtagen (WAZ 24.1.2018). In Diskographien ist immer wieder der Mai 1968 als Aufnahmedatum zu lesen, aber Thomas Hartmann hat bei seinen Recherchen zum Album Hinweise auf das frühere Datum gefunden.
Wenn Sie also morgen Abend in der Lila Eule Peter Brötzmann, Han Bennink und Alexander von Schlippenbach hören, wird die Musik wieder ihre ganz eigene Energie entfalten. Was Sie dann hören, was die Musik in Ihnen auslöst, für wie politisch oder auch für wie aktuell Sie das alles empfinden werden, ist Ihrer eigenen Hörbiographie geschuldet. Im Idealfall erleben Sie, was viele Hörer auch mit „Machine Gun“ erlebt haben: ein Ohren öffnendes Manifest musikalischer Energie, verankert in den Traditionen Afro-Amerikas, und gespielt mit der Haltung erfahrener europäischer Musiker, die über Jahrzehnte ihre eigene Stimme immer weiter entwickelt haben. Es ist die Kraft des Jazz, die genau das möglich macht, und dass es uns nach wie vor berührt, ist politisch genug!
liner notes für das Album "Transformations and Further Passages" von The Clarinet Trio mit Gebhard Ullmann, Michael Thiele, Jürgen Kupke (2021; Bandcamp-Seite des Albums hier). Plattentext auf dem Album in englischer Sprache.
Was, wenn man ein deutsches Real Book zusammenstellen würde? Welche Stücke würden wohl darin landen? Gebhard Ullmann, Michael Thieke und Jürgen Kupke haben genau dies getan, sich nämlich aus dem großen Repertoire des deutschen Nachkriegsjazz (1950er, 1960er Jahre) Titel herausgesucht und sie sich anverwandelt. Das tun Jazzer ja immer, sich die Musik anverwandeln, ob es nun amerikanische Standards sind oder Kompositionen von Kollegen. Im Fall des Clarinet Trio aber kommt die ungewöhnliche Besetzung hinzu: Kein Schlagzeug, kein Kontrabass, kein Klavier, keine weitere Bläserstimme. Drei Klarinetten höchstens unterschiedlicher Bauart von der B-Klarinette (Kupke) über die Altklarinette (Thieke) bis zur Bassklarinette (Ullmann); dazu individuelle stilistische Klangfarben, bei Jürgen Kupke etwa das häufige Anschleifen von Tönen, wie es auch typisch für Klezmer oder balkanische Spielweisen ist, bei Thieke experimentelle Ausflüge, bei Ullmann mal der Blues, mal die Vierteltönigkeit. Wobei schon diese Zuschreibungen in die Irre führen: Alle drei haben ihre Wurzeln im Jazz, alle drei experimentieren im Bereich zwischen Jazz und klassischer Musik, alle drei brechen die Genres auf, alle drei können swingen und frei improvisieren, alle drei sind sich der verschiedenen Klangmöglichkeiten ihres Instruments bewusst und wissen diese gezielt einzusetzen.
Die Idee zum Album sei ihnen bei der Rückfahrt von einem Gig gekommen, erzählt Thieke. Auf den fünf vorhergegangenen Platten des Clarinet Trio seien vor allem Eigenkompositionen zu hören gewesen sowie vereinzelte Rückgriffe auf Standards und Stücke von Kollegen wie Ornette Coleman und Hermann Keller. Und so diskutierten sie für das neue Album, ob es vielleicht Sinn machen würde, einen Gast hinzuzuladen oder eine Live-CD einzuspielen. Und dann kam ihnen die Idee, sich mit der deutschen Nachkriegs-Jazzgeschichte auseinanderzusetzen, mit Musiker:innen der 1950er und 1960er Jahre. Sie begannen zu recherchieren, nicht systematisch, sondern eher zufällig, schickten sich gegenseitig Stücke zu, machten erste Notizen über mögliche Arrangements, darüber, wie die Themen in der Spielhaltung des Clarinet Trio funktionieren könnten. Die Themen mussten so stark sein, dass sie auch in der Bearbeitung noch wiedererkennbar blieben. Es sollte mehr sein als „nur der Blues“, sagt Ullmann, es sollten Stücke sein, die einerseits eine klare Spielhaltung widerspiegelten, andererseits ohne Rhythmusgruppe funktionieren würden. Jeder brachte Vorschläge ein, mit dem einen oder anderen älteren Kollegen nahmen sie direkt Kontakt auf, hörten jeder für sich oder gemeinsam die diversen Aufnahmen und erhielten in Einzelfällen (Karl Berger und Manfred Schoof) sogar Originalnoten der Stücke.
Dann fingen sie einfach an Dinge auszuprobieren. Sie schauten, was die Themen hergaben, ob es beispielsweise motivische Ideen gab, mit denen sich arbeiten ließ, wie man eine formale Gestalt schaffen konnte, die keine Aneinanderreihung von Soli darstellte. Nun kann das Clarinet Trio auf eine bald 20jährige Erfahrung zurückblicken. Die drei Musiker sind zu einer Art Team zusammengewachsen, bei dem jeder die musikalischen Eigenheiten des anderen kennt. Und so haben sie zusammen eine Klangästhetik entwickelt, die mit den Möglichkeiten der Instrumente spielt – mit der gemeinsamen Klanggestalt also, aber eben auch mit den sehr unterschiedlichen Herangehensweisen der drei Klarinettisten an Technik, Sound und Melodieerfindung. Insofern sind die Unterschiede zu früheren CDs nur graduell, meint Ullmann: ästhetisch sei das gar nicht so verschieden, von den Kompositionen her allerdings schon.
Jürgen Kupke erinnert sich an die Aufnahme im Kleinen Sendesaal des RBB in der Masurenallee, einem Saal mit einer legendären Akustik. Wer das Clarinet Trio je live erlebt hat, weiß, wie schnell die drei die Raumakustik als vierten Mitspieler in die Band aufnehmen, wie sie sich auf die unterschiedlichen Bedingungen einstellen, mit dem Hall des Raums arbeiten, sich einander zu- oder voneinander abwenden, um die Schallwellen ihrer Klarinetten in unterschiedliche Richtungen zu schicken. Es ist ein Raumerlebnis, das das Publikum genauso erlebt wie die Musiker selbst.
Ein solches Ausloten des Klangs hört man gleich im ersten Track des Albums, „Collective“, einer freien Improvisation, die auch bei der Aufnahmesitzung am Anfang stand. Sie wirkt wie eine Positionsbestimmung der drei Klarinettisten: Einklänge, Dreiklänge, Vielklänge, Stimmen, die für sich stehen, die ineinander fließen oder auseinander hervorgehen, Töne, die perfekt und rein klingen und solche, in denen mit Flatterzunge, Atemvibrato und anderen Mitteln verfremdende Obertöne hinzukommen. Es ist eine passende Einleitung, die in knapp zweieinhalb Minuten quasi die Klangmöglichkeiten des Instruments vorstellt.
Nomen est Omen: Jutta Hipp war Mitte der 1950er Jahre nun wirklich eine der hippsten Musiker:innen des deutschen Jazz. Gebürtig in Leipzig prägte sie die westdeutsche Jazzszene der frühen 1950er Jahre, bevor sie sich ab 1955 in New York einen Namen machte. Mit ihrer eigenen Combo spielte sie eine Musik, die sich am Vorbild des amerikanischen Cool Jazz um Lennie Tristano und Lee Konitz orientierte: „lines“, also Einzelstimmen, in den Themen und Improvisationen polyphon übereinandergesetzt, schnell, virtuos, in einem unterkühlt wirkenden Klangideal, das auf die im Jazz sonst oft so gern benutzten wärmenden Effekte des Vibrato weitgehend verzichtete. „Cleopatra“ ist ein gutes Beispiel: In dem 1954 von Hipps Quintett aufgenommenen Stück geht das melodische Thema unvermittelt in Improvisation über. Die wiederum spielt mit Motiven aus dem Thema, zum Beispiel einer Dreierfigur, die in der Wiederholung den Viervierteltakt so lange aufbricht, bis sie wieder in den Takt passt. Beim Clarinet Trio ist der Cool-Jazz-Ursprung des Titels deutlich zu hören, dann überschlagen sich die Stimmen regelrecht in der scheinbar endlosen Schleife des schon im Originalarrangement von Joki Freund so geschickt gesetzten Dreiermotivs. Alles löst sich auf in Klang, der durch die Überlagerungen der Stimmen bald zu wabern beginnt, Tiefe erahnen lässt, bevor ein fast schon klassischer Satz der drei Instrumente zum letztmaligen Thema führt. Man mache sich den Spaß, die beiden Titel übereinander zu blenden (was tempotechnisch durchaus machbar ist), und irgendwie wirkt der Klarinettenloop wie eine kongeniale Begleitung der Cool-Jazz-Solisten. Michael Thieke, der für das Klarinettenarrangement verantwortlich ist, erkannte das Potential der Motivik in diesem Stück, wollte die Cool-Jazz-Atmosphäre mit abstrakter Improvisation einfangen und dabei doch organisch weiterbewegen. Jürgen Kupke urteilt: Es klingt wie eine kleine Bigband, und am Ende klingt’s wie heute!
1958 reiste Albert Mangelsdorff mit dem Newport Youth Orchestra in die USA, hing während der Probenphase in New York jeden Abend in den Clubs der Stadt ab und hörte seine Heroen live. Er kehrte mit der Erkenntnis zurück, dass es überhaupt nichts brächte, so zu spielen wie die afro-amerikanischen Musiker in New York oder Chicago, dass man sich von den Vorbildern lösen müsse. Er begriff, dass der Jazz mehr war als Genre oder Stil, dass er eine Haltung besaß, eine musikalische Praxis anbot, die sich auf jedwedes Material anwenden ließ. Das Album „Tension“ von 1963 war das erste Beispiel des eigenen Wegs, den Albert Mangelsdorff ab dann nahm, oder wie er selbst sich damals ausdrückte: „Für mich war es der Beginn dessen, von dem ich sagen kann: ab hier gilt’s.“ Michael Thieke war von „Tension“ so fasziniert, dass er anfangs aus der ganzen Platte eine Suite machen wollte. Dann befand er, dass zwei der Stücke – das thematisch vielschichtige „Varié“ und das fast schon boppige Titelstück – reichhaltig genug seien. Schon die flirrende Eröffnungslinie des Themas, das sich beim Clarinet Trio anhört, als sei es aus der Improvisation heraus geboren, stellt das Spielerische des Stücks heraus, mündet dann in ein Themenarrangement, das gleich wieder in fleißiges Geschnatter zerfällt. Wo Albert ein kontemplatives Solo beisteuerte, versuchen die drei Klarinetten eine Art bewegten Klang zu erzeugen, in dem immer wieder kleine thematische Versatzstücke durchscheinen. Es folgt das chorische Thema zu „Varié“ einschließlich der so einprägsamen Basslinie des Originals, die jetzt von Ullmanns Bassklarinette übernommen und zur Begleitung für Jürgen Kupkes Solo wird.
Joachim Kühn hatte bereits Mitte der 1960er Jahre einen pianistisch völlig eigenständigen Personalstil entwickelt. Von „Golem“ gibt es zwei bemerkenswerte Einspielungen, eine Ende 1965 im Trio live in Dresden aufgenommen, die andere zwei Monate später in Ost-Berlin mit einem Quartett, dem auch sein Bruder, der Klarinettist Rolf Kühn angehörte. Gebhard Ullmann lässt die Basslinie des Klaviers gegen Ende seines Arrangements in eine Art Choral/Kanon einfließen. Wenn kurz danach alles auseinanderzufransen scheint, fühlt man sich an Joachim Kühns Klanggirlanden erinnert, flirrend-schnelle Figuren auf dem Klavier, die sich einerseits zu Klangflächen verdichten, während in ihnen andererseits jeder einzelne Ton durchzuhören bleibt. Ullmanns Arrangement lebt vom spielerischen Zuwerfen der Bälle, mal Solo, dann Begleitung, mal thematischer Bezug, dann freie Improvisation.
Die drei kurzen, über das Album verteilten unbegleiteten Soli hatten keinerlei Vorgaben und fangen aus unterschiedlicher Perspektive die Stimmung der Aufnahmetage ein. Michael Thiekes Beitrag spielt vom ersten Moment an mit den Obertönen seines Instruments, während er sich zugleich durch die eindringlichen Atemgeräusche selbst zu begleiten scheint.
Manfred Schoof schickte dem Clarinet Trio die Originalpartitur von „Virtue“ – ursprünglich 1966 auf seiner LP „Voices“ erschienen –, die Gebhard Ullman nur in den Lagen und in Details des Kontrapunktes leicht veränderte. Hier wird besonders deutlich, was alle drei Klarinettisten als ihr Ziel herausstreichen: Das Original klingt durch, obwohl sich der Charakter, die Klangbreite bei Schoof zwischen gestrichenem Kontrabass, Trompete, Saxophon und Becken, durch die Stimmcharaktere der Klarinetten erheblich verändert. Michael Thieke steht auf der Altklarinette im solistischen Mittelpunkt dieses Tracks.
Auch Karl Berger hatte Noten zur Verfügung gestellt für seine beiden Titel „From Now On“ und „Get Up“, erstmals eingespielt 1967 bzw. 1969. „Get Up“ steht in der Version des Clarinet Trio im Vordergrund, „From Now On“ wird hier zum Schlussthema. Im Groove, den Gebhard Ullmann auf der Bassklarinette vorgibt, der aber schnell von den versetzten Klarinetten aufgenommen, konterkariert, überspielt und wieder aufgenommen wird, hört man deutlich die rhythmische Energie, auf die es Berger in seiner Musik immer ankam. Und selbst wenn Ullmann für eine Weile aussetzt und seinen beiden Kollegen das Feld überlässt, bleibt der Groove erhalten, inzwischen im Ohr der Hörer:innen.
„Set ‚Em Up“ ist ein fast schon ikonisches Thema Albert Mangelsdorffs, ursprünglich geschrieben für das Album „Animal Dance“, das der Posaunist 1962 mit John Lewis einspielte, dann aber auch auf der ein Jahr später aufgenommenen LP „Tensions“ zu hören. Mangelsdorff hatte bereits eine eigenständige Posaunenstimme entwickelt, sich von Vorbildern wie J.J. Johnson gelöst, aber noch nicht die solistische Mehrstimmigkeit entwickelt, die später insbesondere seine unbegleiteten Soloprogramme bestimmen sollten. Und doch denkt man bei den drei Klarinetten unweigerlich an den Raumklang, den Albert ab den 1970er Jahren einzig und allein auf seinem eigenen Instrument erzeugen konnte. Die Idee zum Ablauf der Clarinet-Trio-Version, erinnert sich Jürgen Kupke, sei während der Proben entstanden. Und so stehen nun Pausen, Akzente, Klänge statt herkömmlichen Soli, immer getrennt durch klare thematische Passagen. Es gibt kollektive Phasen, und irgendwie übernehmen die kurzen Soloteile das Verschachtelte des Themas, daneben aber auch dessen deutlich durchscheinenden Humor.
Karl Bergers „Tune In“ von 1969 ist eine fast schon elegische Ballade. Die drei Klarinetten spielen die Themenmotivik leicht versetzt, übernehmen dabei fast fließend voneinander, arbeiten mit Kanon, Krebs und Spiegelungen, was im Übereinander der Stimmen zu immer neuen Akkordstrukturen führt, die aber alle ihren Ursprung in der Melodie haben. Ein flotterer und deutlich tänzerischer Part bringt im zweiten Teil der Aufnahme eine in den angeschliffenen Tönen Kupkes balkanisch anmutende spielerische Note hinzu.
Gebhard Ullmanns kurzes Solo spielt mit dem Atem hinter den Tönen, mit knallenden Slap-Tongue-Akzenten und mit Vierteltönigkeit.
Rolf Kühns „Don’t Run“ von 1966 ist die einzige Komposition des Albums, die von einem Klarinettisten stammt. Das kantige Thema spiegelt in Intervallik, Melodik und den ins Thema eingepassten Improvisationsfreiräumen Kühns Auseinandersetzung mit dem New Yorker Free Jazz jener Jahre wieder, insbesondere mit Ornette Coleman. Er habe da gar nicht viel arrangieren müssen, erinnert sich Gebhard Ullmann. Schon in der Aufnahme mit den Kühn-Brüdern ging das Thema ja fließend in freie, sich an der Themenmotivik orientierende Improvisationspartien über. Zwischen den Themenfragmenten, ergänzt Michael Thieke, war nichts festgelegt, was dazu führte, dass die verschiedenen Takes sich erheblich voneinander unterschieden. Jürgen Kupke betont, wie wenig antiquiert dieses Stück noch heute klingt, eine Qualität, die im Jazz nicht weniger selten ist als beispielsweise in der Neuen Musik: etwas Nachhaltiges zu schaffen.
Für „Der Blues ist König“ hörte sich Michael Thieke durch einen Sampler mit Jazz aus der DDR und suchte gleich drei Stücke heraus, die mit Bluesverbindungen arbeiten, Klaus Lenz‘ „Der Blues ist der König“ von 1962, Joachim Kühns „Grog“ vom Januar 1963 und Ernst-Ludwig Petrowskys „Erinnerungen an Richard“ vom Dezember 1963. Die Fassung des Clarinet Trio ist eine Art Exkurs in Blues und Groove. Thematische Fragmente tauchen in der Improvisation auf und die verschiedenen Ideen überlagern sich. Ursprünglich, erinnert sich Thieke, gab es da noch ein Schlussthema, das aber rausfiel, weil die Auflösung der Stimmung in hörbares Atmen so viel angemessener schien.
1964 war das Albert Mangelsdorff Quintett vom Goethe-Institut zu einer Tournee durch Südostasien eingeladen worden. Sie nahmen je eine Volksweise aus den Gastländern in ihr Repertoire auf, unter anderem das „Theme from Vietnam“, ein Stück, dessen ausdrucksvolle Kadenz, wie sich Joachim Ernst Berendt erinnert, der die Reise begleitete, Mangelsdorff so beeindruckte, „dass er sie ohne Änderungen oder Ergänzungen einfach so spielte, nur die wenigen Takte der Kadenz in all ihrer Einfachheit, Schönheit und Reinheit.“ In der Fassung des Clarinet Trio verleihen die drei Instrumente dem Ganzen eine klangliche Tiefe, lassen das Thema ganz ähnlich wie Mangelsdorff stehen, überlagern es aber mit Echos, spielen mit der Motivik, setzen Linien übereinander, verlassen für eine Weile die klare Rhythmik, um gleich darauf im Ineinandergreifen der Stimmen zu einem neuen, nach vorne treibenden Rhythmus zu gelangen.
Jürgen Kupkes unbegleitetes Solo schließt sich an, ein einfaches Thema, unverschnörkelt dargeboten und damit ein wenig so, wie Albert das mit dem Volkslied aus Vietnam gemacht hatte.
Es ist ganz passend, dass das „Theme from Vietnam“ das Album beendet, handelt es doch von genau jenen Transformationen, die alle drei Musiker in ihrer Auseinandersetzung mit dem deutschen Nachkriegsjazz so faszinieren. Ein deutsches Ensemble reist Anfang der 1960er Jahre nach Südostasien, um mit einer damals etwa ein halbes Jahrhundert alten afro-amerikanischen musikalischen Praxis ein einheimisches Volkslied zu interpretieren, das auf Umwegen schließlich im 21sten Jahrhundert von drei Musikern in Berlin aufgenommen wird, die den Bezug auf die eigenen musikalischen Vorfahren feiern wollen.
Es seien solche Wege, die sie interessiert hätten, erläutert Michael Thieke. Künstler, deren Musik auch die geschichtlichen und musikalischen Wandlungen ihrer Zeit wiederspiegelten, ihren Weg von Ost nach West, von Europa in die USA und zurück, wobei der Jazz als eine transnationale Musik ihnen immer wieder Anknüpfungspunkte gegeben habe. Passagen, geographisch und zeitlich – und als Gebhard Ullmann darüber nachdenkt, fällt ihm auf, dass er heute nur drei Häuser von dem Haus entfernt wohnt, in dem der Blue-Note-Gründer Alfred Lion vor seiner Emigration lebte. Der Kreis schließt sich: Transformations … and further passages.
Dieser Essay erschien in Musik und Ästhetik, Jg. 22, Heft 86, April 2018: 80-84 (Link zur Zeitschrift hier)
Es war kurz nach der Jahrtausendwende, dass ich empfand, vielleicht sei es ja gar nicht so falsch, den Jazz als Musik des 20sten Jahrhunderts zu begreifen, in der Vergangenheitsform also, wo doch seine Zukunft eher im Zusammenfließen mit anderen Genres und Kunstformen zu liegen schien, in klanglichen Explorationen, die mit dem wenig gemein haben würden, was wir bis dahin als „Jazz“ verstanden. Überall gab es Diskussionen über den Begriff. In Deutschland wollte man lieber von „aktueller“ Musik sprechen und darunter alle musikalischen Diskurse subsumieren, die sich kreativ mit der gesellschaftlichen und ästhetischen Gegenwart auseinandersetzten. In den USA wollten Musiker den Begriff Jazz durch jenen einer Black American Music (oder kurz: BAM) austauschen, der dann auch alle anderen Formen kreativer afro-amerikanischer Musik beinhalten könnte, ohne dass man sich groß zu rechtfertigen habe. Die Diskussion um den Jazz, der spätestens seit den 1960er Jahren zu einer globalen Kunst geworden war, begann jener zu ähneln, die sich auch im politischen Alltag abspielte: Globalität beinhaltet einerseits, dass Andere Inhalte zumindest mit-definieren, die auch das persönliche Umfeld betreffen, andererseits aber auch, dass kulturelle Ursprünge in Vergessenheit geraten. In Bezug auf unser Thema akzeptieren beide Argumente dabei eine Position, die wir dem Jazz schon lange nicht mehr zugestanden: dass er nämlich zutiefst politisch sei, dass demnach auch seine Definition oder das Sprechen über ihn Haltungen wiedergebe und beeinflusse.
Mit „Black Lives Matter“ wurde zumindest in den USA Musik ganz allgemein wieder politischer. Die ersten Reaktionen auf die Übergriffe der Staatsgewalt insbesondere auf Afro-Amerikaner, fanden in der text-besetzten populären Musik statt, und da insbesondere in weithin sichtbaren Statements: Princes Video „Baltimore“ von 2015 etwa[1], Kendrick Lamars Auftritt anlässlich der Grammy-Verleihung von 2016[2] oder Beyonces Salut an die Black Panthers in der Pause des Super Bowl im selben Jahr[3]. Der Jazz als eine instrumentale Musik schien es da weit schwerer zu haben, ein Statement zu setzen. Und doch waren es gerade die Musiker an der vordersten Front der amerikanischen Jazzentwicklung, die ihre Musik immer auch politisch deuteten. Der Pianist Vijay Iyer etwa, der 2013 in seinem „Veterans‘ Dreams Project“ verstörende Berichte von Kriegsveteranen aus Afghanistan über die Träume verarbeitete, die sie nicht mehr loslassen[4]; der Trompeter Terence Blanchard, der sein letztes Album „Breathless“ nannte, in Anspielung auf Eric Garners verzweifelte Rufe „I can’t breathe“, während er im Schwitzkasten der New Yorker Polizei ums Leben kam[5]; der Trompeter Christian Scott aus New Orleans, der in seinen Konzerten keinen Hehl daraus macht, dass er als Musiker auch eine politische Verantwortung verspürt[6]; oder der Saxophonist Kamasi Washington, der sich in der Musik eines Konzerts, das er am 25. Juli 2015 in Los Angeles zusammen mit Jazz- und Hip-Hop-Musikern gab, auf die Unruhen im schwarzen Stadtteil Watts von 1965 und 1992 bezog und das alles wie selbstverständlich in Bezug zur Gegenwart von „Black Lives Matters“ stellte[7]. In den USA kann auch der instrumentale Jazz dabei immer noch auf die Botschaft seiner Entstehung aus der afro-amerikanischen Kultur heraus zurückgreifen. Wie aber sieht es in Deutschland aus?
Bis in die 1970er Jahre hinein war der politische Kontext von Jazz und improvisierter Musik auch hierzulande durchaus greifbar. Die Musik war ja von den Amerikanern durchaus als ein politisches Instrument eingesetzt worden, um in den Zeiten des Kalten Kriegs durch die Improvisation und die Individualitätsästhetik des Jazz quasi ein Beispiel zu geben, wie sich in demokratischen Prozessen Dinge aushandeln lassen, an denen alle beteiligt sind, in denen sich vor allem aber auch alle wiederfinden. In den späten 1960er Jahren passten freiere Improvisationsformen durchaus in die Diskurse der Studentenbewegung, und noch in den 1970er und 1980er Jahren war, gestützt durch soziologische Studien klar[8], dass der Jazzhörer eher links und gesellschaftskritisch als rechts und gesellschaftlich etabliert sei. Die Distinktion, die man sich selbst als Jazzhörer zuschrieb, war auf jeden Fall eine der Individualität, des „Anders-Sein“ vom Mainstream. Die Misere des „Anders-Seins“ ist allerdings, dass auch dieses über die Jahre einen Konnotationswandel durchmacht und dass das, was in den 1960er Jahren als revolutionär angesehen wurde, bald ein wenig verstaubt und altbacken wirkte – zumal die Revolutionäre von damals inzwischen selbst gealtert waren und für die Schnelligkeit der digitalisierten und globalisierten Welt oft wenig Verständnis aufbrachten.
In den 1990er Jahren erhielt der Jazz hierzulande immer stärkeren Kunstmusikstatus, was sich auch in seiner Förderung niederschlug. Jazz, so war der allgemeine Konsens in den über Fördergelder entscheidenden Gremien, sei ein wichtiger Beitrag zum Kulturdiskurs unserer Zeit, ein bisschen vielleicht die Forschungsabteilung der heutigen Musik, die im Idealfall in die Zukunft gerichtet sei statt vor allem zurückzublicken. Und tatsächlich verbindet sich mit dem Jazz als einer aktuellen Musik in Europa und ganz speziell in Deutschland der Richtungsfokus aufs musikalische und künstlerische Experiment – anders als etwa in den Vereinigten Staaten, wo diese Bereiche – experimentell, konventionell – weit weniger getrennt sind und sich die Akteure beider Welten der Notwendigkeit der jeweils anderen meist bewusst sind.
Wie also bezieht der Jazz im Deutschland des Jahres 2018 Stellung? Wenn sich Anna Lena Schnabel für die Freiheit ihrer Kunst und gegen Repertoire-Dreinreden der Veranstalter beim ECHO Jazz wendet[9], oder wenn Christopher Dell die Praktiken der Improvisation in seiner Musik als Technologien gesellschaftlichen Zusammenwirkens versteht[10], ist dies natürlich auch jeweils eine politische Haltung. Wenn Gunter Hampel, ein Urgestein des deutschen Jazz, noch heute den Jazz und die mit ihm verbundene Improvisation als wichtiges Bildungsideal gerade auch für Kinder und Jugendliche versteht (und dies durch Schulworkshops auch eigenständig weiter betreibt)[11], ist dies ein klares Statement. Wenn Musiker sich in allgemeine Kulturdiskussionen wie etwa zum House of Jazz einmischen[12] oder in den Bundesländern genauso wie im Bund für die eigene Sache und damit auch für die der experimentellen Kunst streiten[13], so ist dies insbesondere dann ein politischer Akt, wenn sie immer mehr gehört werden.
Man kann meinen, dass Jazzmusiker genug damit zu tun haben, ihr Überleben durch Musik zu organisieren, dass also die Reaktion auf Gesellschaft, Politik, Umwelt, Fremdenhass und anderes, was die Diskurse der Zeit umtreibt, zurückstehen müsse hinter dem Organisieren von Gigs, Tourneen, Aufnahmen oder einfach nur von Geld. Man mag meinen, dass der Jazz durch seine Verortung innerhalb der Zeitgenössischen Musik (mit großem „Z“, also ein wenig näher der Neuen Musik als anderen Formen experimenteller Sparten) zu sehr zu einer „Kunst“musik geworden sei, die sich – l’art pour l’art – selbst genug ist und auf nichts anderes mehr verweist als eben auf sich selbst. Man mag meinen, dass Jazz all das gesellschaftlich nach vorne Schauende immer schon vorgelebt habe, den Dialog zwischen den Kulturen, die Freiheit und Individualität der Improvisation, die Rebellion gegen gefestigte Strukturen, den Willen auszubrechen, neu zu mischen, Risiken einzugehen. Wenn also Musik für sich ein Statement des Wagnis ist, wieso muss dies dann an konkreten Beispielen aus dem Gegenwartsalltag noch exemplifiziert werden?
Sprich: So einfach wie in den USA scheint es hierzulande nicht zu sein, politisch zu werden mit Musik – und sei es nur in den Titeln der Stücke oder den Ansagen, die die Musiker auf der Bühne machen. Und doch wird gerade Jazz, wird gerade die Improvisation nach wie vor als etwas ungemein Politisches wahrgenommen – von denen, die sie machen genauso wie von seinen Hörern und selbst von denjenigen, denen diese Musik ein Buch mit sieben Siegeln bleibt. Joachim Ernst Berendt hat vom inhärent Widerständigen des Jazz gesprochen[14], und bei aller romantischer Sichtweise des deutschen Jazzpapstes, dem diese Musik ja tatsächlich geholfen hatte, ein Statement des Anti-Nazismus zu befördern, ist bis heute etwas daran. Wenn Christian Lillinger mit seinem Septett Grund freie Improvisation und ausgetüftelte Komposition in energetisch geladene Abläufe lenkt[15]; wenn das Trio DRA mit Christopher Dell, Christian Ramond und Felix Astor komplexeste Kompositionen so mit Improvisationen zu verweben in der Lage ist und dabei im Verlauf des Sets unabgesprochen und doch wie aus einer Hand die Richtung zu wechseln vermag[16]; wenn Julia Hülsmann in ihrem Projekt „songs for double trio and three voices“ vordergründig die „Lieblingssongs“ der Bandmitglieder spielt, dabei aber auf lange Musiziertraditionen Europas zwischen Folklore und Experiment zurückgreift[17] – und neben diesen ließen sich etliche ähnliche Beispiele anführen –, dann ist all das zuvorderst musikalisch. Weil es aber im Musikalischen Grenzen sprengt, zwischen individuellen Aussagen, zwischen Komposition und Improvisation, zwischen Genres, zwischen Traditionen, führt es vor, was wir uns vielleicht ja auch für die Gesellschaft erhoffen. Was wäre denn politischer als die Utopie erschaffen – und sei es mit musikalischen Mitteln?!
Der Jazz schien mir, schrieb ich zu Beginn dieses Textes, zur Jahrtausendwende eine Musik des vergangenen Jahrhunderts. Als Stil und Genre schien er damals an einem Endpunkt angekommen. Der Denkfehler aber war – und ist –, diese Musik überhaupt als einen Stil, als ein Genre zu begreifen. Tatsächlich ist Jazz bis heute – und das lässt einen neugierig in die Zukunft dieser Musik blicken – eine musikalische und damit automatisch auch eine gesellschaftliche Praxis, in der das kreative Miteinander-Auskommen in immer neuen Konstellationen erprobt wird und in dem die Beteiligten (und das sind eben immer auch die Hörer) erleben, dass aus dem Experiment Neues genauso entstehen kann wie scheinbar Bekanntes, aber aus einer neuen Perspektive Erlebtes.
Wolfram Knauer (Januar 2018)
[1] Prince: „Baltimore“, Juli 2015; https://youtu.be/cieZB0Ab7xk
[2] Kendrick Lamar: „The Blacker The Berry“ and „Alright“; Grammy-Show, Februar 2016; https://www.theverge.com/2016/2/15/11004624/grammys-2016-watch-kendrick-lamar-perform-alright-the-blacker-the-berry
[3] Beyoncé: „Formation“, Super Bowl 50 Halftime Show, 2016; https://youtu.be/c9cUytejf1k (ab 7:00)
[4] Vijay Iyer: „Holding It Down: The Veterans‘ Dreams Project“. Performance aus dem Metropolitan Museum of Art, New York, November 2015; https://www.metmuseum.org/metmedia/video/concerts/holding-it-down-veterans-dreams-project-vijay-iyer
[5] Terence Blanchard & The E-Collective: „Breathless“ | Live Studio Session, 2015; https://youtu.be/y9pl1XakxJ8
[6] Z.B. „The Coronation of X aTunde Adjuah“, aus der „Ruler Rebel“-Trilogie, 2017; https://soundcloud.com/ropeadope/the-coronation-of-x-atunde-adjuah-feat-elena-pinderhughes
[7] Kamasi Washington, August 2015; http://www.laweekly.com/video/kamasi-washington-unites-jazz-and-hip-hop-musicians-in-honor-of-the-watts-rebellion-65-and-la-uprising-92-wb95c2sd
[8] Z.B.: Rainer Dollase & Michael Rüsenberg & Hans J. Stollenwerk: Das Jazzpublikum. Zur Sozialpsychologie einer kulturellen Minderheit, Mainz 1978; Peter Köhler & Konrad Schacht: Die Jazzmusiker. Zur Soziologie einer kreativen Randgruppe, Freiburg 1983; Fritz Schmücker: Das Jazzkonzertpublikum. Das Profil einer kulturellen Minderheit im Zeitvergleich, Münster 1993
[9] Vgl. Video „Der Preis der Anna-Lena Schnabel“, ausgestrahlt am 21. Oktober 2017 auf 3sat; http://www.3sat.de/page/?source=/musik/194584/index.html