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Essays

Black Beauty – Black Power

Tradition und Revolution in der Musik John Coltranes, dargestellt an verschiedenen Interpretationen von „My Favorite Things“

Geschrieben für die Festschrift für Alfons Michael Dauer. Veröffentlicht in: Bernd Hoffmann & Helmut Rösing (Hgg.): ... Und der Jazz ist nicht von Dauer. Aspekte afro-amerikanischer Musik, Karben 1998, S. 309-332

John Coltrane gilt – nicht ohne Grund – als einer der wichtigsten und einflußreichsten Jazzmusiker der 1960er Jahre. Seine Musik wirkt wie ein Bindeglied zwischen den bebopverwurzelten Stilen der 1950er und dem Avantgarde-Jazz der 1960er Jahre. Der Free Jazz von Musikern wie Albert Ayler, Pharoah Sanders, Archie Shepp und anderen wird allgemein als eine Art musikalische „Revolution“ begriffen. Coltranes enormer Einfluß auf ebendiese Musiker macht ihn zu einem Vorbereiter der neuen Musik. Erfahrungsgemäß aber sind die Vorbereiter von Revolutionen in der Regel die größten Revolutionäre – sie nämlich sind es, die mit dem Alten brechen und damit das Neue ermöglichen. Sie auch sind das Bindeglied zwischen Tradition und Avantgarde, ohne das eine Revolution nicht auskommt – und eine musikalische Revolution schon gar nicht.

Als Kritiker in den 1960er Jahren Musiker wie Ornette Coleman, Cecil Taylor, aber auch John Coltrane hörten, fanden sie, daß hier etwas Neues heranwuchs, das sich deutlich von der swing- und bebopverhafteten Musik unterschied. Das schnelle Urteil der Kritiker lautete: Der Free Jazz dieser Musiker ist das ideale Beispiel für eine musika­lische Revolution, für eine Revolution, die soziale und gesellschaftliche Entwicklungen im Amerika jener Jahre widerspiegelte oder – dies die hoffnungsvolle Variante – vorweg­nahm. 

Vor allem linke amerikanische Kulturtheoretiker wie der weiße Journalist Frank Kofsky[1] und der schwarze Dicher LeRoi Jones (Amiri Baraka)[2] gehörten zu den Verfechtern solch einer Revolu­tionstheorie. Doch auch Musiker bekannten sich durchaus zu einer politischen Funktion ihrer Musik. Archie Shepp hat sich oft in diese Richtung geäußert[3]; 1964 nannte sich ein Festival, bei dem einige der jungen Avantgarde-Künstler auftraten, „October Revolu­tion“[4]; und 1971 gab es gar ein Trio mit dem Namen Revolutionary Ensemble, dem der Geiger Leroy Jenkins, der Bassist Sirone und der Schlagzeuger Frank Clayton ange­hörten. 

Der politische Inhalt dieser Entwicklungen betraf sowohl Titelgebungen, die Lyrik textierter Musik, öffentliche Aussagen der Musiker, die Teilnahme an politischen Aktivitäten, aber auch beispielsweise die konsequente Absage an Auftrittskonventionen des Jazz: Free-Jazz-Musiker spielten zum Teil extrem lange Stücke, die von ihrem Publikum volle Aufmerksamkeit forderten. Clubbesitzer waren darüber alles andere als glücklich, hatte diese Tatsache doch direkte Auswirkungen auf ihren Getränkeverkauf. Etliche Musiker gingen in Folge dazu über, ihre Konzerte selbst zu organisieren bzw sich neue Aufführungsorte für ihre Musik zu öffnen. Musikalische Entscheidungen zeitigten also durchaus konkrete Resultate in der Veränderung von Arbeits- und Präsentationsbedingungen.

In der Musik John Coltranes finden sich nur wenig Hinweise auf eine politische Aussage seiner Musik. Bis weit in die 1960er Jahre hinein spielte Coltrane Jazz­standards. Daneben gab es Nummern, deren Titel sich auf schwarz-amerikanische Geschichte – auch Musikge­schichte – beziehen – man denke an Titel wie „Africa“, „Spiritual“, „Afro-Blue“ usw. Ab Mitte der 1960er Jahre finden sich immer mehr Kompositionen, deren Titel auf eine neue Geistes­haltung weisen – auf Coltranes Faszination durch fernöstliche Philosophie. Seine Kompo­sitionen heißen jetzt „Peace on Earth“, „Out of This World“, „Compassion“, „Love“, „Sere­nity“, „Medita­tions“ usw. Von direktem politischem Bezug sind höchstens Titel wie „Reve­rend King“ – eine Anspielung auf Martin Luther King –, „Song of the Underground Railroad“ oder „Alabama“[5].

Exkurs: USA, 1960er Jahre

In der Folge des legendären Busboykotts in Montgomery, Alabama, fand die schwarze Bürgerrechtsbewegung der Vereinigten Staaten in Martin Luther King einen neuen und einflußreichen Führer. King war ein Revolutionär insofern, als er sein politisches Wirken an Idealen ausrichtete, die ein friedliches Zusammenleben von Schwarz und Weiß in der amerikanischen Gesellschaft zum Ziel hatten. Das „Revolutionäre“ am Handeln und Reden Kings also fand sich im Einfordern der verfassungsgemäßen Bürgerrechte für die Schwarzen – gewaltlos, aber mit höchsten moralischen Ansprüchen. Die Ermordung Martin Luther Kings mag sehr wohl als Beleg dafür angesehen werden, daß seine Art einer „friedlichen“ Revolution, die sich „auf dem Boden der Verfassung“ abspielte und nichts anderes tat als diese Verfassung immer und überall für alle Bürger der Vereinigten Staaten einzufordern, weitaus gefährlicher für ein reaktionäres und durchaus rassistisches Amerika war als die klare politische Frontenbildung, die die Propaganda der Black Muslims oder später der Black Panther Party bewirkte.

Die Black Muslims versuchten neue ethische, politische und kulturelle Werte zu setzen – mit dem Ziel, den schwarzen Amerikanern ihren Stolz auf die eigene Herkunft, auf ihre Geschichte und ihre Hautfarbe wiederzugeben. Der Slogan der späten 1950er Jahre „Black Is Beautiful“ deutet bereits auf diese Politik der Black Muslims hin. Die Muslims lieferten eine illusionslose und damit durchaus radikale Analyse der weißen Gesellschaft Amerikas und spielten auch dadurch eine wichtige Rolle bei der Radikalisierung der Bürgerrechtsbewegung. Malcolm X, der der Gemeinschaft der Black Muslims entstammte, sich aber Mitte der 1960er Jahre von ihr wieder trennte, wurde zu einem potentiellen Anführer des schwarzen Proletariats und wahrscheinlich auch aus diesem Grunde ermordet. Während der Slogan „Black Is Beautiful“ ein wachsendes Selbstbewußtsein der Schwarzen auf Hautfarbe und eigene Tradition einforderte, war der Ruf „Black Power“, der ab Mitte der 1960er Jahre in Amerika erscholl, eine noch weitaus radikalere Forderung nach Macht und Selbstbestimmung, eine Forderung nach dem Ausbruch aus dem Ghetto und damit ein Angriff auf den status quo der gesellschaftlichen Verhältnisse in den Vereinigten Staaten. 

Im „heißen Sommer“ 1964 kam es zu Rassenkrawallen in New York, Phila­delphia und Chicago. Im August 1965 gab es Rassenkrawalle im Schwarzen­viertel Watts in Los Angeles. Die Wahlverfahren in den südlichen Bundes­staaten verliefen trotz Kontrollen durch die Bundesbehörden nicht korrekt. 1966 führte die wachsende Radikalisierung der Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten zur Gründung der Black Panther Party, die die gewaltlose Politik von Martin Luther King und seinen Anhängern ablehnte und nun auch mit gewalt­tätigen Aktionen ihre Rechte einforderte. Bobby Seale, Huey P. Newton und Stokeley Carmichael nahmen für sich und ihre Black Panthers das Recht zur Selbstbewaffnung in Anspruch. Die Black Panthers organisierten ihre „Partei“ sehr straff und vergaben sogar Ämter mit Bezeichnungen wie „Verteidigungsminister“, „Informationsminister“ oder „Außenminister“[6].

Die Radikalisierung der Bürgerrechtsbewegung in den 1960er Jahren ließ Anfang der 1970er nach. Grund dafür waren gewiß auch veränderte Lebens­bedingungen der Schwarzen in den Vereinigten Staaten, deren Ursachen ohne Zweifel in den Aktionen der Bürgerrechtsbewegung begründet liegen. Auch das Vietnam-Trauma, das das politische Selbstbewußtsein Amerikas spätestens Ende der 1960er Jahre kräftig schrumpfen ließ, trug zu einer Aufweichung der Fronten bei. Bürgerrechtsgruppen wie NAACP (National Association for the Advancement of Coloured People), SNCC (Student Non-Violent Coordinating Committee), CORE (Congress of Racial Equality), SCLC (Southern Christian Leadership Conference), Black Muslims und Black Panthers hatten alle auf ihre Art und Weise Anteil daran, daß sich die Situation nicht nur des schwarzen Mittelstandes in den 1970er Jahren einigermaßen verbesserte. (Daß in den letzten Jahren wieder eine zunehmende Radikalisierung unter den Schwarzen insbesondere in den Großstadtghettos zu bemerken ist, daß die immer noch existierenden schwarz-islamischen Gruppierungen (heute: Nation of Islam) in letzter Zeit erheblichen Zulauf erfahren, hängt gewiß damit zusammen, daß unter der Politik Ronald Reagans und George Bushs die Schere zwischen Arm und Reich – und damit auto­matisch auch die Schere zwischen Weiß und Schwarz – wieder erheblich geweitet wurde. Die Einschnitte in den Sozialhaushalt, die Vernachlässigung staatlicher sozialer Aktivitäten, die Verelendung der Armenviertel in den großen Städten – betroffen sind natürlich vor allem die Schwarzen­viertel – all diese Entwicklungen der letzten Jahre sind Anlaß dafür, daß in Los Angeles und anderen großen Städten 1992 wieder Rassenkrawalle statt­fanden, die in Anlaß und Verlauf den großen Rassenunruhen der 1960er Jahre nicht nachstehen. Und in dieses Bild paßt auch der Aufstieg eines neuen „Anführers“ in der Person Louis Farrakhans[7], der trotz seiner offen antisemitischen, antifeministischen  und homophoben Äußerungen dazu in der Lage war, auch die schwarzen Intellektuellen zu mobilisieren, beispielweise bei dem von der Nation of Islam organisierten „Million Man March“ im Oktober 1995.) 


Die Revolte im Jazz

Als John Coltrane sich in den 1950er Jahren in verschiedenen Besetzungen um Miles Davis einen Namen machte, konnte von einer Revolutionierung der Musikszene und Jazzentwicklung keine Rede sein. Das Miles Davis Quintet oder Sextet der späten 1950er Jahre war nach wie vor in dem verwurzelt, was man gemeinhin als Hard Bop bezeichnet. Die modale Improvi­sationsweise, die Davis und Coltrane gemeinsam in dieser Gruppe kultivierten, war ein ganz folgerichtiger Versuch, harmonische Errungenschaften des Bebop weiterzuentwickeln. Dabei sollten aber zugleich formale Einengungen des Jazz überwunden werden, wie sie aus der dauernden Aneinanderreihung unzähliger gleich strukturierter und mit immergleichen Harmonieprogressionen versehener Chorusse resultierten. Beim modalen Spiel wurde der Improvisation eine bestimmte modale Skala zugrundegelegt, aus der die Musiker das Tonmaterial ihrer Soli ableiteten. Letzten Endes war die modale Spielweise von Davis, Coltrane und anderen ein Versuch, sich aus dem formalen Dilemma des Jazz jener Jahre zu befreien – der Third Stream, die Musik von Charles Mingus oder auch der frühe Free Jazz von Ornette Coleman oder Cecil Taylor waren andere Versuche, die aber aus demselben Grunde gestartet wurden[8].

All das war beileibe keine Revolution. Auch Coltranes erste eigene Gruppen basierten musikalisch durchaus noch auf dem, was der Saxophonist mit dem Miles Davis Quintet bekannt gemacht hatte: auf modal angelegten Improvisationsstrukturen, die Coltrane – genauso wie konventionelle Balladen oder andere Changes-Kompositionen – mit seinen Klangflächen, den sogenannten „sheets of sound“[9] füllte. Dies sind unregel­mäßigen Tongruppen, in denen der Saxophonist Akkorde aufbricht, so daß er aus seinem Instrument einen akkordischen Klangteppich auszubreiten scheint. In seinen frühen Bands entwickelte Coltrane diese Technik zu einer Meisterschaft, die erklärt, warum er bereits seit den frühen 1960er Jahren von – durchaus nicht nur jüngeren – Kollegen als Meister und Erneuerer seines Instrumentes betrachtet wurde.

Mit seinen „sheets of sound“ ging Coltrane über die vor allem harmonisch orientierte modale Improvisationsweise hinaus. Das war durchaus folgerichtig, da dem Aufbrechen der harmonischen Form im Jazz das Aufbrechen der metrischen Form geradezu folgen mußte, insbesondere dann, wenn in der Phrasenbildung eines Musikers wie Coltrane irreguläre Tongruppierungen immer wichtiger werden. Bei alledem allerdings gab Coltrane bis in die Mitte der 1960er Jahre hinein keineswegs die traditionellen Charakteristika des Jazz auf. Er spielte nach wie vor Standards, Eigenkompositionen über Changes, Balladen. Sein Ton hatte die ihm eigene Espressivität, jenen persönlichen Ausdruck, der im Jazz eine so wichtige Rolle spielt. Seine Bands arbeiteten nach wie vor mit der Aufgabenteilung in Melodie- und Rhythmusgruppe, eine Aufteilung, die von anderen Musikern – Taylor, Coleman – ja durchaus in Frage gestellt wurde. 

Knapp gesagt: Es gab Anfang der 1960er Jahre weitaus avanciertere Beispiele des improvisierten Jazz. Ornette Coleman und Cecil Taylor hatten sich – jeder auf seine Weise – in freiere Sphären vorgewagt. Selbst der Third Stream eines Gunther Schuller mit Improvisationspartien durch Coleman oder Eric Dolphy schien gewagter und „revolutionärer“ als die durchaus konventionelle Musik Coltranes[10]. Ende 1962 nahm Coltrane die Platte „Ballads“ auf, die man heute ohne weiteres als Partyhintergrund laufen lassen könnte, ohne daß sich irgend jemand aufregte[11]. Anfang 1963 erschien das „Lush Life“-Album mit Johnny Hartman[12]. Erst 1964 folgten mit „A Love Supreme“[13] oder „Ascension“ (1965)[14] und anderen Platten jene Aufnahmen, die – zumindest in der Retrospektive – verstehen ließen, warum Coltrane musikalisch als revolutionär begriffen wurde. 

Im Oktober 1958 und im Juli 1960 ging John Coltrane mit einigen Musikern ins Studio, die gemeinhin der anderen Seite jener Jazzentwicklung zugerechnet werden, die wir als Free Jazz bezeichnen: mit Cecil Taylor (under dessen Namen diese Aufnahmesitzung lief) und Don Cherry. Mit Taylor und dem Trompeter Kenny Dorham entstand 1958 die Platte „Coltrane Time“[15], die an keiner Stelle das über­schreitet, was im Hardbop jener Jahre üblich war – abgesehen höchstens von den stilistisch widerborstigen Klaviereinwürfen Taylors. Die Plattensitzung für „The Avant-Garde“[16] von 1960 mit Don Cherry und anderen Musikern aus dem Umfeld Ornette Colemans ist vor allem durch drei Coleman-Kompositionen geprägt sowie durch die Coleman verbundene Spielkonzeption. In beiden Fällen handelt es sich also nicht etwa um eine gleichberechtigte Begegnung Coltranes mit Musikern und Spielkonzepten der damaligen Avantgarde, sondern eher um Sessions, bei denen Coltrane wie eine Art Gaststar wirkt, der sich in das Repertoire und die Spielauf­fassung seiner Mitmusiker einzupassen hat. Das Ganze ermöglicht somit zwar einen Einblick, inwieweit Coltranes Spielauffassung mit dem Konzept der jungen Avant­garde kompatibel ist, zeigt aber vor allem die Anpassungsfähigkeit Coltranes in unterschiedlichen musikalischen Umgebungen. In „The Avant-Garde“ wirkt Coltrane wie ein – durchaus willkommener – Fremdkörper in der bis zum fehlenden Klavier hin durchgestalteten Ornette Coleman-Besetzung. 

Ornette Coleman und Cecil Taylor haben sich nie direkt auf Coltrane bezogen, um darin ihr eigenes Spielkonzept zu rechtfertigen. Zwischen den drei Musikern gab es durchaus grundsätzliche Unterschiede. Coltrane stand für harmonische, Taylor für tonale und Coleman für melodisch/rhythmische Umwälzungen[17]. Musiker um und nach Coltrane kümmerten sich also vor allem um harmonisch-klangliche Neuerungen; die Coleman-Gruppe konzen­trierte sich auf die Ausbildung einer melodisch-motivisch orientierten Improvisation; und die Musiker, die sich um Taylor scharten, waren besonders am Gruppenklang interessiert, an klangorien­tierter Kollektivimprovisation und einer durch­aus emotionalen musikalischen Kommunikation. 

Die Gruppe um Coleman wurde nur zu leicht des „Intellektualismus“ verdächtigt, hatte sie doch intensive Kontakte zu den Third Streamern um Gunther Schuller und John Lewis – Coleman wirkte bei einigen Konzerten des Orchestra USA mit, mit dem Schuller und Lewis ihre Ideen einer breiteren Öffentlichkeit vorstellen wollten. Dieser Kontakt zu einer Art „intellektuellen“ Jazzszene aber machte sie als musikalische „Revolutionäre“ durchaus verdächtig. Wollten nicht Schuller, Lewis und andere Third Streamer mit ihrer Idee des Zusammenbringens verschiedener Traditionen die „afro-american heritage“ aufweichen, der schwarzen Musik ein ästhetisches Werte­schema überstülpen, das aus Europa importiert war[18]?

Cecil Taylors scheinbarer Bruch mit vielen offensichtlichen Traditionen war nicht weniger problematisch. Zu individuell und eigensinnig war sein Konzept, zu wenig auf ein Verständnis oder zumindest ein emotionales Nachempfinden angelegt, als daß diese Musik das Charisma der Revolution hätte erlangen können. Und genau hier liegt viel­leicht ein Grund dafür, daß statt derer, die musikalisch viel weiter zu gehen schienen als Coltrane, gerade dieser den Ruf des Revolutionärs innehatte.

John Coltrane wurde in den 1960er Jahren nicht zuletzt deshalb von etlichen Wort­führern der schwarzen Sache für sich vereinnahmt, weil seine Musik sehr viel deut­licher in einer soul- und bluesdurchwirkten Tradition zu stehen schien als dies bei Taylor oder Coleman der Fall war. Auch seine Wendung zu fernöstlichen Denk­haltungen lag durch­aus auf einer Wellenlänge mit Entwicklungen der Zeit. Die Wendung zum Islam, die in jenen Jahren in der schwarzen Gesellschaft Amerikas so populär war, war ja nichts anderes als die Suche nach einer neuen auch spirituellen oder religiösen Identität – eine bewußte Absage an das Christentum, das zwar die afro-amerikanische Geschichte so bedeutend geprägt hatte, von den angry black men der 1960er Jahre aber dennoch in erster Linie als eine Religion der weißen Welt angesehen wurde. Coltranes spirituelle Wendung zu fernöstlichen Denk- und Lebens­weisen war weit weniger politische Aussage als die neu angenommenen islamischen Namen der Black Muslims[19]. Dennoch war die Wirkung seines neuen Auftretens – vielleicht auch nur wegen der Ausdeutung durch die schwarzen Kulturpäpste der Zeit – eine durchaus politische. 


Coltrane und die ästhetische Diskussion der 1960er Jahre

Der Mythos des Revolutionärs Coltrane ist eigentlich nur mit Wissen um die ästhetische Diskussion der 1960er Jahre zu verstehen, in der schwarze Kulturtheoretiker wie LeRoi Jones (Amiri Baraka), Ron Karenga und andere eine wichtige Rolle spielen.

Karengas Auffassung von schwarzer Kunst ist schnell zusammengefaßt: „All art“, so sagt er, „must reflect and support the Black Revolution, and any art that does not discuss and contribute to the revolution is invalid“.[20]

LeRoi Jones präzisiert 1965 über die Musik John Coltranes: „Trane is a mature swan whose wing span was a whole new world. But he also showed us how to murder the popular song. To do away with weak Western forms.“[21] In seiner Autobiographie beschreibt Jones dieses „revolutionäre“ Element in Coltranes Musik weiter: „(…) he’d play sometimes chorus after chorus, taking the music apart before our ears, splintering the chords and sounding each note, resounding it, playing it backwards and upside down trying to get to something else. And we heard our own search and travails, our own reaching for new definition. Trane was our flag.“[22] 

Und Miles Davis assistiert: „Trane’s music and what he was playing during the last two or three years of his life represented, for many blacks, the fire and passion and rage and anger and rebellion and love that they felt, especially among the young black intellectuals and revolutionaries of that time. He was expressing through music what H. Rap Brown and Stokely Carmichael and the Black Panthers and Huey Newton were saying with their words, what the Last Poets and Amiri Baraka were saying in poetry. He was their torchbearer in jazz, now ahead of me. He played what they felt inside and were expressing through riots – „burn, baby, burn“ – that were taking place everywhere in this country during the 1960s. It was all about revolution for a lot of young black people – Afro hairdos, dashikis, black power, fists raised in the air. Coltrane was their symbol, their pride – their beautiful, black revolutionary pride.“[23]

Der amerikanische Literaturwissenschaftler William J. Harris stellt Coltrane in die Tradition des signifyin‘, der Kodierung und Verschlüsselung schwarzer Tradition, die sich in der schwarz-amerikanischen Volkskultur bis in unsere Tage gehalten hat[24]. Coltrane, so sagt er, benutzt diese Tradition des signifyin‘ in Bezug auf die weiße Song-Tradition, wenn er einen Musical-Schlager wie „My Favorite Things“ musikalisch auseinandernimmt, scheinbar eine Parodie schafft, die aber durchaus in der schwarzen Tradition der Aneignung weißer Werte (Sprache, Gestik, Religion, Bildlichkeit etc.) liegt[25]. Und diese Art der Aneignung und gleichzeitigen Umbewertung einer weißen musikalischen Ästhetik ist es wohl, die Coltranes Musik auch vielen Wortführern der 1960er Jahre als revolutionär gelten ließ, obwohl die ausgeprägte Individualität seiner Musik dem Konzept eines „sozialistischen Realismus“ doch völlig entgegenstand, an das sich viele der schwarzen Wortführer jener Jahre anlehnten[26].

Versteht man Coltranes Musik so wie LeRoi Jones, so mag man tatsächlich eine Parallele sehen zu den Forderungen der jungen zornigen Theoretiker, den Schwarzen Nationalisten, die ab Mitte der 1960er Jahre zu Wortführern der Schwarzen­bewegung in den Vereinigten Staaten wurden. Läßt sich ein solches Konzept aber tatsächlich in der Musik Coltranes festmachen? Steht Coltrane nicht selbst in seinen späten Aufnahmen immer noch fest in der Tradition der jazzge­mäßen Aneignung musikalischen Materials? Ist es wirklich ein Unterschied, ob Coleman Hawkins „Body and Soul“ interpretiert, Charlie Parker „Just Friends“ oder John Coltrane „My Favorite Things“? Eine Analyse der verschiedenen von Coltrane eingespielten Versionen dieser letztgenannten Komposition kann verdeutlichen, was Jones mit dem „Auseinandernehmen“ des popular song meint, mit dem Aufbrechen der formalen Struktur, für das Coltrane die ursprüngliche Komposition selbst funktionalisiert.


„My Favorite Things“, Komposition

„My Favorite Things“ wurde vom Komponisten Richard Rodgers und vom Textdichter Oscar Hammerstein II. 1959 für das Musical „The Sound of Music“ verfaßt. Die Komposition hat eine relativ einfache Themenstruktur (A1-A2-A3-B) und ist auch harmonisch eher simpel konzipiert (vgl. Abbildung 1). Die Teile A1 und A2 stehen in e-Moll, A3 in der Dur-Variante E-Dur, der Teil B schließlich führt in die Dur-Parallele G-Dur. Den Teilen A2 und A3 steht jeweils ein Vamp voran – vor A2 in e-Moll, vor A3 in E-Dur. Der 3/4-Takt ergibt sich aus dem Musical-Plot, der im Österreich des Jahres 1938 angesiedelt ist. 

„My Favorite Things“, 1960[27]

Coltranes bekannteste Aufnahme vom Oktober 1960[28] war eine der ersten und ist sicher die bekannteste Jazz-Version des Musical-Hits. Die Grundstruktur des Arrangements arbeitet mit einer konstanten Abwechslung von thematischen Teilen und Improvisation über dem durchgehenden Dreierrhythmus von Klavier, Baß und Schlagzeug (vgl. Formschema Abbildung 2). Alle Thementeile hintereinander erklingen in korrekter Reihenfolge zum Schluß – in der ersten Hälfte unterbrochen von langen Improvisationspartien. Ausgangspunkt der modalen Improvisationsteile der Aufnahme sind jeweils die Einleitungs-vamps der einzelnen Formteile (s.o.) in e-Moll bzw. E-Dur. In der Gewichtung zwischen Thema und Improvisation allerdings entsteht dabei der Klangeindruck, das die Improvisationsteile den jeweils vorangegangenen A-Teilen folgen, nicht wie ein vamp auf die jeweils nächsten hinzielen (Vergleich des generellen Formverlaufs der Originalkomposition und der Coltrane’schen Versionen vgl. Abbildung 1). Bei der Themenvorstellung zu Beginn sind diese Improvisationsteile mit acht bzw. 16 Takten noch relativ kurz, nehmen im Klavier- bzw. Sopransaxophonsolo dann bis zu 18 Achttaktern ein. A1 und A2 des Sopransaxophonsolos sind in den Improvisationsablauf eingepaßt, A3 und ein verfremdeter B-Teil werden – ohne zwischengeschaltete Improvisation – zum thematischen Abschluß der Aufnahme. Während McCoy Tyners Solo kaum melodische Erfindung enthält und über lange Strecken wie ein ausgedehnter vamp wirkt – und damit eigentlich ganz in der Atmosphäre der Originalkomposition bleibt –, entwickelt Coltrane dynamische Steigerungspartien, die schließlich zum jeweils neuen Themenstatement zurückführen. Die stete Abwechslung thematischer und improvisierter Partien innerhalb der Struktur der zugrundeliegenden Komposition – also nicht in der im Jazz üblichen Chorusreihung – ist Programm, und so wirkt es auch ganz folgerichtig, daß der B-Teil erst am Schluß der Aufnahme erklingt. Die ganze Realisation ist damit quasi eine Erweiterung der inneren Struktur von „My Favorite Things“, wobei erst das vollständige Statement aller Teile in Sopransaxophonsolo und thematischem Abschluß beim (vorgebildeten) Hörer das Schlußerlebnis bewirkt.

„My Favorite Things“, 1962

Bei einer Live-Einspielung aus dem Village Vanguard von 1962[29] stößt der Flötist Eric Dolphy zum klassischen Coltrane-Quartett. Dolphy stammt nicht – wie der spätere Coltrane-Partner Pharoah Sanders – aus der Coltrane-Schule, sondern bildete seinen Stil eher aus Third-Stream-zugeneigten Erfahrungen in den Gruppen Chico Hamiltons und in der New Yorker Szene um Gunther Schuller und John Lewis. Er arbeitet in seinem Solo über „My Favorite Things“ mit motivischen Floskeln, die – an Anfang und Ende der Improvisation gesetzt – fest geformte Bestandteile seines „Favorite Things“-Solos in jener Zeit bei Coltrane zu sein scheinen. Er nutzt Überblas­techniken in einem „zahmeren“ Sinne als dies bei Pharoah Sanders und späteren Free-Jazz-Musikern der Fall ist. Coltranes Sopransaxophonsolo in dieser Fassung zeichnet sich dadurch aus, daß die Intensität seiner Improvisation scheinbar mit der erreichten Tonhöhe zusammenhängt und nicht so sehr durch rhythmische oder klangliche Elemente bewirkt wird. Mitten im Solo finden sich motivisch-thematische Bezüge. Im Ablauf der Realisation aber gleicht die Aufnahme dem Ablaufkonzept von 1960.

„My Favorite Things“, 1963

Eine Live-Einspielung vom Newport Jazz Festival des Jahres 1963 läßt konzeptionelle Konstanten und bewußte Änderungen der Struktur erkennen. In der Einspielung, die auf der LP „Selflessness“ veröffentlicht wurde[30], wird noch einmal die Standardisierung des Themenstatements Coltranes deutlich: Es mündet sowohl in den frühen als auch in den späteren Interpretationen immer wieder in eksta­tischer Höhe, aus der dann entweder der neue Themenbeginn hervorbricht oder sich die stilisierte Improvisation entwickelt. Die typisch Coltranesche Spielweise – das Aufbrechen von Akkorden, die Sequenzierung von Skalen­fragmenten etc. – spielt auch in der Fassung von 1963 eine wichtige Rolle. Wie 1960 und 1962, anders aber als in späteren Aufnahmen wird 1963 der Walzerrhythmus des Themas an jeder Stelle beibehalten, so daß während der ganzen Realisation ein thematischer Bezugsrahmen besteht – wenn auch aufgebrochen durch ausgedehnte modale Phasen. Stärker als in den vorangegangenen Versionen wirkt Coltranes Solo vor dem Schlußthema 1963 wie eine lang ausgedehnte Kadenz, die im Thema ihre Auflösung erfährt – eine Wirkung, die dadurch verstärkt wird, daß diesem Schlußthema gleich noch einmal eine modale Improvisation Coltranes folgt.

„My Favorite Things“, 1966

Vom Mai 1966[31] schließlich stammt eine Live-Version, die erhebliche auch konzeptionelle Unterschiede zu den bisher diskutierten Fassungen aufweist. Ihr geändertes Konzept wiederholt sich auch in weiteren Mitschnitten aus der Mitte der 1960er Jahre[32]. Neben Coltrane am Sopransaxophon sowie in den Dialogpassagen an der Baßklari­nette spielen in dem Mitschnitt eines Konzertes aus dem New Yorker Club Village Vanguard Pharoah Sanders (Tenorsaxophon, Flöte), Alice Coltrane (Klavier), Jimmy Garrison (Baß), Rashied Ali und Emanuel Rahim (Schlagzeug). 

Coltrane selbst äußerte sich zu den Änderungen im Konzept von „My Favorite Things“: 

„In ‚My Favorite Things‘ my solo has been following a general path. I don’t want it to be that way because the free part in there, I wanted it to be just something where we could improvise on just the minor chord and the major chord, but it seems like it gets harder and harder to really find something different on it. I’ve got several landmarks that I know I’m going to get to, so I try to play something in between that’s different and keep hoping I hear something different on it. But it usually goes always the same way every night. I think that 3/4 has something to do with this particular thing. I find that it’s much easier for me to change and be different in a solo on 4/4 tunes because I can play some tunes I’ve been playing for five years and might hear something different, but it seems like that 3/4 has kind of got a straight jacket on us there!“[33] 

Eine der wichtigsten Änderungen in der Interpretation der Mitt-60er Jahre ist dementsprechend der Verzicht auf eine durchgängige 3/4-Metrik in den Improvisationspartien sowie der Verzicht auf das Themenstatement von A1 und A2 im zweiten Abschnitt, in dem freie Improvisation vorherrscht (vgl. das Ablaufschema dieser Einspielung, Abbildung 3).

Ein Klaviersolo, wie es in den Versionen mit McCoy Tyner immer gleich nach der Themenexposition zu finden ist, fehlt in der Fassung vom Mai 1966. Nach einem fünf-minütigen, thematisch unabhängigen – und auf der Schallplattenveröffentlichung auf die andere Plattenseite gepreßten – Baßeinleitung beginnt Coltrane mit einem langen modalen vamp, in dem er das harmonische Material ausbreitet – über geduldigen Klavierakkorden und intensivem Schlagzeugspiel. Unter dem ersten Themenstatement hält die Rhythmusgruppe die modale Atmosphäre bei, so daß die Melodie des ein­gängigen Themas harmonisch verfremdet scheint, damit aber zugleich der Weg geöffnet ist zu einer Improvisation, deren thematischer Zusammenhang mehr im Atmosphärischen liegt als in den vorangegangenen Fassungen. Das folgende Themenstatement ist immerhin sehr viel deutlicher – hier tritt die Themenform weit stärker in den Vordergrund. 

Coltrane tritt zurück und Pharoah Sanders beginnt im tiefen Register sein Tenorsaxophonssolo – wie erwähnt ohne Themenstatement. Aber auch im Melodischen scheint Sanders‘ Solo weit weniger als Coltranes Spiel zuvor einen direkten Zusammenhang mit dem Songthema aufzuweisen. Ein harmonischer Grundriß ist nicht mehr vorhanden, tonale Bezüge sind nur stellenweise noch erahnbar, und auch die metrische Grundlage wird vollständig aufgebrochen. Sanders‘ kreischend überblasene Klangketten wirken teilweise wie das Spiel eines Besessenen. Coltrane ist im Hintergrund mit antreibenden Rufen auf der Baßklarinette zu hören. Nach einem energiegeladenen Klimax fällt die Intensität Sanders‘ ab, um gleich darauf in einem Dialog der beiden Saxophonisten erneut zu erstehen – dies quasi die Überleitung zum Sopransaxophonsolo Coltranes. Coltrane arbeitet über deutlich reduziertem perkussivem Grund und nunmehr wieder durch­scheinender modaler Basis. Er benutzt harmonisch/modal identifizierbare Motiv­ketten, Skalenbrechungen, bei denen die jeweils erreichte Tonhöhe die Intensität der Musik anzeigt – nicht also rhythmische, klangliche oder sonstwelche Parameter. Das Ganze wirkt über weite Strecke durchaus etüdenhaft – kurze Skalen/Akkordbrechungen, die in Sequenzen über das ganze Instrument jagen. Ein letztes Themenstatement (A3 und B) scheint das zwischen­durch Passierte zurücknehmen zu wollen, sorgt im Ausklangsdialog von Sopransaxophon und Flöte für eine weltfremde – und damit versöhnliche? – Atmosphäre. 

Es ist erstaunlich, wie hier das bekannte, sangliche Thema quasi im Nachhinein das gesamte über 20-minütige musika­lische Geschehen zu harmonisieren scheint, wie es vielleicht tatsächlich ein wenig wirkt, als sei das Auseinanderbrechen der thematischen Grundlage – die „Revolution“ gegen die Herrschaft von Chorus und Harmonik – Basis einer neuen Ordnung, Voraussetzung einer völligen Aneignung des Materials. Das alles aber ist – wie man immer wieder betonen muß – durchaus nicht neu. Auf der Idee „per aspera ad astra“ basieren letzlich etliche musika­lische Konzepte – ob im Kopf des Komponisten oder in der Reflexion des Theoretikers –, allen voran die die europäische Musik des 18. und 19. Jahr­hunderts so bestimmende Sonatenform, in der in durch ein Aufbrechen der anfänglichen Thematik eine Auseinandersetzung mit dem musikalischen Material stattfindet, die schließlich dazu führt, das in der Reprise das Thema quasi „geläutert“, in neuem Licht erscheint. Natürlich ist Coltrane oder ist überhaupt der Jazz weit davon entfernt, mit Formmodellen der europäischen Musikgeschichte verglichen werden zu können. Und doch sind gerade bei so deutlichen und einprägsamen Themen wie in „My Favorite Things“ die Argumente eines LeRoi Jones denen der Theoretiker des 19. Jahrhunderts durchaus vergleichbar. Auf einem etwas krude definierten musikalischen Terrain sehen sie hier den Weg beschrieben, den die schwarze Kunst, die schwarze Gesellschaft, die „Black Power“ nehmen müsse: in einer Aneignung weißer Werte durch Revolution.


Im Vergleich der verschiedenen Fassungen von „My Favorite Things“ von John Coltrane läßt sich feststellen: 

Ein Grund für die Faszination Coltranes durch den relativ simplen Walzer von Rodgers und Hammerstein mag gerade darin begründet liegen, daß es sich um sehr einfache und einprägsame Harmonien handelt, um eine Melodik, die eigentlich diese Harmonik nur noch unterstützt, um eine Reihungsform (A1-A2-A3-B), in der ein Aufbrechen des Chorus einfacher ist als in der im popular song sonst üblichen Reprisenbarform. Schon Coltranes Themenstatement zeigt, welche von üblichen Chorusstrukturen abweichende Vorstellung der Saxophonist von einem optimalen Ablauf über „My Favorite Things“ hatte: Er deutet den in der ursprünglichen Komposition kurzen vamp als Hauptmoment, ja geradezu als Ziel- und Höhepunkt seiner Interpretation. Coltranes Konzept bewerkstelligt den Aufbruch der musikalischen Form damit aus der ursprünglichen Komposition heraus und mündet in einen Formverlauf, in welchem alle Bestandteile – Einleitung, thematische Partien, Soli – dem dramatischen konzipierten Gesamtverlauf untergeordnet sind, ohne das die Solisten dabei eingeschränkt wären. Wenn erst am Ende das vollständige Thema erklingt, wird dem Hörer ganz unbewußt der Zusammenhang dieser so unaufdringlich durchkonzipierten Form bewußt. 

Coltrane kombiniert nebenbei meisterhaft traditionelle Elemente – ein Walzerthema, das in durchaus tänzelnder Manier formuliert wird – und freie Improvisation — wobei die Freiheit vor allem die harmonische Freiheit ist, die Coltrane in den späten 1950er Jahren durch seine Meisterschaft in der modalen Improvisation errungen hat. Coltrane ist es gelungen, diese modale Improvisationsweise auf eine Komposition des american popular song anzuwenden, nicht – wie bei Davis – auf eigens geschriebene Stücke, denen das modale Schema von vornherein zugrundelag. Und dazu entwickelt er sie auch noch aus der Komposition selbst heraus – gewiß ein Musterbeispiel für den prozeß des signifyin‘ in afro-amerikanischer Musik. Diese Art eines „revolutionären Aktes“, den Coltrane der Musik angedeihen läßt, diesen signifyin‘-Prozeß des Umdeutens eines Schlagers in genuine afro-amerikanische Musik meinte LeRoi Jones – der ja 1965 nur die frühen Aufnahmen kannte –, wenn er das Aufbrechen überkommener Strukturen in Coltranes My Favorite Things hervorhob.

Coltranes späte Phase wird gern dadurch gekennzeichnet, daß der Saxopho­nist all die musikalischen Erfahrungen und Entwicklungen, die er in früheren Jahren gesammelt und durchgemacht hatte, zusammengefaßt habe, daß er nunmehr sozusagen „aus dem Vollen“ schöpfen konnte. Vielleicht ist wirklich etwas dran an der Charakterisierung der „reifen Phase“, mit der verschiedene Kritiker die Jahre 1965 bis 1967 bei Coltrane zu beschreiben versuchten. Solch eine Reife zeichnet sich beispielsweise darin aus, daß Coltrane keinen der zuvor eingeschlagenen Wege mit „Scheuklappen“ verfolgt, sondern das Vokabular, die musikalische Grammatik, aus der sich sein Personalstil zusammensetzt, durchaus auch inkonsequent – nämlich im Dienste der Musik (!) – verwendet. Ekkehard Jost schreibt mit Bezug auf die letzten Jahre Coltranes: „So wurde von der Modalität kaum noch Gebrauch gemacht; und die Ausnahme, nämlich die Einspielung des alten, mit Coltranes Werdegang so eng verknüpften Standards „My Favorite Things“, bestätigt auch hier nur die Regel.“[34] Tatsächlich aber zeigt sich in der Aufnahme mit Pharoah Sanders, daß auch dieses modale Prinzip in den späten Jahren nicht immer ganz folgerichtig durchgeführt wird, daß andere Momente stärker im Vordergrund stehen, benennt man sie nun als Emotionalität, Spiritualität oder Transzendenz des musikalischen Materials – alles Begriffe, die im Zusammenhang mit Coltrane gern angeführt werden. 


Schluß

Wenn man musikalisch vom Neuerer oder gar vom Revolutionär Coltrane spricht, so meint man vor allem den Einfluß, den der Saxophonist auf ihm nachfolgende Musiker hatte – auf Saxophonisten wie auf andere Instrumentalisten. Und man meint gemein­hin nicht erst die Aufnahmen von 1966 oder 1967, sondern schon die der Atlantic-Jahre um 1960, die der Impulse-Platten von 1961 bis 1965, wenn man an den Coltrane denkt, dessen Virtuosität und Spielkonzept so einflußreich auf die Jazzentwicklung war. In „My Favorite Things“ wird besonders deutlich, wie das Konzept für ein Stück, das als Feature für modale Improvisation ins Repertoire genommen wurde, sich im Laufe der Jahre verändern kann, um neuen musikalischen Ausdrucksformen gerecht zu werden, ohne daß das freie Spiel Mitte der 1960er Jahre als völlige Rebellion gegen das festere Schema der frühen Aufnahmen aufzufassen wäre. Das Etikett des Revolutionärs Coltrane – so gut es auch die neue Geisteshaltung charakterisieren mag – verschleiert jene Qualitäten, die bei dem Saxophonisten weit mehr im Vordergrund stehen als das Umstürzlerische: seine Fähigkeit nämlich, kreativ mit der musikalischen Tradition umzugehen, der er ent­stammt. 


[1] Frank Kofskys Artikel erschienen sowohl im führenden Jazzblatt Down Beat als auch in anderen einflußreichen US-Magazinen. Vgl. Frank Kofsky: Black Nationalism and the Revolution in Music, New York 1970, eine Sammlung von Aufsätzen, die ursprünglich Mitte der 1960er Jahre erschienen waren.

[2] LeRoi Jones: Blues People. The Negro Experience in White America and the Music that Developed from It, New York 1963; ders.: Black Music, New York 1967

[3] Vgl. – stellvertretend für viele ähnliche Stellen – Valerie Wilmer: Jazz People, London 1977, S. 153 ff (Kapitel „The Fire This Time“); Archie Shepp: An Artist Speaks Bluntly, in: Down Beat, 32/26 (16.Dezember 1965), S. 11, 42

[4] Vgl. Ekkehard Jost: Sozialgeschichte des Jazz in den USA, Frankfurt/Main 1982, S. 212 f; Dan Morgenstern und Martin Williams: The October Revolution. Two Views of the Avant Garde in Action, in: Down Beat, 31/30 (19.November 1964), S. 15, 33

[5] Africa auf Africa/Brass (Impulse 6); Spiritual auf Coltrane Live at the Village Vanguard (Impulse 10); Afro-Blue auf Coltrane Live at Birdland (Impulse 50); Peace on Earth auf Infinity (Impulse 9225); Out of This World auf Live in Seattle (Impulse 9202-2); CompassionLove und Serenity auf Meditations(Impulse 9110); Reverend King auf Cosmic Music (Impulse 9148); Song of the Underground Railroad auf Africa/Brass Vol. 2 (Impulse 9273); Alabama auf Coltrane Live at Birdland (Impulse 50). Coltrane selbst übrigens empfand die politische Funktion seiner Musik als zweitrangig. In einem Interview kurz vor seinem Tod antwortete er auf die Frage „Quelques musiciens ont dit qu’il ya un rapport entre certaines des idées de Malcolm [X] et la nouvelle musique. Le penses-tu?“: Je crois que la musique étant une expression du coeur et de l’être humain, elle exprime justement ce qui se passe, la totalité des expériences de la vie à un moment donné. Vgl. Frank Kofsky: John Coltrane. Un interview inédite, in: Le Jazzophone, 16 (November 1983), S. 38.

[6] Vgl. Gene Marine: The Black Panthers, New York 1969

[7] Zu Louis Farrakhan vgl. Henry Louis Gates: The Charmer, in: The New Yorker, 9. April & 8. Mai 1996, S. 116-131

[8] Zu den Entwicklungen zwischen Bebop und Free Jazz vgl. Wolfram Knauer: Zwischen Bebop und Free Jazz. Komposition und Improvisation des Modern Jazz Quartet, Mainz 1990

[9] Ekkehard Jost: Free Jazz. Stilkritische Untersuchungen zum Jazz der 60er Jahre, Mainz 1975, S. 114 f

[10]   Zur Bedeutung des Third Stream in jenen Jahren vgl. Wolfram Knauer, Zwischen Bebop und Free Jazz, S. 80-82, 310-316

[11]   Impulse 32

[12]   Impulse 40

[13]   Impulse 77

[14]   Impulse 95

[15]   United Artists 5638

[16]   Atlantic 1451

[17]   Vgl. A.B. Spellman: Plattentext zu The Avantgarde, Atlantic 1451

[18]   Vgl. Gunther Schuller: Third Stream Redefined, in: Saturday Review, 44 (13. Mai 1961), S. 54 f.

[19]   Unter Jazzmusikern finden sich Beispiele bei Art Blakey (Abdullah Ibn Buhaina), Kenny Clarke (Liaquat Ali Salaam), Yusef Lateef (Geburtsname: William Evans) u.a.

[20]   Ron Karenga: Black Cultural Nationalism [1968], in: Addison Gayle, Jr. (Hg.): The Black Aesthetic, New York 1971, S. 33

[21]   LeRoi Jones: Black Music, New York 1967, S. 174

[22]   LeRoi Jones: The Autobiography of LeRoi Jones/Amiri Baraka, New York 1974, S. 176

[23]   Miles Davis & Quincy Troupe: Miles. The Autobiography, new York 1989, S. 285-286

[24]   William J. Harris: The Poetry and Poetics of Amiri Baraka, Columbia 1985, S. 19 f. 

[25]   Auch Henry Louis Gates sieht Coltranes Interpretation von My Favorite Things als formale Parodie des Musicalschlagers. Er betont: Resemblance thus can be evoked cleverly by dissemblance. Vgl. Henry Louis Gates, Jr.: The Signifying Monkey. A Theory of African-American Literary Criticism, New York 1988, S. 104

[26]   Auch LeRoi Jones/Amiri Baraka weist in diesem Zusammenhang dezidiert auf My Favorite Things, vgl. Amiri Baraka: The „Blues Aesthetic“ and the „Black Aesthetic“. Aesthetics as the Continuing Political History of a Culture, in: Black Music Research Journal, 11/2 (1992), S. 106

[27]   Die ausgewählten vier Coltrane-Versionen von My Favorite Things sollen die Entwicklung in Coltranes Interpretation dieses Stücks verdeutlichen. Neben den im Text genannten Einspielungen gibt es etliche weitere Versionen, die vor allem in – oft illegalen – Live-Mitschnitten auf Schallplatte veröffentlicht wurden. Eine Übersicht über sämtliche Aufnahmen Coltranes gibt Yasuhiro Fujioka: John Coltrane. A Discography and Musical Biography, Metuchen/New Jersey 1995. Fuijoka verzeichnet allein 47 Coltrane-Versionen von My FavoriteThings – wobei er allerdings sowohl veröffentlichte als auch nicht-veröffentlichte Aufnahmen und Mitschnitte zählt.

[28]   Atlantic 1361

[29]   Jazz Anthology/Musidisc 30 JA 5184. Eine weitere, im Aufbau vergleichbare Version von My Favorite Things mit Eric Dolphy stammt aus einem Live-Mitschnitt vom November 1961 (Rhino R2 71255: John Coltrane Anthology: The Last Giant)

[30]   Impulse 9161

[31]   Impulse AS 9124

[32]   Z.B. Tokio 1966, Impulse IMR 9036 C

[33]   Zit. nach Ralph J. Gleason, Plattentext zu John Coltrane: Olé Coltrane, Atlantic 1373

[34]   Ekkehard Jost: Free Jazz. Stilkritische Untersuchungen zum Jazz der 60er Jahre, Mainz 1975, S. 111

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Essays

Jazz Meets the World

In den späten 1960er Jahren veröffentlichte Joachim Ernst Berendt eine Reihe an Platten unter dem Obertitel "Jazz Meets the World". Für eine Wiederveröffentlichung im Jahr 1997 durfte ich die Liner Notes zu den beiden CDs "Jazz Meets Europe" (MPS 531 847-2) und "Jazz Meets Africa" (MPS 5312 720-2) schreiben.

JAZZ MEETS EUROPE

Fragt man Amerikaner nach europäischen Jazzmusikern, so wird man außer einem Verweis auf Django Reinhardt vor allem Achselzucken ernten. „Europäischer Jazz“ – ein Widerspruch in sich? Tatsächlich haben sich die europäischen Jazzer erst relativ spät auf das besonnen, worauf es im Jazz ankommt: auf Individualität und den persönlichen Umgang mit der afro-amerikanischen Musiksprache. Vor den 60er Jahren war Django Reinhardt einer der ganz wenigen Europäer, die nicht einzig dem Vorbild amerikanischer Jazzmusiker folgten, sondern einen eigenständigen Personalstil ausbildeten, der seine Wurzeln genauso in ihrer Herkunft aus Europa besaß wie im Vorbild amerikanischer Kollegen. Zum Vergleich: Benny Goodmans oder Artie Shaws Klarinettenspiel beziehen sich auf die afro-amerikanische Tradition genauso wie auf die jiddische Musik der Welt, in der sie groß wurden. In Musik aus New Orleans finden sich immer wieder regionale Einflüsse durch Cajun-Musik oder den „latin tinge“ karibischer Provenienz. Niemanden verwundert, daß Kubaner, die seit den 30er Jahren in New York Fuß faßten, die Rhythmen ihrer Heimat mitbrachten und in den Jazz integrierten. Und das Lob des ausgesprochenen Individualstils bei Django Reinhardt fußt vor allem auf der Feststellung, daß er sich nicht nur auf die Tradition schwarzer Amerikaner, sondern auch auf die seiner Sinti- und Roma-Gefährten bezog und damit eine Musiksprache entwickelte, die nicht aufgesetzt, sondern authentisch wirkt – „authentisch“ im Sinne von „selbst-erlebt“.

Bis in die 60er Jahre hinein aber hatten die meisten Europäer genug damit zu tun, die Entwicklungen des amerikanischen Jazz technisch wie ästhetisch nachzuvollziehen, die amerikanischen Vorbilder zu imitieren. Kaum jemand kam auf die Idee, daß die nationalen Traditionen des eigenen Landes für eine Umsetzung in die Jazzsprache taugen könnten. Als der Produzent Joachim Ernst Berendt bei den von ihm initiierten 4. Berliner Jazztage 1967 einen Abend mit dem Motto „Jazz Meets the World“ überschrieb, wollte er mit diesem Programm die Offenheit des Jazz und seiner Musiker dokumentieren, ihren Mut, aber auch die Möglichkeiten im Umgang einer improvisierten Musik mit nationalen Traditionen aus aller Welt. Berendt brachte an einem Abend indonesische, indische, afrikanische und spanische Musiker mit Jazzern zusammen, so wie er bereits 1964 Albert Mangelsdorff dazu animiert hatte, für eine Asien-Tournee Themen einzustudieren, die auf der Folklore der bereisten Länder basierten. In der Plattenfirma MPS fand Berendt einen kooperativen Partner für die Plattenreihe „Jazz Meets the World“. Zwei seiner Produktionen konfrontierten Jazzmusiker mit europäischen Folkloretraditionen: dem Flamenco und dem Basler Trommeln.

Den spanischen Saxophonisten Pedro Iturralde hatte Berendt erstmals bei einem Programm der European Broadcasting Union (EBU) gehört. Als er an die Planung seines „Weltmusik“-Festivals ging, bat er Olaf Hudtwalker vom Hessischen Rundfunk, Iturraldes Adresse über den schon damals hochgerühmten Pianisten Tete Montoliu ausfindig zu machen, der regelmäßig im Madrider Jazzclub „Jamboree“ auftrat. Hudtwalker sollte Montoliu dabei gleich fragen, ob nicht auch er an einem Auftritt bei den Berliner Jazztagen interessiert sei, bei dem es um die Begegnung von Jazz und Flamenco gehe. Im Plattentext zur Original-LP „Flamenco-Jazz“ erzählt Hudtwalker: „Ich traf [Montoliu] an der Bar, entledigte mich freudestrahlend meines Auftrages – und tappte in ein nicht zu unterschätzendes Fettnäpfchen! Die Adresse von Pedro habe er Berendt gerade mitgeteilt, er würde auch gerne einmal wieder nach Berlin kommen – mit einer internationalen Jazzgruppe, denn vom Flamenco verstünde er leider nichts, da er Katalane sei.“

Flamenco und Jazz haben in ihren Ursprüngen ohne Zweifel vergleichbare Entwicklungen durchgemacht. Beide entstanden in einer Art multikultureller Gesellschaft: Im New Orleans des ausgehenden 19. Jahrhunderts trafen sich europäische und afrikanische Kulturen und durch die musikalischen Erfahrungen Lateinamerikas gebrochene Derivate beider Traditionen (jener schon erwähnte „latin tinge“). In der Kulturgeschichte des südspanischen Andalusiens, der Gegend zwischen Sevilla und Cádiz, spiegelten sich Traditionen von Zigeunern, Berbern, seraphischen Juden, Arabern, Europäern und Nordafrikanern (Mooren/Mauren). Die Entwicklung des Flamenco zur künstlerischen Reife geschah etwa parallel zu der des nordamerikanischen Blues, obwohl erste Zeugnisse dieser Musik bereits seit dem späten 18. Jahrhundert vorliegen. Erst gegen Mitte des 19. Jahrhunderts aber wurde der Flamenco popularisiert. Damals öffnete in Sevilla das erste Café cantata, dem bald viele folgten, in denen die gitanos Andalusiens sangen, spielten und tanzten. Mit seiner Popularisierung ging der Flamenco dabei improvisatorisch – also durchaus wieder dem frühen Jazz vergleichbar – auf die vielfältigen in der spanischen Folklore verwurzelten Musikstile ein: Toná, Bulería, Seguidilla, Tango, Bolero, Fandango, Malagueñas u.v.a. 

Pedro Iturralde stammt aus der nordspanischen Stadt Falces. Mitte der 60er Jahre wagte er erstmals die Fusion von Jazz und Flamenco, die seine Musik seither charakterisiert. Iturralde selbst meint, er habe eine Musik machen wollen, „die den aktuellen musikalischen Konzepten entspricht, ohne ihren spanischen Charakter zu verlieren“. Iturraldes erster Versuch solch einer Fusion entstand schon einige Monate vor dem Berliner Konzert und wurde unter dem Titel „Jazz Flamenco“ auf dem spanischen Plattenlabel HispaVox veröffentlicht. Der gerade 20-jährige andalusische Gitarrist Paco de Lucia war bereits dabei – er nannte sich nach seiner Heimatstadt „Paco de Algeciras“. Für Paco de Lucia war die Zusammenarbeit mit Pedro Iturralde der erste Ausflug in die Welt des Jazz. 

Die anderen Musiker, die Iturralde mit nach Berlin brachte, gehörten zu seiner regelmäßigen Band: Pianist Paul Grassl aus München, Schlagzeuger Peer Wyboris aus Berlin und Bassist Erich Peter aus der Schweiz. Der italienische Posaunist Dino Piana wurde eigens für den Berliner Auftritt engagiert.Zwei der Stücke („Cancion de las penas de amor“ und „Cancion del fuego fatuo“) stammen aus Manuel de Fallas Ballettmusik „El amor brujo“ von 1915. „Valeta de tu viento“ und „El Vito“ sind Eigenkompositionen Iturraldes. Iturralde wählte bewußt möglichst „neutrale“ Themen, die der Flamenco-Welt Paco de Lucias genauso nah sein sollten wie der Welt der Jazzer. Die Improvisationen basieren auf modalen Strukturen, wie sie sich auch in der Flamencomusik finden lassen. Doch keine der beiden Welten steht im Vordergrund: Anklänge an swingend-jazzige Arrangements werden immer wieder schnell ins exotische melodische Ambiente spanischer Musik überführt; die original wirkenden Flamenco-Partien Paco de Lucias werden bald durch Einwürfe des Klaviers oder der Bläser in die Welt des Jazz zurückgeholt.

***

Die Kombination einer authentischen Schweizer Volkstradition mit dem Jazz sollte dem Mitteleuropäer – so mag man glauben – vertraut klingen. Und doch ist das Ergebnis nicht minder exotisch als die Aufnahmen der „Jazz Meets the World“-Reihe mit außereuropäischer Folklore.

Wer an einem Winterabend durch die engen Gassen der Basler Altstadt geht, wird in vielen Hinterräumen von Gasthäusern die Fastnachtsgruppen beim Üben hören, wird von komplexen Rhythmen und unwirklich wirkenden Pfeifenmärsche begleitet. Die Fasnachtsgruppen proben nach ehernen Gesetzen die alten, meist im Unisono der Pfeifen bzw. Trommeln vorgetragenen Märsche. Basler Trommelmärsche haben ein festes, notierbares Ablaufbild. Die teilweise überaus schweren Marschfiguren werden von großen Trommelgruppen präzise im Unisono vorgetragen. 

Viele der ältesten Fastnachtsmärsche – beispielsweise der „Morgenstreich“, der „Römer“, der „Dreier“, der „Neapolitaner“ oder der „Walliser“ – sind militärischen Ursprungs. Anders als reines Militärtrommeln aber will der Basler Trommler nicht einfach nur den Tritt kommandieren. Er akzentuiert seine Trommelmärsche mit Akzentverlagerungen und Nuancierungen der Tonstärke, variiert die perkussiven Figuren fast zu perkussiven Melodien. 

Musiker waren von der lebendigen Tradition des Basler Trommelns immer schon beeindruckt. Der Komponist Rolf Liebermann schrieb 1959 mit seiner „Phantasie über Basler Themen“ ein Sinfoniekonzert für Basler Trommel und großes Orchester. Auch der Swing-Drummer Gene Krupa zeigte sich bei einem Besuch zur Fasnachtszeit begeistert. 

Der Jazzpianist George Gruntz schließlich sorgte für die erste Begegnung zwischen Basler Trommlern und Jazz. Anders als Pedro Iturralde wollte Gruntz die Welten der Volksmusik und die des Jazz nicht vermischen, sondern beider Eigenart bestehenlassen. Für das Konzert im Stadttheater Basel engagierte er vier namhafte Schweizer Jazzschlagzeuger, die zugleich zur ersten Garde der europäischen Drummer gehören. Zu Charly Antolini, Pierre Favre, Daniel Humair und Mani Neumeier stoßen der Trompeter Franco Ambrosetti, die damals in Europa beheimateten Amerikaner Nathan Davis und Jimmy Woode sowie George Gruntz, der als Jazzpianist und gebürtiger Basler sozusagen zwischen den Welten der afro-amerikanischen Musik und der Schweizer Folklore vermittelt.

Beim vorliegenden Konzert von 1967 beginnt die Tambouren-Gruppe um Alfred Sacher (in Basel bekannt als die „Mistkratzerli“) mit dem uralten „D’Reemer“ (Römer). George Gruntz und sein Quintett (mit Pierre Favre am Schlagzeug) folgen mit „Hightime Keepsakes“, einem Blues, dem sechs Motive aus vier Basler Märschen zugrundeliegen. In „Intercourse“ kommen die beiden Gruppen zusammen: Die Begleitung hinter den jeweils 64-taktigen Soli von Baß, Trompete und Tenorsaxophon werden je hälftig von den Basler Tambouren und vom Jazzer Charly Antolini begleitet. In der Konfrontation entsteht die Spannung dieser Arrangements: Der Basler Triolen-Marschrhythmus macht dem swingendem Jazz-3/4-Takt Platz. Für seine „Sketches for Percussion“ griff Gruntz auf alte Landskriegsmärche zurück, die er im Zusammenspiel aller Perkussionisten und in etlichen Kombinationen der Gruppen zu einer Art Concerto für Basler Tambouren und Jazz-Drummer macht. Mani Neumeier beginnt auf der Conga, gefolgt von Daniel Humair auf der Pauke. Die Tambouren werden anschließend durch Antolini und Favre an den Jazz-Schlagzeugen verstärkt. Dem ersten Tutti folgen Dialoge: Tambouren – Antolini; Tambouren – Favre; Tambouren – Humair (Pauken); Tambouren – Neumeier (Congas). Nun gibt es gemeinsam gespielte Duos: Neumeier-Favre, Antolini-Humair, Neumeier-Humair, Antolini-Favre. Am Schluß dieser wechselvollen und äußerst abwechslungsreichen Trommelpartie sind alle Perkussionisten in einem End-Tutti zu hören. Gruntz’s „Retraite Celeste“ nimmt auf das „Retraite diable“ Bezug, eines der schwierigsten Stücke der Basler Trommeltradition, das nur alle fünf oder sechs Jahre einem großen Meister nach monatelangem Proben gelingt. Gruntz setzt in seiner himmlischen Retraite verschiedenste Metren (4/8, 5/8, 4/8, 2/8) nebeneinander, wie dies nicht nur in der Schweizer Volksmusik üblich ist. Dann vermischen sich die Gruppen auf allen Ebenen: Jazz-Schlagzeuger mit den Tambouren, Jazz-Bläser mit den Basler Pfeifern. Nicht nur im Schlußstück meint man im Höreindruck das Bild auf der Bühne vor Augen zu haben: Jazzmusiker, die mit bewunderndem Respekt die Fertigkeit und lange Tradition der Volksmusiker betrachten; den Stolz der Volksmusikanten, mit den fremden Jazzern in ihrer eigenen Tradition geehrt zu werden. Um solch eine Art der Kommunikation geht es im Jazz, um das Interesse am Neuen, am Fremden, um die Lust an Risiko und Experiment – nicht zuletzt also um die offenen Ohren der Musiker wie der Zuhörer.


JAZZ MEETS AFRICA

Afrika – für den amerikanischen Jazz ein musikalischer Mythos: Ursprung des Rhythmus, Zauber dieser Musik. Im 20. Jahrhundert haben sich afro-amerikanische Musiker immer wieder auf den schwarzen Kontinent besonnen, um die Herkunft ihrer Musik zu beschwören, die magischen Komponenten, die sich bis heute in Jazz und andere schwarze Musik hinübergerettet haben. Komponisten wie William Grant Still, James P. Johnson oder Duke Ellington, Musiker wie Art Blakey, Dizzy Gillespie oder Randy Weston versuchten immer wieder, musikalischen Kontakt zu stiften zwischen den afro-amerikanischen Spielarten des Jazz, seinen mythischen Ursprüngen und der Musik des heutigen Afrikas. Bei den Komponisten handelte es sich dabei meist um eine historische Sichtweise: die Herleitung des Jazz aus afrikanischen Quellen. Blakey, Gillespie und Weston versuchten den direkten Kontakt: zum Teil mit afrikanischen Musikern, zum Teil mit musikalischen Derivaten aus Kuba und der Karibik, in denen afrikanische Wurzeln stärker präsent waren als im amerikanischen Jazz. Grundidee bei alledem: Der Jazz und die afrikanische Musik haben gemeinsame Wurzeln, sollten sich also nicht gar zu fremd sein. 

In Joachim Ernst Berendts Schallplattenreihe „Jazz Meets the World“ aus den 60er Jahren war Afrika mit zwei Produktionen vertreten. Beide stehen für durchaus unterschiedliche Seiten des Zusammentreffens der Kulturen: Billy Brooks „El Babaku“ stellt vor allem die perkussiven, rituell-beschwörenden Seiten afrikanischer Musik heraus, George Gruntz’s „Noon in Tunesia“ dokumentiert ein Treffen europäischer und amerikanischer Jazzmusiker mit stark melodisch geprägter arabischer/nordafrikanischer Beduinenmusik. 

Die Idee zu „Jazz Meets Arabia“, wie der Untertitel zu „Noon in Tunesia“ lautete, trug Gruntz seit einem Besuch in Tunesien im Jahre 1964 mit sich herum, bei dem er etliche Beispiele von Beduinenmusik aufgenommen und aufgezeichnet hatte. Die Musik Nordafrikas hat über die Jahrtausende viele Einflüsse in sich aufgenommen: Asiatische, europäische, schwarzafrikanische Momente fanden ihren Niederschlag in einer Musiktradition, die geographisch durch die Ausbreitung des Islam im Mittelmeerraum umschrieben werden könnte. George Gruntz und Joachim Ernst Berendt waren einige Wochen durch Tunesien gereist, um die besten Beduinen-Musiker ausfindig zu machen. Berendt wollte die Jazzer ursprünglich nach Tunis fliegen und die Aufnahmen dort einspielen. Doch fand sich in ganz Tunesien kein Tonstudio, das den Ansprüchen der MPS-Techniker genügt hätte, so daß stattdessen die arabischen Musiker nach Villingen kamen. Sie wurden angeführt von Salah El Mahdi, dem damaligen Musikdirektor im Kultusministerium zu Tunis, außerdem dem Verfasser der tunesischen Nationalhymne. Die Musiker spielen die Zoukra (eine Art kurze, ausgesprochen laute Oboe), das Mezoued (eine Sackpfeife und damit letztlich ein Vorläufer des schottischen Dudelsacks), die Nai (eine einfache Bambusflöte) sowie die Perkussionsinstrumente Bendire, Tabla und Darbouka. Eines der Charakteristika arabischer Musik sind ihre scheinbar endlos langen Takte, eine rhythmische Regelmäßigkeit außerhalb der uns vertrauten Taktschemata, die europäischen Ohren fremd erscheint und die Exotik auch der vorliegenden Musik kräftig unterstreicht. Arabische Musik läuft meist nach ähnlichem formalem Muster ab: Am Anfang stehen oft Unisono-Phrasen der Bläser – so wie dies auch im Bebop der Fall ist. Musikalische Abschnitte stoßen aufeinander, lösen einander ab. Es gibt keine musikalische Entwicklung, wie wir sie aus europäischer Musik oder auch dem Jazz kennen: Es gibt kein Ziel; das Wesen der Musik erklärt sich aus ihrer reichen Ornamentierung, aus den betörend wirkenden Wiederholungen. Und schließlich kennt arabische Musik, genau wie der Jazz, die Improvisation. 

Aus der Jazzwelt stammen neben George Gruntz, dessen Klavier das europäischste der anwesenden Instrumente war, Sahib Shihab, seit den frühen 60er Jahren in Europa ansässig, Jean-Luc Ponty, der die Geige für den modernen Jazz wiederentdeckte, Eberhard Weber und Daniel Humair.

Die Kompositionen von George Gruntz basieren auf traditionellen Beduinen-Melodien. Die Jazzmusiker passen sich bei ihren Interpretationen meist der Atmosphäre der Beduinenmusiker an. Die Araber geben die Stimmung vor, die Jazzmusiker reagieren. Die Begegnung beginnt in Gruntz’s „Maghreb Cantata“ mit „Is Tikhbar“, dem gegenseitigen Kennenlernen der Musiker. Am deutlichsten wird Kontrast und Vermittlung zwischen den Welten von Beduinen- und Jazzmusikern vielleicht in „Buanuara“, in dem die Mezoued die Melodie beginnt – die Pfeifen reibungsvoll ungenau aufeinander abgestimmt –, abgelöst durch ein swingendes Jazzthema, auf das Improvisationen von Klavier und Geige folgen. Jelloul Osmans Mezoued-Solo paßt sich ohne Bruch ins musikalische Geschehen ein, die musikalischen Welten wechseln unmerklich, nehmen aufeinander Bezug, gehen ineinander über. Am Schluß erklingt „Nemeit“, das „Lied der Einsamkeit“, das auf die in der nordafrikanischen Welt als „musique andalouse“ bezeichnete klassische Musik Tunesiens Bezug nimmt, die üblicherweise von großen Chören und Orchestern interpretiert wird. 

Joachim Ernst Berendts Plattentext zur Originalveröffentlichung dieser Aufnahmen schließt so eindringlich mit einer Beschwörung kultureller Begegnung, daß man ihn am besten wortwörtlich zitieren sollte: „Es war ‚Night in Tunesia‘, in jedem Sinn, als Dizzy Gillespie in der Mitte der 40er Jahre sein berühmtes Jazzthema komponierte – ‚Nacht in Tunesien‘, in dem von Rommels Afrika-Korps eroberten und von den Alliierten rückeroberten Land, das einer kolonialen Zukunft entgegensah und dessen Freiheitskämpfer in französische Gefängnisse gesteckt wurden. Jetzt ist es ‚Noon‘!“

***

„El Babaku“ betrachtet Afrika von einer anderen Seite. Der wichtigste Unterschied zum Zusammentreffen von George Gruntz und Beduinenmusikern besteht vielleicht darin, daß der Schlagzeuger Billy Brooks keine Begegnung amerikanischer mit afrikanischen Musikern auf die Bühne bringt. Seine Musik ist vielmehr der Versuch einer Rückbesinnung auf Elemente afrikanischer Musik, die Brooks in Nordamerika verloren glaubt. 

Billy Brooks stammt aus New Jersey und nennt als Einflüsse die afro-kubanische Musik eines Machito, den Blues und Soul eines Ray Charles oder Otis Redding, den Jazz eines Charlie Parker. Brooks selbst arbeitete unter anderem mit Woody Shaw, Larry Young und Eddie Harris. An der afrikanischen Musik fasziniert ihn die kollektive Perkussion. In ihr sieht Brooks musikalische und geistige Ekstase, Religiosität, menschliche Solidarität. Und die repetitiven Momente des afrikanischen Schlagzeugspiels sind für Brooks zugleich Zeichen eines anderen Denksystems: „Wiederholung meint niemals dieselbe Sache. Die Zeit geht weiter – 2 Sekunden oder 15 Sekunden oder eine Minute oder zwei Stunden später, also kann es nicht mehr dasselbe sein. Wiederholung macht eine Sache wahr.“

Wiederholung spielt denn auch in der Musik von „El Babaku“ eine wichtige Rolle. Für das Konzert in der Berliner Jazz Galerie hat Billy Brooks traditionelle nigerianische Stücke gemischt mit kubanischen Elementen und eigenen Nummern. Die Synthese wird vielleicht in „Al Hajj Malik Al Shabbazz“ am deutlichsten, einer Art Totengesang für Malcolm X – der Titel des Stücks ist zugleich der islamische Name des 1965 ermordeten schwarzen Führers. Über dem Bourdon des Kontrabasses erklingt die Klage über den Tod Malcolm X’s mit dem beschwörenden Refrain „Now he’s gone, gone, gone…“. Beantwortet wird diese Klage vom Chor der Mitmusiker, von Trommeleinwürfen, dazwischen eine einfache Flötenmelodie gespielt von Billy Brooks – kein virtuoses Solo, sondern Melodieführung der Perkussion. Der traditionelle nigerianische „Lament“ ist ein Trauerlied, in dem Formen ritueller Beschwörung afrikanischer wie religiöser afro-amerikanischer Traditionen durchscheinen. Die karibisch-kubanische Seite kommt im mitreißenden „El Lupe Changó“ zum Tragen, einem Lied über den „guten Changó“, den Gottvater schwarzer Kulturen in Brasilien, der Karibik oder Westafrika. „El Lupe Changó“ wird übrigens von Carlos Santa Cruz gesungen, einem persönlichen Schüler des großen Chano Pozo, der in den 40er Jahren Dizzy Gillespie auf den rechten kubanischen Weg brachte. Auch im Titelsong „El Babaku“ schließlich stehen sich vokale Ruf- und Antwortphrasen und sich miteinander verwebende rhythmische Linien gegenüber, sorgen die beschwörende Wiederholung der rhythmischen Formeln und der entspannte Drive für eine Musik, bei der weniger die Herkunft der Musiker aus Jazz, Blues, kubanischer oder afrikanischer Musik im Vordergrund stehen als vielmehr ein rituell-heilendes Gemeinschaftsgefühl, das Billy Brooks als den Kern afrikanischer Musik ansieht.Fazit beider auf dieser CD dokumentierten Produktionen ist die Erkenntnis, das beim Aufeinandertreffen Europas/Amerikas und Afrikas durchaus Begegnungen mit einem hohen Verschmelzungsgrad der unterschiedlichen musikalischen Traditionen möglich sind. Afrikanische Musik fasziniert jeden, der sie einmal gehört hat, durch ihre der westlichen Welt so fremd gewordene mitreißende Kraft. Kraft und Hingabe, sagt Billy Brooks, seien die Charaktereigenschaften Afrikas, Fortschrittsgläubigkeit die Europas und der westlichen Welt. George Gruntz und Billy Brooks zeigen auf ganz unterschiedliche Weise, wie die beiden Welten voneinander lernen können.

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Books 2024

Jazz Radio America
von Aaron J. Johnson 
Urbana/IL 2024 (University of Illinois Press)
312 Seiten, 29,95 US-Dollar
ISBN: 978-0-252-08830-8

In Jazz Radio America befasst sich Aaron J. Johnson mit der Geschichte der Programmierung von Jazz im kommerziellen wie im nichtkommerziellen Rundfunk der Vereinigten Staaten. Er beleuchtet am Rande die Zeit zwischen 1926 und 1952, als die großen Radio-Netzwerke dominierten, die ein riesiges nationales Publikum erreichten, vor allem aber die Zeit danach, in der vor allem lokale oder auf eine spezifische Hörerschaft gezielte Sender das Bild bestimmten. Seine Arbeit handelt von der Beziehung zwischen Künstler:innen, Förderer:innen, Institutionen, Hörer:innen und anderen, die dazu beitragen, dass Jazz im Radio präsentiert wird. Sie untersucht, welche Arten von Jazz gesendet werden und welche Auswirkungen die Rundfunkpräsenz auf die Arbeit von Musiker:innen hat. 

Er beschreibt die unterschiedlichen Arten von Jazzprogrammen im nicht-kommerziellen US-amerikanischen Rundfunk und diskutiert, wieso das Genre immer weniger Unterstützung bei Sendern findet, die finanziell von ihren Hörern getragen werden. Er erklärt, wie das Pendant zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk, also die Anfang der 1970er Jahre gegründeten Public Radio Stations der USA, durch die Qualität ihrer Berichterstattung und Kulturprogrammarbeit so erfolgreich wurden, dass sie immer mehr Programm generieren mussten, was dazu führte, dass sie sich Berater suchten, die allerdings letztlich empfahlen, sich an Propgrammentscheidungen des kommerziellen Rundfunks zu orientieren. 

Johnson fragt aber auch nach den Personen hinter den Sendern, den Besitzern, Managern, Redakteuren also. Zahlreiche Public Radio Stations entstanden im Umfeld von Bildungs- oder Kultureinrichtungen und spiegeln deren Erwartungen oder kulturelle Haltung wider. Daneben gibt es Sender, die aus der Community erwuchsen und damit oft aus einer progressiven politischen Haltung heraus. Anhang konkreter Beispiele erklärt Johnson, inwiefern sich diese Haltung auch in der Programmphilosophie der Sender wiederfindet. Nebenbei diskutiert er auch die Rolle und den Einfluss von Jazz-DJs über die Jahre, Moderatoren, die einerseits über aktuelle Entwicklungen berichteten, sich dabei anderseits deutlich von eigenen persönlichen Vorlieben leiten ließen. 

Für europäische Leser:innen bräuchte Johnsons Studie oft Übersetzungshilfe – zu verschieden sind die Strukturen und Aufgaben insbesondere des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern von denen eines privat oder durch Mitglieder finanzierten Systems wie in den USA. Tatsächlich kommt der einzige voll staatlich finanzierte US-amerikanische Sender, die Voice of America, in Johnsons Buch nur am Rande vor, sicher auch deshalb, weil er vor allem ins Ausland strahlte und im eigenen Land kaum zu hören war. 

Johnson endet mit einem Ausblick auf die Zukunft. Im kommerziellen Radio sei Jazz, von Ausnahmen abgesehen, nicht mehr zu hören. Tatsächlich habe sich mit der Digitalisierung des Lebens auch die Hörgewohnheit des Publikums verändert, dem im Prinzip egal sei, aus welcher Quelle die Musik kommt, die es rezipiert. Von seinen eigenen Studierenden wisse er, schreibt Johnson, dass angesichts der Angebotsvielfalt zwischen Spotify, Deezer, Apple Music oder Tidal kaum jemand in der jungen Generation noch eine klare Vorstellung davon hat, was „Radio“ eigentlich überhaupt bedeutet. Die Zukunft von Jazz im Internet, mutmaßt er, hängt davon ab, wie sich das Internet weiterentwickelt. Grundsätzlich biete das Web Musiker:innen die Möglichkeit, ein breiteres Publikum zu erreichen, sogar direkt anzusprechen. Es bleibe abzuwarten, inwieweit die bereits bestehenden Machtstrukturen in Bezug auf Musik (Spotify, Apple Music etc.) andere als die bislang existierenden Album- oder Playlist-basierten Programme entwickeln oder ob vielleicht gerade Nischengenres wie der Jazz dazu in der Lage sind, eigene Wege zum Kuratieren eines spannenden Programms zu gehen.

Wolfram Knauer (Januar 2025)


The Jazz Omnibus. 21st-Century Photos and Writings by Members of the Jazz Journalists Association
Herausgegeben von David R. Adler (ed.): 
Torrance/CA 2024 (Cymbal Press)
586 Seiten, 39,95 US-Dollar
ISBN: 978-1-955604-18-5

Sammelbände gehören nicht unbedingt zu meiner Lieblingslektüre. Wenn ich ein Buch zur Hand nehme, will ich nach Möglichkeit eine Geschichte lesen, aus einer Perpektive geschrieben, über ein spezielles Thema. Wenn überhaupt, dann nehme ich Sammelbände einzelner Autoren zur Hand (Whitney Balliett etwa oder Dan Morgenstern), Sammelbände über einen einzelnen Musiker (mit Essays beispielsweise über Duke Ellington oder Charlie Parker), Sammelbände in denen Perspektiven über ein Thema entwickelt werden (da gibt es diverse Oxford oder Cambridge Companions, aber auch die Darmstädter Beiträge gehören dazu, wenn ich auch gleich dazu anmerke, dass ich als ehemaliger Herausgeber dieser Reihe da etwas parteiisch bin). 

Von daher war meine erste Reaktion auf den „Jazz Omnibus“ (letzteres Wort steht im Englischen übrigens für Sammelwerke) ein wenig abwehrend. Wer will Beiträge von etwa 90 Autor:innen und Fotograf:innen lesen / betrachten, die jeder für sich stehen und kaum aufeinander Bezug nehmen. Dann aber hat David R. Adler (der übrigens ab 2025 die dann wiederaufstehende Zeitschrift Jazz Times als Herausgeber betreuen wird) den geschickten Schachzug getan, einen herausragenden Essay gleich an den Anfang zu stellen: Ted Pankens Feature und Interview mit Sonny Rollins, das den Saxophonisten als Musiker und Kollegen, als Bandleader und Zeitzeugen vorstellt, ursprünglich erschienen im Down Beat vom Dezember 2007. Damit sind wir dann auch gleich beim Konzept. Adler hatte im Auftrag der Jazz Journalists‘ Association Mitglieder dieses Vereins gebeten, bis zu drei Vorschläge für eigene Artikel einzureichen, aus der dann das Herausgeberteam je einen aussuchte. Einzige Vorgabe war, dass die Originalveröffentlichung in den 2000er Jahren stattgefunden haben musste. Keines der Kapitel ist also *neu*, sie stammen aus den Jahren 2004 bis 2023, wurden erstveröffentlicht in den großen Jazzzeitschriften (Down BeatJazz Times), in Tageszeitungen wie der New York Times oder dem Wall Street Journal, in Büchern oder auf Web-Blogs. Adler warnt gleich im Vorwort, dies sei kein umfassender Blick auf den Jazz des 20sten Jahrhunderts. Und Howard Mandel verweist in seiner Einleitung auf die vielen Themen, die hier überhaupt nicht angesprochen werden und macht dabei gleich eine Liste auf für mögliche künftige Folge-Bände. 

Natürlich hatte auch ich sofort eine „Mängelliste“ im Blick. Aus dem Inhaltsverzeichnis wurde schnell klar, dass der Jazz außerhalb der USA kaum vorkommt (von einem Kapitel über Jazzunterricht an einer japanischen High School mal abgesehen). 14 von 70 Autor:innen und 4 von 19 Fotograf:innen sind Frauen; immerhin ein wahrscheinlich realistisches Abbild der aktuellen Situation im amerikanischen Jazz-Journalismus. Und 17 der Beiträge befassen sich mit Musikerinnen oder Fragen um Geschlechtergerechtigkeit im Jazz. 

Die Herausgeber haben das Buch in sechs Themenbereiche aufgegliedert. Unter „Legends“ findet sich das bereits erwähnte Feature über Sonny Rollins, ein Gespräch das Michael Jackson 2023 mit Keith Jarrett führte, Jordannah Elizabeths Portrait der Pianistin Amina Claudine Myers, Nate Chinens Würdigung Sun Ras, Bob Blumenthals Plattentext für die Wiederveröffentlichung von Wayne Shorters „Night Dreamer“, ein Kapitel aus Stephanie Stein Creases Buch über Chick Webb, Bill Milkowskis Artikel über John Zorn zum 60sten Geburtstag des Saxophonisten, sowie Doug Halls Gespräch mit Wynton Marsalis. 

Unter „Seekers“ lesen wor Andy Seniors Besprechung eines Konzerts Cécile McLorin Salvants, Andrea Canters Rezension des Albums „Smash“ von Patricia Barber, David Adlers Portrait der Sängerin und Bassistin Meshell Ndegeocello, Debbie Burkes Gespräch mit der jüdischen Sängerin Hadar Orshalimy, Matty Bannonds Feature über die Saxophonistin Zoh Amba, Martin Johnsons Rezension von „The Last Quiet Place“ von Ingrid Laubrock, Sanford Josephsons Gespräch mit dem Pianisten Isaiah J. Thompson, Rick Mitchells Bericht über Kendrick Scotts „The Sugarland 95“-Projekt, sowie Rob Shepherds Interview mit Mary Halvorson. 

Unter „Scenes“ berichtet Tom Ineck über eine Jazz-Kreuzfahrt in die Karibik und Rahsaan Clark Morris über die Vielzahl an Konzerten an einem Wochenende in Chicago, erinnert Dan Bilawsky an den legendären New Yorker Club Bradley’s und Con Chapman an das Bostoner Restaurant „Mother’s Lunch“, dokumentiert David Keller die Frauen in der schwarzen Musikergewerkschaft von Seattle in der ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, hört Dee Dee McNeil ein Livealbum der Organistin Shirley Scott, betont Jason Berry die Bedeutung Henry Butlers für die Tradition des New Orleans-Klavierspiels, erinnert Paul de Barros an das New Orleans-Jazzfestival im Jahr nach Hurricane Katrina, verweist Lynn Darroch auf die lebendige Jazzszene in Portland, Oregon, stellt Paul Rauch das Seattle Jazz Fellowship vor, erinnert sich Howard Mandel an eine Geburtstagsparty für Ornette Coleman, und weist Willard Jenkins in der Einleitung seines Buchs zum selben Thema auf afro-amerikanische Journalisten im Jazzbusiness hin.

Unter „Sounds“ erinnert Hrayr Attarian an Blind Tom, hört Greg Masters Miles Davis‘ „Cellar Door Sessions“ von 1970 und Chuck Koton Marcus Millers „Live in Monte Carlo“, erinnert sich Pianist Leslie Pintchik an den Zauber eines eigenen Gigs, liest Marcela Bretons Paul Haines‘ Buch „Secret Carnival Workers“, teilt Mike Longo Erinnerungen an seine Zeit mit Dizzy Gillespie, beschreibt Mike Shanley einen Besuch um Büro des Labels ESP-Disk‘, verweist Greg Burk auf die Beziehung zwischen Musik und Videospielen, unterhält sich Philip Booth mit John Pattitucci und Jeff Berlin über den elektrischen Bass im akustischen Jazz, entdeckt Geoffrey Himes die Vielfalt der Bassklarinette und Ellen Johnson die Vokalmusik Charles Mingus‘, während Michael Ambrosino seine Linernotes zu John Santos‘ Album „Art of the Descarga“ teilt.

„The World“ ist der Abschnitt überschrieben, in dem Michael Pronko über das Jazzprogramm an der Hitorizawa High School im japanischen Kanagawa berichtet, Virginia A. Schaefer Satoko Fujii und Natsuki Tamura im Konzert hört, Larry Blumenfeld mit Arturo O’Farrill über seinen Vater, den kubanischen Komponisten Chico O’Farrill, spricht, Mirian Arbalejo ihre eigene Rolle als Jazzjournalistin in Spanien reflektiert, Jeff Cebulski die Karriere der rumänischen Pianistin Ramona Horvath verfolgt, Ashley Kahn mit in Europa lebenden amerikanischen Musikern spricht, Andrew Gilbert israelische Musiker in New York befragt, Vid Jeraj ein Festival im serbischen Kanjiža besucht, Dan Ouellette die Aktivitäten Shabaka Hutchings beleuchtet, und Don Palmer die Musikszene in Dar Es Salaam, Tanzania, erkundet. 

Der letzte Abschnitt ist mit „Remembered“ überschrieben. Art Lange hört die Box „Albert Ayler: Holy Ghost“, Peter Gerler liest Stanley Crouchs „Kansas City Lightning. The Rise and Times of Charlie Parker“, Suzanne Lorge spricht mit Steve Swallow über Carla Bley, Ted Gioia fragt, ob Amy Winehouse eine Jazzsängerin gewesen sei, Neil Tesser erinnert an Von Freeman, Deanna Witkowski schreibt über die liturgische Musik Mary Lou Williams‘, Eugene Marlow errinnert sich an Bill Evans, der in den 1960er Jahren direkt neben ihm wohnte, James Hale würdigt Andrew Hill, Michael J. West erzählt über die Gitarristin Emily Remler, Tomás Peña stellt die frühe Geigerin und Sängerin Angelina Rivera vor, Mark Stryker würdigt Barry Harris‘ Einfluss auf die Detroiter Jazzszene, John Edward Hasse steuert seinen Nachruf auf David Baker bei, John Murph erzählt die Geschichte des Produzenten Dr. George Butler und Devra Hall Levy die des Pianisten Gerald Wiggins, Corey Hall besucht eine Ausstellung zu Ehren des Bassisten Harrison Bankhead, und Peter Keepnews erinnert an George Wein.

Es ist also wirklich ein Sammelsurium, ein „Omnibus“ voller Geschichten, Erinnerungen, Interviews, Reflektionen. Wer wissen will, was genau die aktuelle Szene ausmacht, sollte entweder selbst in Konzerte gehen oder zumindest die aktuellen Jazzzeitschriften durchblättern. Wer wissen will, wwas die Themen der letzten 20 Jahre im Jazz waren, dem hilft David R. Adlers „Jazz Omnibus“, weil er genau auf diese Art und Weise auf die letzten zwanzig Jahre zurückblickt, mit einem selektiven Blick in die (amerikanischen) Zeitschriften. Die meisten der Autor:innen sind gute Schreiber, die Lektüre also durchaus kurzweilig. Am Ende der fast über 500 Seiten mögen vielleicht immer noch die eine Geschichte, die eine Perspektive, das eineThema fehlen; die Vielzahl an Sichtweisen erlaubt aber eine Art kuratierten Blick in den amerikanischen Jazzjournalismus dieser Zeit. 

Wolfram Knauer (Dezember 2024)


Early Jazz. A Concise Introduction from Its Beginnings through 1929
Fumi Tomato
Albany 2024 (State University of New York Press)
232 Seiten, 33,95 US-$
ISBN: 978-1-4384-9637-5

Early Jazz, der frühe Jazz also, schreibt Fumi Tomita in seinem Vorwort, sei der für heutige Hörer:innen vielleicht fremdeste Stil der Jazzgeschichte, zugleich sei er gerade deshalb faszinierend, weil man Aufnahme für Aufnahme nachvollziehen könne, wie sich die Musik und ihr ästhetischer Kontext veränderten. Im Vorwort erklärt Tomita das Konzept seines Buchs: Er wolle Gunther Schullers 1968 veröffentlichtes Early Jazz auf den neuesten Stand bringen, es ergänzen und dabei die Forschung der letzten 50 Jahre mit einbeziehen. Wo Schuller Jazz vor allem als eine Kunstform verstanden wissen wollte, schreibt Tomita, sei sein eigenes Anliegen breiter, berücksichtige sowohl die künstlerische als auch die kommerzielle Seite der Musik. Dieser Ansatz erlaube ihm, auch Künstler:innen zu berücksichtigen, die sonst kaum in den Fokus der Jazzgeschichtsschreibung rückten. Viele der renommiertesten Musiker:innen hätten etwa ihr Einkommen immer schon durch kommerzielle Gigs ergänzt, Gigs, die allerdings selten unter den Genrebegriff Jazz fielen. 

Tomita teilt sein Buch in Groß- und Kleinkapitel auf. Die Großkapitel befassen sich mit „Ragtime and Traveling Shows“, „The Blues“, „New Orleans and Early White Bands“, King Oliver and Jelly Roll Morton“, „The New York Scene: The Small Groups“; „Stride Piano“; „The New York Dance Band Sound: From James Reese Europe to Duke Ellington“; „Louis Armstrong“; „The Chicagoans and Bix Beiderbecke“; „Other Pioneering Soloists“; „Territory and Other Bands“; „Vocal Jazz“; „Jazz around the World“. Die Kleinkapitel darin umfassen zwischen einer und drei Seiten und versuchen unterschiedliche Aspekte zumindest schlaglichtartig zu beleuchten. 

Während Schullers Buch eine Art akademische Aufarbeitung der frühen Jazzgeschichte in ihrer Gesamtheit versuchte, einschließlich technischer Hinweise auf musikalische Besonderheiten oder Vermutungen über ästhetische Entscheidungen, liest sich Tomitas Early Jazz eher wie ein „text book“, ein Buch für Studierende, in dem die Entwicklung des Genres kontextualisiert und auf unterschiedlichste Einflüsse hingewiesen wird. Das macht er knapp, konzis, mit Hinweisen auf konkrete Aufnahmen, die sich im Internet suchen lassen. Statt Notenbeispielen, wie sie Schuller bevorzugte, hat Tomita sich für Hörcharts entschieden, also tabellarischen Verlaufsbeschreibungen, die das Ohr seiner Leser:innen auf die Form oder auf besondere musikalische Ereignisse in den Aufnahmen lenken sollen. In kurzen Kapiteln stellt er einzelne Künstler:innen heraus, fokussiert dabei nicht so sehr auf biographische, stattdessen vor allem auf musikalische Aspekte ihrer Karriere. Wo Schuller allerdings versuchte, möglichst alle Perspektiven der musikalischen Persönlichkeit mithilfe von Beispielen zu beleuchten, beschränkt Tomita sich auf ausgewählte Stücke, ein, höchstens zwei Titel pro Musiker, die er eingehender beschreibt. 

Eines der ungewöhnlicheren Unterkapitel ist vielleicht das über „‚Gaspipe‘ Clarinet“, Novelty-Klarinettisten also, die auf ihren Instrumenten seltsam-zirzensische Töne hervorbrachten und die von den meisten Jazzautoren kaum beachten wurden. Novelty-Spielweisen und Novelty-Instrumente seien in der Frühzeit des Jazz durchaus üblich gewesen, erklärt Tomita und hält es für wichtig sich solcher Aspekte genauso bewusst zu sein wie beispielsweise des Diskurses um Jazz als „ernsthafte“ Kunstmusik, wie er sich in Paul Whitemans „Experiment in Modern Music“-Konzert widerspiegele. Auch auf die Bedeutung von Musikerinnen weist Tomita hin, benennt Bluessängerinnen, bekanntere Künstlerinnen wie Lil Hardin oder Lovie Austin, aber auch die zu Beginn des 20sten Jahrhunderts populären, in der Aufnahmegeschichte des Jazz aber kaum präsenten All-Female Bands. Ein abschließendes Kapitel überschreibt er „Jazz around the World“, meint damit aber einzig den Jazzexport US-amerikanischer Musiker:innen nach Europa und Asien.

Alles in allem ist Tomitas Buch gut geeignet als „text book“, als Begleitung zum Beispiel für einen Kurs über frühen Jazz. In der Kürze des Platzes gelingt es Tomita Zusammenhänge zu erklären und auf unterschiedliche Perspektiven aufmerksam zu machen. Wünschenswert wäre ein Anhang, der zu einer tieferen Beschäftigung mit einzelnen dieser Perspektiven einladen würde. Den Vergleich mit Schullers Early Jazz hätte Tomita nicht bemühen müssen; Schullers Buch bleibt bei allen Mängeln ein Standardwerk zum Thema. Tomitas Buch allerdings bietet zugänglichere Erklärungen über Kontexte der musikalischen Entwicklung und eignet sich damit besser für den schnellen Überblick.

Wolfram Knauer (August 2024)

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Books 2025

A Tone Parallel to Duke Ellington. The Man in the Music
von Jack Chambers

Jackson, Mississippi 2025 (University Press of Mississippi)
274 Seiten, 30 US-Dollar
ISBN: 9781496855749

Noch ein Buch über Duke Ellington? Nun, Jack Chambers, der unter anderem als Autor eines zweibändigen Werks über Miles Davis bekannt ist, nähert sich der Jazzlegende von einer anderen als der üblichen Seite. Er schreibt keine Biographie, sondern identifiziert konkrete „Themen“, wie er sie nennt, die er dann durch das gesamte Werk Ellingtons verfolgt. Und tatsächlich gelingt es ihm damit sowohl, dem Ellington-Kenner neue Perspektiven anzubieten, als auch den Ellington-Novizen auf die Musik neugierig zu machen. 

Gleich das erste Stichwort, „Harlem“, macht den Ansatz klar. Chambers diskutiert die unterschiedlichen Stücke, die Ellington zwischen 1927 und 1970 dem New Yorker Stadtteil widmete, erläutert nebenbei die Bedeutung Harlems für die afroamerikanische Kultur und Ellingtons eigene Verwurzelung dort seit Cotton Club-Tagen. Seine Erörterungen zu Titeln wie „A Night in Harlem“, „Harlem River Quiver“, „Jungle Nights in Harlem“, „Drop Me Off in Harlem“, „The Boys from Harlem“, „Echoes of Harlem“, „Harlem Flat Blues“, „Harlem Air Shaft“ und „A Tone Parallel to Harlem“ sind keine analytischen Beschreibungen, sondern geben Kontext und vermitteln dabei auch die musikalische Atmosphäre der Stücke.

Auch das zweite Stichwort ist eines, das sich durch Ellingtons Aufnahmen schlängelt: diie Zugmetapher. Von 1923 bis etwa 1948 habe der Duke die meisten seiner Reisen mit der Eisenbahn unternommen, erläutert Chambers, er habe diese Art des Reisens genossen, bei der einen niemand antreibe, bis man aussteigt. Und er schrieb zahlreiche Stücke, in denen sich der Sound der Züge wiederfindet und von denen Chambers „Choo Choo (Gotta Hurry Home)“, „Lightnin'“, „Daybreak Express“, Billy Strayhorns „Take the A Train“ sowie „Happy-Go-Lucky Local“ näher beleuchtet – letzteres wurde unter dem Titel „Night Train“ zu einem Hit für Jimmy Forrest.

Der erste Teil schließt mit Statements von Autoren aus den USA, England, Senegal und Indien über ihre jeweils erste Begegnung mit Ellingtons Musik. 

Im zweiten Block geht es um instrumentale Fertigkeiten, und hier widmet sich Chambers zuerst der Bedeutung Ellingtons als Pianist. Er beschreibt seine Meisterschaft im Stride Piano, den stilistischen Wandel in der Swingära, als er mit Jimmie Blanton einen kongenialen Kontrabassisten zur Seite hatte, seine Features fürs Klavier, den Einfluss impressionistischer Komponisten, seine Experimentierlust in „Money Jungle“, seine seltenen Solo- bzw. Trioauftritte. Was er nicht beschreibt, ist zum Beispiel, wie Ellington Obertöne aus dem Flügel kitzelt, sie nachklingen lässt und damit einen eigenen Pianosound schafft.

Ein weiteres Kapitel widmet sich dem Einsatz der textlosen Stimme in Ellingtons Œuvre, von „Creole Love Call“ mit Adelaide Hall über „Transblucency“ mit Kay Davis, „Blue Rose“ mit Rosemary Clooney bis zu „T.G.T.T.“ aus dem zweiten Sacred Concert mit Alice Babs. Chambers beschreibt aber auch die Rolle des textierten Gesangs in Ellingtons Musik und diskutiert dabei Sänger:innen wie Ivie Anderson, Joya Sherrill und Herb Jeffries, um schließlich einen der Songhits des Duke herauszugreifen, „Solitude“, den er sich in Ellingtons Interpretation anhört, aber auch in Aufnahmen durch Louis Armstrong oder Billie Holiday. Und er erzählt die Geschichte von Strayhorns „Lush Life“ sowie den Hintergrund eines Albums, das Ellington 1958 mit Mahalia Jackson aufnahm.

Der zweite Teil des Buchs schließt mit Statements von Percy Grainger, Hoagy Carmichael, Constant Lambert, André Previn, Miles Davis, Gunther Schuller und Wynton Marsalis.

Unter den Musikern seines Orchesters fokussiert sich Chambers vor allem auf zwei: Billy Strayhorn und Johnny Hodges, deren jeweilige musikalische Besonderheit er anhand Aufnahmen wie „Day Dream“, „Passion Flower“ und „The Star-Crossed Lovers“ aus „Such Sweet Thunder“ diskutiert.

Ellington wirkte seit 1927 regelmäßig in Filmen mit, mal on-screen, mal als Filmkomponist (oft in beiden Rollen). Chambers‘ Kapitel „Accidental Suites“ fokusiert vor allem auf spätere Filme, „Anatomy of a Murder“ (1959), „Paris Blues“ (1961), „Assault on a Queen (1966) und „Change of Mind“ (1969), und resümiert, einige dieser Filmmusiken seien gar nicht so unterschiedlich von den Suiten, die Ellington seit den 1930er Jahren regelmäßig komponierte.

Über die Jahre bereiste der Duke alle Kontinente und ließ sich vom Erlebten und Gehörten für seine eigene Musik inspirieren. Chambers diskutiert einzelne Sätze aus der „Far East Suite“, mit der Ellingtons auf seine Reise fürs State Department durch den Nahen und Mittleren Osten reagierte, und betont, dass es dem Duke nie um einen direkten Einfluss gegangen sei, also quasi ums Nachspielen von Klängen, die er auf Reisen hörte, sondern immer um, wie Ellington selbst es scherzhaft nannte, ein „genuine original synthetic hybrid“. Chambers beleuchtet außerdem „Afro-Eurasian Eclipse“, eine durch Marshall McLuhans Schriften beeinflusste Suite, sowie die „Togo Brava Suite“, die Ellington als Dank für eine Briefmarke geschrieben habe, mit der ihn die Republik Togo geehrt hatte. Einen Schlenker macht er hier aber auch zu Ellingtons Faszination mit neuen Sounds, erzählt, wie Norris Turneys 1969 Johnny Hodges im Saxophonsatz ersetzt habe, ein Musiker, der alle Holzblasinstrumente beherrschte, so dass der Duke ihn schon mal mit dem Tenor in den Posaunensatz setzte, als dort eine Stimme fehlte. Vor allem aber ermunterte Turney ihn, den Sound der Querflöte als zusätzliche Klangfarbe zu nutzen.

Auch auf diesen Block folgen Statements zu Ellington, diesmal von Dichtern wie Blaise Cendrars, Boris Vian, Philip Larkin, Judy Collins und Maya Angelou. 

Der letzte – und gewichtigste – Block gilt Ellington, dem Komponisten von ausgedehnten Werken. Chambers beginnt mit einem Kapitel über „Such Sweet Thunder“, Ellingtons zwölfsätzige Annäherung an das Werk William Shakespeares, das Chambers 1957 zuerst gehört, aber in dem er erst später, als er Literatur studierte, entdeckte habe, wie sehr die Stimmung der Musik den dargestellten Charakteren entspicht. Ellington habe sich ausführlich mit den Dramen und Sonetten Shakespeares auseinandergesetzt, schreibt Chambers, und auch Billy Strayhorn, der Ko-Komponist der Suite, habe sich beim Stratford Shakespearean Festival, für welches das Werk geschrieben wurde, auf Augenhöhe mit Kennern des Barden unterhalten können. Chambers diskutiert die kritische Rezeption nach dem Release der Platte, geht auf Rezensionen ein, die Ellington vorwarfen, er habe sich da vielleicht etwas überhoben, nur um gleich darauf im Einzelnen zu zeigen, auf welche Szenen und Sonette sich die zwölf Sätze beziehen und wie die Musik zu ihnen in Beziehung steht. Schließlich diskutiert er noch die unterschiedliche Reihenfolge, in der die Band die einzelnen Sätze in Stratford, bei einem weiteren Konzert in der New Yorker Town Hall sowie auf der veröffentlichten Schallplatte spielten; danach übrigens nie wieder, jedenfalls nicht im vollen Zusammenhang. 

1970 nahm Ellington den Auftrag an, eine Komposition für eine Choreographie Alvin Aileys zu schreiben, „The River“, die musikalisch den Verlauf eines Flusses von der Quelle bis zur Mündung nachbilden sollte. Die Skizzen entstanden größtenteils, während Ellington auf Tour war; von Zeit zu Zeit schickte er sie an den kanadischen Komponisten Ron Collier, dem er relativ freie Hand dabei ließ, sie für Sinfonieorchester einzurichten. Das Kapitel über „The River“ ist vielleicht das munterste im Buch, mit Details über die Hektik des Tourneelebens und die Schwierigkeit, Ellingtons ungewöhnlichen Tagesablauf mit der Organisation eines solchen Großprojekts in Einklang zu bringen. Es ging schon los damit, dass Ailey konkrete Vorstellungen hatte, als er mit dem Duke nach einem Konzert zum ersten Mal über das Ballett sprach, dass der aber ganz andere Ideen hatte, die er Ailey auf einem elektrischen Klavier in seinem Hotelzimmer vorspielte. Wochen später traf Ailey ihn in Toronto wieder, wo er Ellington „in einem Zimmer voller sechzigjähriger Damen fand, wahrscheinlich Kanadierinnen, die er ‚Girls‘ nannte, und die ihn bewunderten.“ Nach einer Weile klagte Ailey, die Sketche, Ideen, Themen, die Ellington ihm schicke, reichten nicht, er brauche eine komplette Partitur, worauf der Duke antwortete: „Hör mal zu, wenn du dir weniger Sorgen über die Musik machen und stattdessen deine Choreographie angehen würdest, würde es uns allen besser gehen.“ Tatsächlich wurden nicht alle Sätze rechtzeitig fertig, so dass von den ursprünglich geplanten elf (plus Reprise) nur sieben zur Aufführung kamen. Symptomatisch: Die Premiere, gefeiert von Publikum wie Kritik, verpasste der Duke, weil er einen One-Nighter in Chicago spielte. 

Den Suiten, und zwar insbesondere denen des späten Ellington, gilt in diesem Buch offenbar das größte Augenmerk Chambers‘. Im letzten Kapitel klagt er, trotz all seines Erfolgs habe Ellington zu Lebzeiten nie die künstlerische Anerkennung erhalten, die er verdient habe. Der Grund: Er sei vielleicht eloquent gewesen, zugleich aber ein viel zu bescheidener Advokat in eigener Sache. Und dann diskutiert Chambers das Thema von verschiedenen Seiten: den Erfolg seiner populären Songs, das Missverständnis gegenüber den Suiten, die Rolle des Showman, der dem Publikum gibt, was es will. Er berichtet von einer Begebenheit in Paris, die ein Schlaglicht darauf wirkt, wie Ellington sich selbst und seinen Erfolg beim Publikum wahrgenommen haben mag: Nach einem Konzert, es war 1950, in dem unter anderem seine „Liberian Suite“ erklungen war, kommentierte ein Fan: „Mr. Ellington, wir sind gekommen um Ellington zu hören. Das ist nicht Ellington!“ Danach, erinnert sich der Duke, „mussten wir alle Programmhefte zerreißen und bis weit vor das Jahr 1939 zurückgehen, zu Stücken wie ‚Black and Tan Fantasy‘ und ähnlichem.“ Man könnte sagen: Es gibt halt Ewiggestrige. Eine einzelne Stimme aus dem Publikum aber verstärkte bei Ellington den Frust, den schon zuvor durch Kritiker auslösten, John Hammond etwa, der dem Duke nach seiner „Creole Rhapsody“ vorwarf, sich zu weit von der „Simplizität und dem Charme“ von 1931 zu entfernen, die afroamerikanische Musik doch eigentlich ausmachten. Ellington liebte sein Publikum, urteilt Chambers, aber er traute ihm nicht zu, seine anspruchsvollen längeren Kompositionen zu verstehen. In diesen Kontext passt dann noch der Hinweis auf den ihm nicht zuerkannten Pulitzer-Preis 1965. 

Hier könnte man nun kritisch eingreifen und hinterfragen, ob es gerade bei Ellington wirklich Sinn macht, zwischen Songs, Tanzmusik und seinen großangelegten Kompositionen so scharf zu unterscheiden, wo doch weder die Suiten ohne seine Erfahrungen mit der Songform denkbar wären, noch seine Tanzstücke ohne das Bewusstsein für Form, noch die großen Hits ohne das Wissen um ästhetische und kommerzielle Zwänge, denen er als afroamerikanischer Musiker in den USA des 20sten Jahrhunderts unterlag. Was kann einem aber als Autor Besseres passieren, als wenn der Leser nicht mit allem übereinstimmt und in einen Dialog einsteigt, in dem die Argumente des Buchs ernstgenommen werden.

Und so ist Chambers‘ Buch weder eine klassische Biographie noch enthält es eine wissenschaftliche Analyse, es ist allerdings eine gelungene Annäherung an die Musik, an den Menschen, an den Musiker, an den Komponisten, an die Aufnahmen, an die Umstände, denen Ellington unterworfen war. Chambers‘ Fokus auf spezielle Themen erlaubt Perspektivverschiebungen. Sicher hätte er auch andere Themen wählen und dabei andere Beobachtungen machen können, aber darum geht es gar nicht. Sein Ansatz erlaubt es ihm, die Multiperspektivität in Ellingtons Musik darzustellen. Und mit seinem deutlichen – und dabei durchaus subjektivem – Schwerpunkt in den letzten Kapiteln auf Ellingtons großformatiges Schaffen lädt er die Leserin, den Leser geradezu ein, ihre eigene Perspektive auf Ellingtons Werk zu hinterfragen. Das alles gelingt ihm in einem kurzweilig geschriebenen und damit gut lesbaren Stil, mit Hinweisen nach jedem Kapitel auf die behandelten Aufnahmen. 

Wolfram Knauer (April 2025)


Sax Expat. Don Byas
von Con Chapman
Jackson/Mississippi 2025
235 Seiten, 30 US-Dollar
ISBN: 9-781-4968560-74

Don Byas teilt ein Schicksal mit Lucky Thompson: Stilistisch bewegten sich beide zwischen den Stühlen von Swing und Bebop; vor allem entschlossen sie sich nach dem Krieg in Europa zu leben und verschwanden damit aus dem Bewusstsein der amerikanischen Jazzszene. Byas war nicht Coleman Hawkins, den jeder Tenorist seiner Zeit zum Vorbild hatte; er wurde aber auch nicht zu den avanciertesten Beboppern gezählt. Er verließ die USA bereits in den 1940er Jahren, um sich in Europa niederzulassen, wo er sich einerseits wohl fühlte, ihm andererseits die amerikanischen Rhythmusgruppen fehlten. In Jazzgeschichtsbüchern kommt er meist nur am Rande vor, eine Tatsache, die eine jetzt erschienene Biographie ändern will, verfasst von Con Chapman, der bereits Bücher über Kansas City Jazz und Johnny Hodges vorgelegt hat.

Carlos Wesley Byas wurde 1913 in Muskogee, Oklahoma, als ältester von drei Jungs geboren. Erste Klavierstunden erhielt er von seiner Mutter, lernte außerdem Klarinette und Bratsche, und trat bereits mit sieben oder acht Jahren bei Konzerten auf. Seine Begeisterung für Jazz fand nicht die Zustimmung der Eltern, dennoch kaufte er sich im Alter von 13 Jahren ein Altsaxophon und spielte bald mit Mitschülern zusammen, dem drei Jahre jüngeren Jay McShann etwa. 1930 verließ er die High School und spielte ein Jahr lang in der Band Andy Kirks. Auf dem College legte er sich den Namen „Don“ zu; seine Band hieß „Don Carlos and his Collegiate Ramblers“. Irgendwann in diesen Jahren wechselte er zum Tenorsaxophon, möglicherweise, weil ihm Coleman Hawkins‘ Solo über „It’s the Talk of the Town“ mit dem Fletcher Henderson Orchestra so imponiert hatte. 1934 zog es Byas mit dem Bandleader Bert Johnson nach Los Angeles, wo er sich zwei Jahre später im Lionel Hampton Orchestra fand ­– worüber wir vor allem aus zeitgenössischen Rezensionen wissen, in denen Byas explizit erwähnt wird. Mit dem Saxophonisten Eddie Barefield und mit Buck Clayton trat er im Central Avenue District von L.A. auf. 

Coleman Hawkins sei sein erster Einfluss gewesen, erzählte Byas später; ihn hatte er erstmals 1933 bei einer Jam Session in Kansas City getroffen. Ein weiterer Einfluss war Art Tatum, mit dem er bereits gespielt habe, bevor dieser 1932 nach New York ging und berühmt wurde. Einflussreich waren aber auch Ben Webster, Johnny Hodges, Herschel Evans oder Benny Carter. Etwa Mitte der 1930er Jahre zog es Byas nach New York, wo er im Mai 1938 seine ersten Aufnahmen machte, organisiert vom dänischen Baron und Jazzfan Timme Rosenkrantz. Er wurde Mitglied im Orchester Lucky Millinders, saß dann im Saxophonsatz Andy Kirks, spielte mit Eddie Hayes und ersetzte Lester Young bei Count Basie, mit dem er zum Beispiel ein herausragendes Solo über den „Harvard Blues“ einspielte. Parallel dazu tauchte Byas regelmäßig bei After-Hour-Jam-Sessions im Minton’s Playhouse in Harlem auf. Basie sollte vorerst die letzte große Bigband sein, in deren Saxophonsatz Byas saß; danach wirkte er eher in kleineren Combos, war viel auf der 52nd Street zu hören, mit Erroll Garner, Coleman Hawkins, Eddie Heywood, und ging mit Mary Lou Williams ins Studio, mit der er nicht nur bei Andy Kirk zusammengearbeitet hatte, sondern mit der ihn auch eine offenbar etwas toxische Beziehung verband. Weitere Aufnahmen folgten, mit Benny Goodman, mit Hot Lips Page, aber auch uner eigenem Namen. Byas war Teil des Umbruchs vom Swing zum Bebop, und neben den bereits genannten spielte er auch mit Charlie Parker und Dizzy Gillespie zusammen. 

Am 9. Juni 1945 hatte Rosenkrantz die New Yorker Town Hall für ein Konzert avancierterer Swingmusiker angemietet, Red Norvo, Teddy Wilson, Don Byas, Slam Stewart. Letztere beiden spielten ein unbegleitetes Duett über „Indiana“ und „I Got Rhythm“, das kurz darauf auf Commodore veröffentlicht wurde, trotz vorheriger Absprachen ein Musterbeispiel spontaner Improvisation. Byas‘ Einspielung über den Standard „Laura“ wurde wenig später zu einer Art Signature Song seiner Karriere, ein Stück, das man ähnlich mit ihm verband wie „Body and Soul“ mit Hawkins. Byas war busy, spielte für eine Broadway-Show, bei Jam Sessions in der ganzen Stadt, auf der 52nd Street, mit Musikern der Swingära genauso wie mit den jungen Beboppern. 1946 kehrte Rosenkrantz zurück in seine dänische Heimat und organisierte eine Tournee für eine Besetzung um den Saxophonisten und Arrangeur Don Redman. Der hatte auch Byas angeheuert und außerdem Arrangements des neuen Sounds im Gepäck, etwa Tadd Damerons „For Europeans Only“. Nach Ende der Tournee, die durch Skandinavien, Belgien und die Schweiz führte, blieben einige der Musiker, Byas unter ihnen, in Paris.

Er spielte mit anderen amerikanischen Expatriates wie Tyree Glenn, Peanuts Holland oder Bill Coleman, hatte regelmäßige Gigs in Brüssel und den Niederlanden und wirkte eine ganze Weile in Barcelona. Zurück in Paris ging er auf Tournee, spielte in der Schweiz und in Deutschland, oder begleitete 1950 als Gaststar das Duke Ellingtons Orchester. Im Sommer war er ab Beginn der 1950er Jahre meist in Saint Tropez zu finden. In Amsterdam hatte er sich in die 26-jährige Jopie Eksteen verliebt, die ihn bald auf seinen Reisen begleitete und die er im Februar 1955 heiratete – die zweite Ehe nach seiner ersten Frau, die 1951 verstorben war. Byas wurde zum Europäer, zum Amsterdamer, um genau zu sein; er sprach Niederländisch bald so gut wie Englisch. Vier Kinder verpflichteten ihn einerseits dazu Geld zu verdienen; zugleich wollte er aber nicht jeden Job annehmen. Er hatte Grundsätze, die Gage betreffend, aber auch die Qualität der Musik. In den 1960er Jahren wirkte Byas mal mit Kurt Edelhagen in Köln, dann mit Kenny Clarke und Oscar Pettiford in Paris, spielte dann in einem Club in Monte Carlo, dann mit norwegischen Musikern in Oslo, dann ging er für Norman Granz auf eine Tournee mit Jazz at the Philharmonic, an der auch Coleman Hawkins beteiligt war. Er trat mit Buck Clayton auf und spielte eine Platte mit Bud Powell ein. Vom Free Jazz hielt er nicht viel, aber der Ton Albert Aylers, mit dem er in Kopenhagen bei einer Jam Session zusammengetroffen war, hatte es ihm doch angetan. Jazz war schon lange nicht mehr die populäre Musik, über die Beatles schimpfte er nur, die hätten doch alles aus dem R&B geklaut. Byas nahm immer wieder Tourneegigs mit durchreisenden Amerikanern an, Ben Webster, Tony Scott, Earl Hines. 

Webster erhält in Chapmans Buch ein eigenes Kapitel. Er und Byas waren befreundet und zugleich Konkurrenten; sie waren Dickköpfe und nicht unbedingt erträglicher, wenn sie getrunken hatten. Chapman weiß über Besuche Websters im Byas‘ Amsterdamer Wohnung, während der Kollege nicht da war und seine Frau den massigen Amerikaner nur schwer herauskomplimentieren konnte. Und er verfolgt das musikalische Aufeinandertreffen der Tenorgiganten, bei den Berliner Jazztage 1965 beispielsweise oder bei einer Plattenproduktion von 1968. In dem Jahr begann Byas sich Gedanken über eine zeitweilige Rückkehr in die Vereinigten Staaten zu machen. 1970 war es dann so weit: Er spielte ein halbes Jahr lang in namhaften Clubs der USA und schloss noch eine Japan-Tournee mit Art Blakeys Jazz Messengers an. Nach seiner Rückkehr nach Amsterdam wurde eine Lungenkrebs-Erkrankung festgestellt, die im August 1972 schließlich zu seinem Tod führte. 

Con Chapman hat extensive Recherchen betrieben für sein Buch. Er hat Zeitungsberichte aus aller Welt ausgewertet und Archive kontaktiert, etwa um Geburts- oder Heiratsurkunden einzusehen. Er hat Diskographien gewälzt und sicher alle Aufnahmen gehört, an denen Don Byas jemals beteiligt war. Er kennt und erzählt Anekdoten und Gerüchte um den Saxophonisten, und er versucht sein Leben und seine musikalische Karriere in die Zeit genauso wie in die Musikgeschichte einzuordnen. 

Leider verzettelt er sich zu oft mit dieser Vielzahl an Informationen. Die eine Quelle sagt dies, die andere das, die Besetzung sah so aus oder so, Byas kam 1935 nach New York oder 1936… ja, aber Chapman ist doch der Spezialist; wie ist seine Einschätzung der Sachlage? Dann versucht er Themen zu bündeln, etwa indem er sämtliche (naja, fast alle) Begegnungen zwischen Byas und Hawkins oder jene mit anderen wichtigen Saxophonisten zusammenfasst oder seine diversen Besuche in Spanien oder Portugal, gerät dabei aber aus der eigentlich chronologischen Abfolge seiner Erzählung und lässt zumindest diesen Leser dabei schon mal leicht verwirrt zurück: sind wir jetzt noch in den 1930er oder bereits in den 1940er Jahren? Ähnliches passiert ihm bei der Erzählung des Privatlebens, Byas‘ Beziehungen zu und seinem Umgang mit Frauen, dem offenbar nicht unproblematischen Verhältnis zu Mary Lou Williams, den Auswirkungen seines Alkoholkonsums und ähnlichem. Über all das hat Chapman, wohlgemerkt, viel zu berichten; ihm gerät einfach die Erzählung durcheinander. 

Hier und anderswo vermisst man für eine Gewichtung und Zusammenfassung der unterschiedlichen Themen ein sorgfältiges Lektorat. Zumal es Chapman an einigen Stellen durchaus gelingt, all dies Wissen in flüssige Sprache und lesenswerte Absätze fließen zu lassen: in Kapitel 9 (Don, Sam, Carlos) beispielsweise, in dem er der Persönlichkeit Byas‘ und seinen Widersprüchen auf den Grund geht. In Byas‘ Nachlass, schreibt Chapman, fänden sich Ölbilder und Zeichnungen, er liebte Dichtung und Literatur, sprach Holländisch, Französisch, Spanisch, ein wenig Portugiesisch und Italienisch. Er hörte Jazz, aber auch moderne europäische klassische Musik. Er spielte Dame, Karten und Tischtennis. Er ging angeln und eislaufen. Er spielte Billiard und fuhr Motorrad. Er schwamm, stemmte Gewichte und war ein Hobbykoch. Er weichte seine Blättchen in Cognac ein, hielt sich selbst aber mit dem Trinken zurück, seitdem er mit einer Holländerin verheiratet war. Wenn er doch zu viel trank, war er sowohl musikalisch wie auch menschlich unzuverlässig. Er war ein charmanter Geschichtenerzähler, besonders gut, wenn es ums Angeln ging. Er rauchte ab und an einen Joint, lehnte aber Potheads im Publikum ab, weil die nicht ordentlich zuhörten. Er liebte Jam Sessions, insbesondere wenn andere Tenoristen dabei waren. Zu Zeiten der Bürgerrechtsbewegung in den USA verstand er seine Musik als politisch, aber eine direkte Verbindung zwischen Musik und Protest lehnte er ab. Er betonte immer, dass seine Entscheidung, in Europa zu leben, nichts mit seiner Hautfarbe zu tun habe. Viele Aspekte seines späteren Lebens deuten darauf hin, dass der ethnische Mix seiner Herkunft – schwarz und Native American – und die soziale Stellung seiner Familie – Vater: Juwelier, Mutter: Klavierlehrerin – sein Selbstbewusstsein beeinflusst hatten. Auch das Kapitel über die beiden Expatriates Byas und Ben Webster hat viel Potential, hier allerdings verliert sich Chapman in zu vielen chronologischen wie thematischen Sprüngen. 

Das zweite Manko seines Buchs ist die Tatsache, dass Chapman sich bei der musikalischen Beschreibung fast ausschließlich auf andere Autoren verlässt. Das mag einer klugen Selbsteinschätzung geschuldet sein; Chapman ist weder Musiker noch Musikwissenschaftler. Dass er Mary Lou Williams bei fast jeder Erwähnung als Byas‘ ehemalige Geliebte vorstellt, aber nirgendwo auf ihre Bedeutung für die Diskussionen über die Fortentwicklung des Jazz zwischen Swing und Bebop hinweist, ist eine Sache. Natürlich hatte ihre Avanciertheit Einfluss auf Byas, wenn er diese allerdings in einem der wenigen eigenen Wertungen vor allem als „adding dissonant tones to conventional harmonic progressions“ beschreibt, versteht man, warum er sich lieber auf die Einschätzung anderer verlässt – deren Einordnung er allerdings auch kaum weiter diskutiert. 

Alles in allem bietet Chapmans Buch trotz der erwähnten Shortcomings genügend willkommenes Material über Don Byas, einen Musiker, der von der Jazzgeschichtsschreibung gerade deshalb oft übersehen wurde, weil er früh nach Europa gegangen und auf der amerikanischen Szene so gut wie nicht mehr präsent war. Allein die Quellensammlung im Anhang des Buchs erleichtert das Weiterforschen über diesen herausragenden Expatriate. Und wer sich von der manchmal leicht vollständigkeitssüchtigen Namensfülle zu Aufnahmen und Tourneen und Konzerten etwas erschlagen fühlt, der erhält dabei doch genügend Anregungen, selbst wieder reinzuhören in Aufnahmen mit Don Byas, diesem großartigen Bindeglied zwischen Swing und Bebop. 

Wolfram Knauer (März 2025)


Stomp Off, Let’s Go. The Early Years of Louis Armstrong
von Ricky Riccardi
New York 2025
466 Seiten, 34,99 US-Dollar
ISBN: 978-0-19-761448-8

Ricky Riccardi ist „director of research collections“ im Louis Armstrong House Museum in Queens, New York, „Stomp Off, Let’s Go“ sein drittes Buch über Louis Armstrong, nach „What a Wonderful World: The Magic of Louis Armstrong’s Later Years“ und „Heart Full of Rhythm: The Big Band Years of Louis Armstrong“. Eigentlich habe Armstrong ja selbst genügend über New Orleans erzählt, schreibt er im Vorwort zu seinem neuesten Buch. Seine Aufgabe als Autor sei es vor allem gewesen, Armstrongs Erinnerungen in Kontext zu setzen. 

Diese Kontexte beleuchtet er von der ersten Seite an. Sein Geburtsdatum habe Satchmo ja zeitlebens als 4. Juli 1900 angegeben, ein Datum, das bis in den 1980er Jahren galt, als ein Forscher die Taufregister durchwühlte und dort den 4. August 1901 als seither allgemein als korrekt angesehenes Datum fand. Riccardi ist sich nicht so sicher: Man könne Armstrong ruhig Glauben schenken, zumindest was den Monat anbelangt. Nun gut, er habe sich ein Jahr älter gemacht. Aber gefeiert habe er nun mal immer am 4. Juli, seine Schwester bezeugt das sogar für ihre Kindheit. Vielleicht habe der Priester sich beim Taufregister ja im Monat geirrt – dafür spräche beispielsweise ein Eintrag über dem Armstrongs, der ebenfalls den August angibt, obwohl spätere Dokumente über den Gelisteten den Juni bezeugen. Am Ende, schreibt Riccardi, sei das alles aber doch ziemlich egal. Jedenfalls sei Armstrong geboren worden, und das allein sei doch Grund genug zum Feiern. 

Riccardi nutzt das Thema auch, um alles Bekannte über Armstrongs Vorfahren zu berichten: über Daniel Walker, der 1792 in Afrika geboren wurde und 1818 als Sklave aus Richmond, Virginia, nach New Orleans verkauft wurde, über dessen Sohn gleichen Namens, seine Tochter Josephine hin zu Satchmos Vater William Armstrong. Über die Vorfahren seiner Mutter weiß man weniger, aber doch genug, um anderthalb Seiten zu füllen. Die Umgebung seines Geburtshauses hatte Armstrong selbst als „battlefield“ bezeichnet, Riccardi recherchiert, wer dort wohnte, und stellt stattdessen fest: Es waren Menschen aus der Unter- und Mittelschicht, von denen die meisten Eigentümer ihrer Häuser waren und eine Anstellung hatten. Louis‘ Eltern trennten sich kurz nach seiner Geburt, so dass Armstrong die ersten Jahre seines Lebens bei seiner Großmutter verbrachte, während seine Mutter ihr Geld mit Prostitution verdiente und wegen Alkohol- und Gewaltdelikten mehrfach behördlich auffiel. 

Riccardi benutzt für seine Recherchen den Standortvorteil, also die Resourcen des Louis Armstrong House Museum, einschließlich nicht veröffentlichter Manuskripte für Armstrongs Autobiographie „My Life in New Orleans“, diverser Briefe und anderer schriftlicher Erinnerungen, die Armstrong zeitlebens verfasste. Seine Großmutter habe ihm beigebracht, einmal pro Woche mit einem Abführmittel für die Darmreinigung zu sorgen, erfahren wir, was er bis ins hohe Alter einhielt. Auf der Straße lernte er sich zu verteidigen; zugleich genoss er das bunte, auch ethnisch gemischte Leben der Stadt. In jedem Saloon spielte eine Band; mit 5 Jahren hörte er so bereits Buddy Bolden, als der vor der Funky Butt Hall spielte, um Kundschaft anzulocken. Er hörte aber auch viele andere Musikrichtungen, Ragtime, Walzer, Tangos, Mazurkas, Einflüsse, die sich später auch in seiner Musik wiederfinden sollten. Für eine Weile lebte er bei seinem Onkel, dann wieder bei seiner Mutter und ihren wechselnden Liebhabern. Er ging zur Schule, musste aber, weil seine Mutter ihn und seine Schwester nicht allein versorgen konnte, daneben arbeiten gehen. Seine Großmutter sorgte außerdem dafür, dass er regelmäßig die Kirche besuchte.

Ganz ohne Probleme lief seine Jugend nicht ab. Im Oktober 1910 wurde er erstmals namentlich in der Lokalpresse erwähnt, weil der Neunjährige zusammen mit anderen Jungs nach einem Feuer beim Plündern geholfen hat. Der Richter schickte ihn in eine Erziehungseinrichtung für schwarze Jugendliche, das Colored Waif’s Home. Nach achtzehn Tagen wurde er entlassen, war schnell wieder auf der Straße und arbeitete. Nach Jobs als Zeitungsjunge half er bald beim Schrott- und Kohlenhandel der Familie Karnofsky aus. Riccardi wägt die unterschiedlichen Jahreszahlen ab, die für den Beginn dieser Arbeit herumschwirren, und erklärt, warum für ihn 1911 am wahrscheinlichsten ist. Bis an sein Lebensende sollte sich Armstrong an die Karnofskys erinnern, an jiddische Spezialitäten, an jiddische Lieder, an die Arbeit auf dem Kohlenkarren, an seine ersten Ausflüge nach Storyville. Dort befand sich seit 1897 das Rotlichtviertel der Stadt, das er als schwarzer Junge nicht allein hätte besuchen dürfen, im Auftrag seines weißen Arbeitgebers aber sehr wohl. Armstrong erinnerte sich immer mit Dankbarkeit an diese Zeit, tatsächlich aber, stellt Riccardi klar, sei es nichts anderes als Kinderarbeit gewesen, die er machte, um selbst und mit seiner Familie zu überleben. 

Bunk Johnson gab zu Lebzeiten gern damit an, Armstrongs Lehrer auf dem Kornett gewesen zu sein; nach Johnsons Tod machte Armstrong klar: „Einen Scheißdreck hat der mir beigebracht.“ Tatsächlich aber, erklärt Riccardi, hatte sich der junge Louis einiges bei Johnson abgeschaut, seine Tonbildung etwa oder seine melodische Erfindungskraft. Ein zweiter Einfluss war der Kornettist Joe Oliver. Riccardi schildert, wie dieser sich von einem eher mittelmäßigen Musiker zu einem wurde, dessen Ton und Melodieerfindung nicht nur Armstrong schwer beeindruckte. Ein Instrument spielte Armstrong zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht; wenn überhaupt, konnte man den Einfluss der beiden in seinem Gesang hören, in der Kirche oder in einem Vokalquartett, das er mit Freunden gebildet hatte und mit dem er auf der Straße auftrat. Hier übernahm Armstrong die zweite Tenorstimme, sorgte aber auch mit Klamauk und Tanzen für die Unterhaltung des Publikums. Außerdem habe er damals gepfiffen, und zwar auf genau dieselbe Art, wie er später Trompete spielen sollte, erinnert sich Richard M. Jones. Riccardi ergänzt all das um Informationen zur Entstehungsgeschichte des Barbershop-Quartetts und betont die Bedeutung dieser Erfahrung für den späteren Musiker. Quasi ohne Unterricht lernte er dabei Improvisation, Stimmbildung, das Aufeinanderhören, Lead spielen und als zweite Stimme neue Melodien erfinden. Er verdiente erstmals Geld mit Musik, zugleich wurden andere Musiker auf den jungen Sänger aufmerksam. Riccardi seziert Gerüchte, dass Armstrong bereits zu dieser Zeit erste Versuche auf dem Kornett gemacht habe, genauso gründlich wie die verschiedenen Versionen, warum Armstrong Anfang 1912 erneut im Colored Waif’s Home landete, weil er zu Silvester eine Pistole abgefeuert hatte. 

Als Wiederholungstäter wurde Armstrong diesmal für sechs Monate eingewiesen. Mittlerweile hatte das Heim ein von Peter Davis initiiertes Musikprogramm etabliert. Armstrong stellte mit anderen Jungs ein Vokalquartett zusammen, bis Davis ihm anbot, in der Band zu spielen, erst Tamburin, dann Trommel, dann Althorn, dann Bugle, und schließlich Kornett. Bereits im Mai 1913 war Armstrong der Leader dieser Band und wahrscheinlich nicht unglücklich, argumentiert Riccardi, als der Richter seine Unterbringung verlängerte. Hier fand er Struktur, besuchte die Schule, erhielt drei Mahlzeiten am Tag und saubere Kleidung. „Es fühlte sich eher wie ein Internat an als wie ein Jugendgefängnis.“ So ganz Internat mag es dann allerdings doch nicht gewesen sein, deutet Riccardi an, wenn er beispielsweise das Gerücht diskutiert, alle Jungen im Heim seien sterilisiert worden. Im Juni 1914 wurde Armstrong entlassen, diesmal in die Obhut seines Vaters, bei dem er allerdings nur kurz blieb, um dann zu Mutter und Schwester zurückzukehren. Er arbeitete weiter für die Karnofskys und als Zeitungsjunge. Die beiden angesagtesten Kornettisten Bunk Johnson und Freddie Keppard hatten 1914/15 die Stadt verlassen; Armstrong folgte jetzt vor allem King Oliver, trug dessen Instrument bei Umzügen, spielte außerdem ab und zu noch als Gast bei der Colored Waif’s Home Band mit. Zusammen mit ehemaligen Heiminsassen gründete er außerdem eine eigene Band, in der er mit einem Instrument spielte, das die Karnofskis für ihn in einem Pfandgeschäft erstanden hatten. Mehr und mehr wurde die Musik zu einer ernsthaften Einnahmequelle, wenn auch die Szene, in der er tätig war, alles andere als ungefährlich war, wie Riccardi beschreibt. Viele der Saloonbesitzer waren zugleich Zuhälter; es gab regelmäßig Schießereien. Auch seine Kumpels aus dem Waif’s Home hatten nicht unbedingt den besten Einfluss. Trotz alledem faszinierte Armstrong die Halbwelt seiner Jugend zeitlebens, erzählte er gern von den Kleinkriminellen und Prostituierten; allen voran von Black Benny, der als Musiker die Basstrommel in einigen der Brassbands spielte, daneben aber auch keiner Rauferei aus dem Weg ging und dem Riccardi ein eigenes Kapitel widmet.

Oliver ließ ihn ein paar Mal mit seiner Band spielen und Armstrong sammelte erste Erfahrungen damit, seine Comedy-Routinen, Gesangseinlagen und sein Kornettspiel in diesem Kontext einzusetzen. Riccardi diskutiert kurz die Bedeutung auch zahlreicher weißer Musiker für die Entwicklung des frühen Jazz, insbesondere die Aufnahmen der Original Dixieland Jazz Band. 1917 spielte Armstrong mit einem Trio (Klavier, Schlagzeug) in Mantraga’s Saloon, wo es immer wieder Scherereien mit der Polizei gab und er erstmals lernte, wie wichtig in solchen Fällen eine Art weißer Sponsor war. Er machte einen erfolglosen Ausflug in die Zuhälterei mit dem Ergebnis, dass sein Mädchen ihm eine Stichverletzung beibrachte. Ein Einfluss neben Oliver war der Kornettist Kid Rena gewesen, der für sein Hochtonspiel bekannt war. Als die Polizei 1918 eine Razzia im Winter Garden durchführte und dabei unter anderem Kid Ory, Johnny Dodds und King Oliver inhaftierte, reichte es Oliver. Andere Musiker waren bereits im Jahr zuvor nach Chicago gegangen, jetzt zog es auch ihn in den Norden. Louis Armstrong ersetzte ihn in Kid Orys Kapelle. Als Storyville nach Eintritt der USA in den I. Weltkrieg schloss, spielte Satchmo zwar noch den einen oder anderen Gig, verdiente sein Geld aber vor allem in nicht-musikalischen Jobs. 

Der Krieg war vorbei, die Saloons öffneten, Armstrong spielte wieder mit Ory und wurde mehr und mehr nicht nur unter seinen Mitmusikern, sondern auch bei den Tänzern beliebt. In Gretna, sechs Meilen außerhalb der Stadt, lernte er Daisy Parker kennen, „die größte Hure von Gretna“, wie er sie einmal nannte. Erst sei es nur Sex gewesen, dann hätten sie sich verliebt, erinnert er sich, dann heirateten sie. Fürs neue Heim kaufte er sich ein Grammophon und Platten, die ODJB, Caruso, Henry Burr, Halli-Curci, Tetrazzini, McCormack – Jazz und Opernarien, die seine Melodiebildung beeinflussen sollten. Ab Frühjahr 1919 spielte er in Fate Marables Riverboat-Band. Riccardi erzählt die Geschichte hinter den Mississippi-Vergnügungsdampfern und der musikalischen Unterhaltung auf ihnen. Die Besitzer der Streckfus-Reederei, der die wichtigsten Boote gehörten, hatte ihren Sitz in St. Louis, und Marable selbst kam aus Kentucky, aber beide wussten, dass die Musik aus New Orleans etwas Besonderes hatte und dass, wenn sie auf den Booten Jazz anbieten wollten, sie Musiker von dort brauchten. Riccardi folgt dem Verlauf der musikalischen Ausflüge, zitiert aus verschiedenen Lokalzeitungen und aus Armstrongs (und Streckfus‘ Erinnerungen). Für den Trompeter war der Gig zugleich ein Theoriekurs durch Bandkollegen, die ihm beibrachten die Arrangements, die die Band direkt von den Verlagen erhielt, sicher vom Blatt zu spielen. Als er im September 1921 die Marable Band verließ, fühlte es sich für ihn an, als habe er drei Sommer Konservatorium hinter sich. 

In seiner Heimatstadt war die Szene für Armstrongs Art von Musik inzwischen beträchtlich ausgedünnt, weil so viele Musiker die Stadt verlassen hatten. Satchmo selbst schlug alle Angebote aus, in den Norden zu gehen; als allerdings sein Idol King Oliver ihm ein Telegramm schickte, packte er sofort seine Koffer. Für die Zeit in Chicago weiß Riccardi Details über Satchmos Vermieterin, schildert den ersten Auftritt mit Olivers Band, beschreibt das Publikum, in dem zahlreiche junge weiße Musiker saßen. Sie wie junge schwarze Musiker wurden durch die Creole Jazz Band inspiriert, waren aber vor allem von dem jungen Kornettisten begeistert, der eine ganz andere Dynamik auf dem Instrument besaß als Oliver. Dabei hielt sich Armstrong weitgehend zurück: Dies war schließlich Olivers Band, dem er nicht die Schau stehlen wollte. Ein eigenes Kapitel widmet Riccardi der Romanze mit Lil Hardin, die er aus unterschiedlichen Quellen als spannende Liebesgeschichte zusammenstückelt. Am 5. April 1923 machte King Oliver’s Creole Jazz Band die ersten Aufnahmen in den Gennett Studios in Richmond, Indiana, fünf Stunden Zugfahrt von Chicago entfernt. Riccardi beschreibt die technischen Einschränkungen der frühen Aufnahmetechnik, die weder den Kontrabass noch das volle Schlagzeug einfangen konnte, so dass Bill Johnson die Bassnoten auf einem Banjo spielte und Baby Dodds statt des Drum Sets nur Holzblöcke einsetzte. Die Musiker waren nervös – keiner von ihnen war zuvor in einem Aufnahmestudio gewesen. Riccardi beschreibt das Unerhörte, das Ungehörte der Aufnahmen, die sofort Erfolg hatten, so dass Oliver im Oktober bereits für drei Plattenfirmen aufnahm, Platten, die Jazzgeschichte schreiben sollten. Oliver wuchs der Erfolg über den Kopf; als er eine Gagenerhöhung heraushandelte, diese aber nicht an die Musiker weiterreichte, löste sich die Band auf. Armstrong blieb noch bis Juni 1924, dann sorgte Lil, die er inzwischen geheiratet hatte, dafür, dass er nicht nur den Arbeitgeber, sondern auch die Stadt wechselte.

In New York hatte Fletcher Henderson Armstrong als dritten Trompeter angeworben. Er war sofort eine Sensation, bei seinen Bandmitgliedern, bei den New Yorker Musikern und beim Publikum. Etwa zeitgleich begann Armstrong Aufnahmen als Studio-Sideman, für Bluessängerinnen und in Instrumentals unter der Leitung von Clarence Williams. Riccardi beschreibt Armstrongs instrumentale Stimmqualität, seinen Frust, dass niemand ihn singen ließ, die Konkurrenz zwischen ihm und Sidney Bechet. Er nahm einige Seiten mit Bessie Smith auf, ein Gespann, das sich künstlerisch nahezu perfekt ergänzte. Armstrong war an zahlreichen erfolgreichen Aufnahmen beteiligt, aber sein Name stand nirgends auf dem Label, wurde oft nicht einmal erwähnt. Lil, die inzwischen wieder nach Chicago zurückgekehrt war, sorgte dafür, dass sich das ändern sollte. Sie besorgte ihm einen Job im Dreamland Café, vermittelte ihm endlich Aufnahmen mit einer eigenen Band, der Hot Five, in der mit Johnny Dodds und Kid Ory zwei seiner New Orleans-Kumpels mitwirkten. „Wir spielten so, wie wir in New Orleans gespielt hatten“, erinnert sich Satchmo an die ersten Aufnahmen. „The Hot Five would become a brand“, erklärt Riccardi, „and from the beginning, Louis ensured that listeners would get to know the entire cast by name.“ Die Hot Five allerdings waren vor allem ein Studioensemble; im richtigen Leben trat Armstrong mit Lils Band im Dreamland und mit Erskine Tates Orchester im Vendome Theatre auf. In letzterem begleitete er Stummfilme; vor allem aber blies er heiße Soli in den Konzertteilen zwischen den Filmvorführungen. Die Leute sahen sich die Filme zum Teil fünfmal an, um seine hohen F’s in der letzten Nummer zu hören. 

Im Februar 1926 nahm Armstrong mit „Heebie Jeebies“ das erste Stück auf, in dem er selbst singen durfte, zumal noch mit improvisiertem Scat-Gesang. Sein ganzer vokaler Ansatz habe einen Riesen-Einfluss auf die Popmusik gehabt, erklärt Riccardi, nicht anders als seine Art die Trompete zu spielen. In „Cornet Shop Suey“ beschreibt er den „Klarinettenstil“ Armstrongs, eine virtuose Technik, die an das berühmte Solo in High Society erinnert (in einem Solokonzept, das, wie der Autor nachweist, gar nicht improvisiert, sondern komplett vorgeplant gewesen war). Eine Weile spielte Armstrong mit dem Gedanken wieder mit King Oliver zu spielen, entschied sich dann aber für eine jüngere Band, geleitet von Carroll Dickerson, mit einem moderneren Sound, mit rhythmischer Four- statt Two-Beat-Grundierung. Im Juli 1928 ging er mit einer jüngeren Ausgabe der Hot Five ins Studio, der Earl Hines und Zutty Singleton angehörten. Klassiker wie „Skip the Gutter“, Hines‘ „A Monday Date“ und vor allem der „West End Blues“ entstanden – vor allem letzterer sofort ein Hit, zugleich ein Einfluss auf Musiker jedweden Instruments auf der ganzen Welt. Riccardi verfolgt den Siegeszug der Aufnahme und ihren Einfluss auf Billie Holiday, Teddy Wilson, Leonard Feather, Artie Shaw, George Wettling oder den Trompeterkollegen Jabbo Smith, der Armstrong in jenen Jahren gern herausforderte. Der Erfolg überzeugte sein Label, dass diese Musik sich auch außerhalb des vor allem auf ein afroamerikanisches Publikum gerichteten „race records“-Marktes verkaufen ließe. Es entstanden Aufnahmen so verschieden wie „Weather Bird“, ein unbegleitetes Duett von Armstrong und Hines, und das moderne Arrangement Don Redmans über „No One Else But You“, oder aber „Tight Like This“ mit dem bislang längsten Armstrong-Solo, das von Anfang bis Ende eine Geschichte zu erzählen scheint. In der Folge drängte sein Produzent ihn, nach New York zu gehen und sein Repertoire zugunsten populärer Songs zu verändern. Er machte Stücke aus der Feder von Broadway-Komponisten zu Hits, „I Can’t Give You Anything But Love“, „When You’re Smiling“, „After You’ve Gone“, „I’m Confessin'“ und viele andere. 

Und dann endet Riccardi sein Buch mit einer Art Zusammenfassung: „[Armstrong] verbrachte die ersten 28 Jahre seines Lebens, indem er Musik wie ein Schwamm aufsaugte. Gerade mal eine Generation entfernt von den Zeiten der Sklaverei wuchs er mit den Klängen von Blues, Ragtime und den ersten Jazzsounds auf. Er summte jiddische Wiegenlieder mit der Karnofsky Familie, intonierte Schlager im Harmoniegsang mit seinem Vokalquartett, sang in der Kirche und kaufte Platten von Superstars wie Enrico Caruso und John McCormack. Er wechselte von Kid Orys swingender Band zur Tanzkapelle Fate Marables und studierte die Platten von Art Hickman und Paul Whiteman, während er seinen Stil entwickelte. Er spielte Hymnen und Second Line-Stücke in Blaskapellen von New Orleans, aber auch die Märsche John Philip Sousas. Er verinnerlichte die komödiantischen Qualitäten der Aufnahmen von Bert Williams und Bill Robinson und konnte sowohl ein schwarzes wie auch ein weißes Publikum zum Lachen bringen. Er maß sich mit Sidney Bechet und perfektionierte die Kunst des Obligatos hinter den Bluessängerinnen von New York, ließ sich zeitgleich von Tanzmusikern wie B.A. Rolfe und Vic D’Ippolito inspirieren, während er als Sideman in Fletcher Hendersons Orchester arbeitete. Sein ‚Heebie Jeebies‘ markierte den Beginn des Scatgesangs, während er mit einem sinfonischen Orchester Stummfilme begleitete. Er spielte zum Tanz und wurde auch selbst zum Tänzer, wenn er den Charleston, den Mess Around und andere akrobatische Schritte auf der Chicagoer Bühne vorführte. Sein ‚West End Blues‘ veränderte den Sound des Jazz zu einer Zeit, als er und seine Bandmates jeden Abend den Sendungen Guy Lombardos zuhörten. Er bewunderte Pioniere wie Joe Oliver und Bunk Johnson, ermutigte junge Musiker aber auch, ihre eigene Stimme zu finden. All diese Musik – und mehr – rotierte in seiner Seele, jedes Mal, wenn er eine Bühne betrat, auf der er dann all das zusammenfasste, was vor ihm gekommen war, auf der er alles, was danach kommen sollte, möglich machte. Der Mann, den sie Pops nannten, war der King of Pop geworden, und nichts würde mehr so sein wie zuvor.“

Sein letztes Kapitel nutzt Riccardi, die Lebenswege der wichtigsten Figuren in Armstrongs Leben zu Ende verfolgen: seine Frauen Lil und Alpha, King Oliver, Bunk Johnson, Captain Joseph Jones, Peter Davis, seine Schwester Mama Lucy. Zum Schluss diskutiert er, warum Armstrong in New York und nicht in New Orleans begraben wurde. „Weißt du, ich habe New Orleans nie verlassen“, hatte Satchmo 1950 über die Stadt gesagt, in der er nach 1922 nicht mehr lebte. „Die Essenz von New Orleans ist schließlich jedes Mal da, wenn ich spiele.“

Ricky Ricccardis Buch ist das letzte einer Triologie von Armstrong-Biographien. Das erste hatte sich mit den späten Jahren Armstrongs befasst, das zweite mit der Swingära und seinen Aufnahmen mit Bigbands. Das dritte nun also mit seinen Anfängen – und von den dreien ist es wahrscheinlich das gelungenste. Als Archivar am Louis Armstrong House Museum hat Riccardi nicht nur alle Quellen zur Hand; er ist außerdem ein exzellenter und zugleich kritischer Forscher. Er recherchiert selbst Kleinigkeiten nach, stellt bisheriges Wissen in Frage, lässt aber auch unterschiedliche Geschichten nebeneinander stehen, andeutend, welche von ihnen am wahrscheinlichsten ist, zitiert aus zeitgenössischen Quellen und weiß biographische Details selbst über Nebenfiguren – sofern sie für Armstrongs Entwicklung wichtig waren. Riccardi schreibt flott, in einem Stil, der die Atmosphäre der Zeit lebendig werden lässt. Zugleich gelingt es ihm musikalische Besonderheiten der Musik des Trompeters und Sängers zu erklären, ohne in Fachtermini zu verfallen. Und er ist ein zugewandter Autor – seinem Sujet, seinen Lesern, aber auch früheren Zeitzeugen oder Autoren, die er, anders als das gerade auch im Metier des Jazzschrifttums oft üblich ist, aus ihrer Zeit heraus rezipiert und ernst nimmt statt sie aus dem Wissen von heute zu verurteilen.  „Stomp Off, Let’s Go“ ist schon jetzt ein Standardwerk der nicht gerade kleinen Armstrong-Literatur, es sei darüber hinaus jedem empfohlen, der sich mit der Frühgeschichte des Jazz auseinandersetzt. Es sei sein letztes Buch über Armstrongs Story, meint Riccardi im Vorwort. Nach der Lektüre findet zumindest dieser Rezensent: We sincerely hope not!

Wolfram Knauer (März 2025)


Peter Brötzmann. Free Jazz, Revolution and the Politics of Improvisation
von Daniel Spicer
London 2025 (Repeater Books)
338 Seiten, 14,99 Britische Pfund
ISBN: 978-1915672407

Peter Brötzmann war immer stolz darauf, einer der ganz wenigen deutschen Jazzmusiker gewesen zu sein, der zahlreiche internationale Tourneen ohne staatliche Unterstützung organisiert bekam. Er lebte in Wuppertal, reiste um die ganze Welt, und seine Konzerte etwa auch in den USA waren immer gut besucht. Selbst Bill Clinton hatte einmal auf die Frage, welchen Musiker er gern hörte, dessen Name die Leute wohl am meisten wundern würde, geantwortet: „Brötzmann, one of the greatest alive“. Von daher ist es eigentlich erstaunlich, dass es bislang keine Biographie Brötzmanns in englischer Sprache gibt, von Gérard Rouys Gesprächen mit dem Saxophonisten mal abgesehen (Wolke Verlag, 2014). Jetzt hat der britische Journalist Daniel Spicer eine solche vorgelegt, als Erweiterung eines 2012 erschienenen „Primer“ für das Magazin The Wire. Im Vorwort erklärt Spicer, er habe sehr bewusst darauf verzichtet, die Geschichte des deutschen Jazz mit einzubeziehen, weil Brötzmanns Wirkungskreis doch so viel größer gewesen sei. Brötzmanns Kunst sei ein politisches Manifest, auch wenn der Saxophonist sich später von den linken Sprüchen seiner Jugend distanziert habe. Seine Leser:innen sollten keine persönliche Biographie erwarten, dämpft er jede Erwartung; ihm gehe es vor allem um die Kunst des Musikers. Tatsächlich schreibt Spicer über mehr als die Musik; im Verlauf der Lektüre kommt einem auch der Mensch Peter Brötzmann näher.

Gleich zu Beginn des ersten Kapitels weist Spicer auf die extremen Reaktionen auf Brötzmanns Musik hin: Die einen verehrten ihn, für die anderen – Talk-Show-Host Jimmy Fallon beispielsweise – war er eine Witzfigur und seine Musik der schlechte Witz. Mitmusiker waren beeindruckt von der schieren Kraft, die er aus seinem Instrument holte, so viel Kraft, dass er angeblich eine Weile keine Oktavklappe hatte, weil er die höheren Töne allein durch die Obertöne erreichen konnte, die er mit seiner Power aus dem Horn herauskitzelte. Spicer hält dieser Kraft entgegen, dass Brötzmann sie nie nur der Lautstärke wegen eingesetzt habe. Er vergleicht seinen Sound mit dem menschlichen Schrei, mit dem Blues und verweist auf Momente voller Lyrik und Zärtlichkeit in seinem Spiel. Ihn, sagt Brötzmann, habe am Jazz immer interessiert, dass diese Musik nur zusammen geschaffen werden konnte. Sun Ra, Duke Ellington … sie seien seine Vorbilder gewesen, als er sich in den 1960er Jahren mit anderen zusammenschloss, um etwas Neues, etwas Eigenes zu schaffen.

Im zweiten Kapitel wird’s dann doch biographisch-biographisch. Spicer erzählt von Brötzmanns Kindheit und Jugend, von seiner Faszination mit Bildender Kunst (dem Machen-Aspekt selbiger), von Ellington-, Armstrong- und Blues-Platten sowie von einem Konzert Sidney Bechets. Seine erste Band ist ein Swingtrio, in dem er Klarinette spielt. Er arbeitet in einer Druckerei, produziert Zeichnungen, Bilder und Collagen, schreibt sich an der Werkkunstschule Wuppertal ein und hat erste Ausstellungen in Remscheid, Nijmegen und Bremen. Mehr und mehr interessiert ihn der moderne Jazz, zugleich freundet er sich mit Peter Kowald an, der damals Tuba in einer Schüler-Dixielandkapelle spielte, und hängt in der aktuellen Fluxus-Szene ab. Er wird Assistent des koreanischen Künstlers Nam June Paik, den er auf eine Reihe von Ausstellungen begleitet und durch den er in Kontakt mit der Musik John Cages und Karlheinz Stockhausens kommt. Er heiratet, gründet eine Familie, nimmt Grafiker-Jobs an, um ein Auskommen zu haben und spielt mehr oder weniger „on the side“. Spicer erklärt, wie es um den modernen Jazz im Westdeutschland der Zeit bestellt war: Albert Mangelsdorff in Frankfurt, Gunther Hampel in Köln, und Brötzmann / Kowald in Wuppertal. Brötzmann selbst erzählt, wie Steve Lacy sie gehört und ermutigt, wie er ihm aber vor allem Don Cherry vorgestellt habe. Cherry hört etwas in Brötzmanns Ton und lädt ihn ein in Paris mit einzusteigen. Deutsches Jazz Festival 1966 (Trio mit Kowald und Pierre Courbois), eine Tournee mit Carla Bleys Band, die Bekanntschaft mit Sven-Åke Johansson, die Gründung der New Jazz Artists‘ Guild und des Sounds Magazins zusammen mit Rainer Blome, die Mitwirkung in Alexander von Schlippenbachs Globe Unity Orchestra, und schließlich „For Adolphe Sax“, sein erstes Album, zugleich, wie Spicer anmerkt, das erste Beispiel europäischer freier Improvisation, veröffentlicht auf dem Eigenlabel BRÖ.

Die 1960er Jahre, schreibt Spicer im dritten Kapitel seines Buchs, seien das Jahrzehnt gewesen, in dem eine ganze Generation junger Deutscher ihre Eltern und deren Verstrickung in die Greueltaten Nazi-Deutschlands hinterfragt habe. Ähnliche Jugendbewegungen gab es auch anderswo auf der Welt, aber in Deutschland, wo mit Kurt Georg Kiesinger gerade ein ehemaliges NSdAP-Mitglied zum Kanzler gewählt worden war, hatte die Rebellion eben einen anderen Geschmack. Spicer erzählt vom Besuch des Schahs in West-Berlin, vom Tod Benno Ohnesorgs, von den Anfängen einer zunehmend gewaltbereiten außerparlamentarischen Opposition. Auch in den USA sei der Free Jazz der frühen 1960er Jahre eine politische Musik gewesen, zumindest eine Musik, die sich in ihrer Radikalität politisch anfühlte. Im Westdeutschland derselben Zeit aber besitzt allein das Wort „Free“ darüber hinaus noch ganz andere Bedeutungen. Brötzmann erzählt, dass er damals durchaus mit der linken Bewegung sympathisiert, deren Überideologisierung allerdings abgelehnt habe. Dass die linken Gruppen an den Universitäten ausgerechnet seine Art von Free Jazz als „elitär“ abwerteten und stattdessen lieber Musik wie die von Joan Baez hörten, tat ein Übriges. Er erzählt, wie 1968, im Jahr, in dem Brötzmann „Machine Gun“ einspielte, drei andere Musiker, mit denen er zu tun hatte, in ganz andere Richtungen gingen: Jaki Liebezeit mit der Gruppe Can, Mani Neumeier mit Guru Guru, und Paul Lovens mit einer frühen, noch akustischen Inkarnation von Kraftwerk. Er habe Bands wie Tangerine Dream durchaus gekannt, nur sei seine Vorstellung davon, wie man mit Musik die Welt verändern kann, eben eine andere gewesen. Brötzmann und Kowald haben mittlerweile internationale Kontakte zu Kollegen aus den Niederlanden, England und Belgien. 1968 wird Brötzmann eingeladen, auf dem Deutschen Jazz Festival in Frankfurt mit einer größeren Formation zu spielen, die Geburtsstunde von „Machine Gun“. Das sei ganz klar politische Musik gewesen, sagen sowohl Evan Parker wie auch Brötzmann, eine Art Protest, der sich einreihte in all die gleichzeitig stattfindenden Diskurse. Das Erstaunlichste am Album sei wahrscheinlich sein Erfolg gewesen, schreibt Spicer, der Brötzmann sofort zu einer Art Underground-Star machte. Der Einfluss reicht jedenfalls weit über die Sphäre des Jazz hinaus bis in Rock, Punk Rock und elektronische Musik.

Politik spielt auch im vierten Kapitel eine Rolle, das mit Brötzmanns Anti-Kapitalismus-Haltung beginnt, die Spicer anhand der Einladung durch Joachim Ernst Berendt zu den Berliner Jazztagen beschreibt, eine Einladung, die Brötzmann ablehnt, um stattdessen zusammen mit Jost Gebers 1968 eine Art Gegenfestival zu etablieren, das Total Music Meeting. Ein Jahr später gründet er, ebenfalls mit Gebers, die Free Music Production, die als Label bald die lebendige Szene freier Improvisation in Europa dokumentieren soll. Brötzmann ist in allen möglichen Formationen aktiv; vor allem aber fokussiert er sich mehr und mehr auf das Trio mit Han Bennink und Fred van Hove, das bei Gelegenheit durch Albert Mangelsdorff zum Quartett erweitert wird. Spicer beschreibt, wie sich Benninks oft clownesk wirkende Einlagen vom ernsthaften Habitus Brötzmanns unterscheiden; er erwähnt auch, dass Benninks Jokes immer einen musikalischen Kern besaßen. Er beschreibt die Wirkung dieser Musik hinter dem Eisernen Vorhang, beispielsweise beim Festival in Warschau 1974 oder bei Auftritten in der DDR. Nachdem Van Hove das Trio verlässt, weil ihm die Bühnenspäße Benninks zu viel (und die Klaviere in den Clubs zu schlecht) sind, entdeckt Brötzmann, dass im Duo nur mit Bennink noch mehr an Freiheit steckt. Diese Besetzung besteht bis 1977, danach treffen die beiden sich zwar immer mal wieder, spielen aber nicht mehr fest zusammen. 

In Kapitel 5 beleuchtet Spicer die Zusammenarbeit Brötzmanns mit dem Bassisten Harry Miller und dem Schlagzeuger Louis Moholo sowie seine ersten Kontakte in die Avantgardeszene Japans. In Ungarn entdeckt er das Tarogato als zusätzliches Instrument; in den Niederlanden spielt er mit Misha Mengelbergs Instant Composers Pool. Durch Don Cherry lernt er den Gitarristen Sonny Sharrock kennen; außerdem wirkt er bei weiteren Projekten des Globe Unity Orchestra mit. In Hamburg kann er mit Hilfe des NDR „Alarm“ produzieren, ein weiteres international und groß besetztes Ensemblestück.

Nach Millers Tod gründet Brötzmann 1986 zusammen mit Sonny Sharrock, Ronald Shannon Jackson und Bill Laswell das Quartett Last Exit, und Spicer verbindet diese Band im sechsten Kapitel seines Buchs mit dem gleichzeitigen Erstarken der Young Lions um Wynton Marsalis. Last Exit sei auch als ein „Fuck You“ und Gegengift gegen den neuen Konservatismus im Jazz gedacht gewesen, schreibt er. Die Band verbindet den Geist des Free Jazz mit dem des Punk-Rock und erreicht ein vor allem junges Publikum. Auf ihrem zweiten Album spielt für ein Stück sogar Herbie Hancock mit. Nicht Hancock aber, sondern der Punk-, ja zum Teil fast schon Metal-Gestus der Musik sei es gewesen, die Last Exit so einflussreich machte, über die Jazzszene hinaus, aber auch in den Jazz hinein, wie Spicer anmerkt, auf John Zorn und seine Band Naked City verweisend.

Ist das überhaupt noch Jazz, was Brötzmann da spielt, fragt Spicer zu Beginn von Kapitel 7. Bill Laswell stellt die energiegeladene Power-Musik eher in die Nähe des Punk-Rock; Brötzmann selbst verwies allerdings immer auch auf die Vorbilder aus dem Jazz. Spicer erzählt die (nicht-deutschen Lesern wahrscheinlich exotisch anmutende) Episode des einstündigen Fernsehpanels, bei dem mehrere Kritiker 1967 die Ästhetik Brötzmanns mit der Klaus Doldingers verglichen und die meisten von ihnen mit Unverständnis auf seine Haltung reagierten. Brötzmann selbst kommentiert, wenn er etwas von seinen amerikanischen Freunden gelernt habe, sei dies stilistische Offenheit gewesen. Spicer diskutiert die Idee einer Emanzipation des europäischen Jazz von seinen (afro)amerikanischen Vorbildern. Brötzmann und Kowald merkten im Verlauf ihrerArbeit, dass afroamerikanischen Kollegen ihnen gerade deshalb Resperkt zollten, weil sie ihren eigenen Stiefel fuhren, einen eigenen persönlichen Stil entwickelt hatten. In den 1980er und 1990er Jahren spielt Brötzmann ein Album mit Rashied Ali und Fred Hopkins ein, ein weiteres mit William Parker und Milford Graves. Parker war auch in Brötzmanns Albert Ayler-Tribut Projekt Die Like a Dog Quartet involviert. Brötzmann erinnert sich, dass Ayler ihn mehrmals im Cave in Heidelberg gehört habe, und Spicer fragt nach: Wenn Ayler sich was bei dir abgeguckt hat und der späte John Coltrane aufmerksam auf Ayler gehört hat, könnte es nicht sein, dass du, Brötzmann, irgendwie, einen klitzekleinen Einfluss auf Coltrane gehabt hättest? Brötzmann reagiert schroff: Das geht jetzt ein bisschen zu weit! 

Sein achtes Kapitel beginnt Spicer mit einer Beschreibung der Chicagoer Jazzszene, wo Brötzmann im Januar 1997 ein Konzert mit sieben lokalen Improvisatoren spielt, ein Ensemble, das im Herbst desselben Jahres zum Tentet erweitert wird. In diesem Kapitel kommt Spicer auch auf die Lebenswirklichkeit des Musikers zu sprechen, der sein Leben lang immer Alkohol konsumiert hatte. Als er eines Abends im Jahr 1999 seine Finger kaum mehr bewegen kann und ein Arzt Gicht diagnostiziert und einen direkten Zusammenhang zwischen der Erkrankung und seinem Alkoholkonsum herstellt, gibt Brötzmann das Trinken auf, von einem auf den nächsten Tag. Mit Michael Wertmüller und Marino Pliakas gründet er sein nächstes Trio, dessen erster Albumtitel der Musik gerecht wird: „Full Blast“. Spicer geht andere Bands der frühen 2000er Jahre durch. Und er erzählt, wie Brötzmann sich 2012 vom Chicago Tentet mit einem Statement verabschiedete, in dem er die Routine beklagt, die in der Band eingesetzt habe, die vielleicht auch notwendig, der Kunst aber abträglich sei. Daneben ist es auch das Geld: Es habe immer finanzielle Hürden gegeben, erzählt Brötzmann; wer könne sich bitteschön leisten, eine so große Band zu bezahlen?!

Im letzten Kapitel nähert Spicer sich den letzten Bands, in denen Brötzmann aktiv war, einem Trio mit dem Pianisten Masahiko Satoh und dem Schlagzeuger Takeo Moriyama, einem weiteren mit dem Bassisten John Edwards und dem Schlagzeuger Steve Noble. In Chicago trifft er auf den Vibraphonisten Jason Adasiewicz, 2015 dann auf die Steel-Gitarristin Heather Leigh. Im letzten Lebensjahrzehnt macht Brötzmann auch wieder mehr als Bildender Künstler von sich reden, mit Katalogen und Solo-Shows in Chicago und Wuppertal. Spicer thematisiert den Gesundheitszustand des Saxophonisten, eine schwache Lunge, die Hardships der Coronakrise. Mit „I Surrender Dear“ legt Brötzmann ein Album vor, auf dem er erstmals Standards aus dem Great American Songbook interpretiert. Mit Abflauen der Coronakrise wird der Saxophonist wieder für Konzerte gebucht, aber die Kraft, die Power, die Fähigkeit, ein Energielevel über lange Zeit zu halten, waren nicht mehr da. Nach zwei Konzerten in Warschau und London im Februar 2023 kommt Brötzmann ins Krankenhaus und muss sich selbst eingestehen, dass er nicht mehr spielen kann. „Ich kann nicht klagen“, sagt er. „Ich bin jetzt 82, hatte ein aufregendes Leben. Wenn ich nicht mehr spielen kann, dann muss ich mich eben wieder auf die Kunst konzentrieren. Aufhören ist keine Option.“ Am 22. Juni 2023 starb Peter Brötzmann zuhause in Wuppertal friedlich im Schlaf.

Daniel Spicers Biographie liest sich an jeder Stelle spannend. Er nimmt die Rolle des parteischen Berichterstatters ein, der Person und der Musik Brötzmanns zugetan, und er macht nicht den Fehler, jedes, aber auch wirklich jedes Album unterbringen zu wollen, bei dem der Saxophonist jemals mitgewirkt hat. Er spannt den Bogen einer künstlerischen Karriere und gibt genügend Einblick in den sensiblen Musiker, dessen starke ästhetische Haltung in seiner Musik durchscheint, der aber zugleich von einem dauernden Verlangen nach neuen Herausforderungen angetrieben wird. In seiner Recherche beschränkt sich Spicer weitgehend auf englischsprachige Literatur, was andererseits angesichts der internationalen Persönlichkeit Brötzmann so viele Lücken auch nicht lässt. Eine selektive Diskographie beschließt das Buch.

Wolfram Knauer (März 2025)

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