Medieval Blues 

Anmerkungen zu Projekten mit Jazz und mittelalterlicher Musik

Dieser 1998 geschriebene Beitrag erschien im von Wolfgang Kratzer und Hartmut Möller herausgegebenen Band Übersetzte Zeit. Das Mittelalter und die Musik der Gegenwart, Hofheim 2001 (Wolke).

In den letzten Jahren sind auf dem CD-Markt etliche Produktionen erschienen, in denen Jazzmusiker entweder mit Ensembles mittelalterlicher Musik zusammenarbeiteten oder durch die Verwendung mittelalterlicher Instrumente und musikalischer topoi einen inhaltlichen Bezug zwischen den beiden vordergründig sehr unterschiedlichen Traditionen herzustellen versuchten. Die Gründe für die Zunahme solcher Projekte können auf verschiedenen Ebenen gesucht werden: 

  • in der zunehmenden Popularität einer Auseinandersetzung mit dem Mittelalter nicht erst seit Umberto Ecos „Name der Rose“; 
  • im Erfolg von New-Age-Projekten, die sich auf alte europäische Kulturentwicklungen berufen; 
  • in der zunehmenden Offenheit von Musikern aus beiden Lagern anderen musikalischen Traditionen gegenüber und in ihrer Bereitschaft, bei solchen Kooperationen nicht steif auf die Regeln des eigenen Genres zu pochen; 
  • in der Auseinandersetzung vor allem europäischer Jazzmusiker mit alten Spieltraditionen von Volks- bis Kunstmusik; 
  • nicht zuletzt in der Tatsache, dass ein immer größeres Publikum von stilübergreifenden Projekten begeistert ist – hier greift die Event-Ästhetik auch auf den Plattenmarkt über.

Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit einigen für die Rezeption mittelalterlicher Musik durch Jazzmusiker wichtigen Aspekten. Es geht dabei um vordergründige Parallelen zwischen der Vervollkommnung einer musikalischen Schriftlichkeit und der Markteinführung der Schallplatte, um gemeinsame Projekte von Jazzmusikern mit Ensembles mittelalterlicher Musik sowie um die Auseinandersetzung zeitgenössischer Musiker mit europäischer Folklore und deren Auswirkungen auf die Beschäftigung mit mittelalterlichen topoi. Die beiden Fragen, die im Rahmen dieses Beitrags im Vordergrund stehen, sind dabei: Aus welchen Gründen wenden sich Jazzinstrumentalisten dieser weit zurückliegenden Entwicklungsstufe europäischer Musik zu? Wie nehmen die Beteiligten auf die Besonderheiten der beiden Welten Rücksicht, und inwieweit werden musikalische Belange des Jazz und der alten Musik miteinander vermittelt? Der Schwerpunkt analytischer Betrachtungen liegt dabei auf den Projekten des Hilliard Ensembles mit Jan Garbarek, des Orlando Consort mit der Gruppe Perfect Houseplant sowie und vor allem des Klarinettisten und Komponisten Michael Riessler. 

1. Der „melting pot“ des Jazz, oder: „Play yourself, man!“

Jazzmusiker haben sich im Verlauf der Geschichte ihrer Musik vieler Quellen bedient: als Reservoir musikalischen Materials, als Inspiration, als Möglichkeit zum Finden neuer Wege. Der Jazz selbst entspringt der Begegnung mehrerer Kulturen. Wenn in Geschichtsbüchern gern vom „melting pot“ New Orleans die Rede ist, in dem sich Menschen und Kulturen sehr viel freier mischen konnten als in anderen Städten der Vereinigten Staaten, so ist dies durchaus ein realistisches Bild für die Entstehung dieser Musik. Noch heute kann man im French Quarter der Mississippi-Stadt jene aufregend-weittragende Akustik des subtropischen Klimas erleben und sich vorstellen, wie das tägliche Leben dort vor Erfindung der Klimaanlage meist bei offenem Fenster stattfand, wie Gespräche in den vielen Sprachen, die in der Hafenstadt zu hören waren, wie Gelächter, Streits und vor allem Musik von Hof zu Hof, von einem schmiedeeisernen Balkon zum nächsten getragen wurden. Dabei wird man verstehen lernen, dass es höchstens eine Übertreibung ist, wenn vom legendären Buddy Bolden behauptet wird, man habe ihn auf der anderen Seite des Lake Pontchatrain hören können.

Das Bild des „melting pot“ aber gilt nicht nur für die Entstehung des Jazz. Jazz als improvisierte Musik hat sich spätestens mit seiner Dokumentation auf dem damals neuen Medium der Schallplatte zu einer Kunstmusik entwickelt, die bald eigene, wenn auch ungeschriebene ästhetische Regeln besaß. Eine solche Regel war und ist noch heute die Antwort, die gestandene Jazzer ihren Schülern gern auf die Frage geben, was einen guten Musiker ausmache: „Play yourself, man!“. Individualität als erster Grundsatz des Jazz: Spiel dich selbst, finde deine eigene Stimme, nehme andere höchstens zum Vorbild, ohne sie zu imitieren. Diese Regel besagt nicht (wie dies oft und gern missverstanden wird), dass Jazzmusiker grundsätzlich etwas „Neues“ zu spielen hätten. Sie besagt einzig, dass der einzelne Musiker, um seine Gefühle musikalisch ausdrücken zu können, nicht nur die Technik seines Instruments vollkommen beherrschen muss, sondern sich außerdem eines eigenen, d.h. selbst gewählten Vokabulars bedienen sollte. Menschen sind nicht nur an ihrer Stimme, sondern auch am Gebrauch der Sprache als Individuen erkennbar, am Gebrauch von Worten, Sätzen, Satzstellungen. Sie bedienen sich eines gemeinsamen Wortschatzes und gemeinsamer grammatikalischer Regeln, um mit diesen ihre eigenen Belange auszudrücken. Nichts anderes verlangt die zitierte erste Jazz-Regel: Nimm dein Instrument, beherrsche es. Lausche deinen Kollegen und all den Einflüssen, die dich als Mensch und Musiker prägten. Nutze dieses musikalische Vokabular sowie die musikalischen Regeln, die du daraus ableitest, kreativ zum Ausdruck deiner selbst. 

Die Auswirkungen dieser Ästhetik werden besonders dort deutlich, wo der Jazz seine angestammte Heimat verlässt und in Länder vordringt, denen die Tradition afro-amerikanischer Kultur eigentlich fremd ist. In Europa begann der Jazz als rein imitatorische (und dabei eher schlecht imitierte) Musik, die im Vergleich nicht besser klang als ein in der nur ansatzweise beherrschten Fremdsprache radebrechender Schüler. In den 50er Jahren aber fanden mehr und mehr europäische Jazzmusiker Interesse an einer Auseinandersetzung mit ihren eigenen musikalischen Traditionen. Das war in vielen Fällen die Volksmusik des Landes oder eher noch der Region, aus der sie stammten und mit der sie verbunden waren. Das war in anderen Fällen die Kompositionstradition von Kirchenmusik bis klassische Musik. Und neben den direkt-musikalischen Momenten spielten bei der musikalischen Sozialisation immer auch außermusikalische Traditionen des Musikmachens, der Musikvermittlung, der Einbindung von Musik ins gesellschaftliche und Gemeindeleben eine wichtige Rolle. In den letzten Jahren nun finden sich im zeitgenössischen Jazz einige Musiker, die sich mit mittelalterlicher europäischer Musik auseinandersetzen – teils in Zusammenarbeit mit Ensembles, die sich auf die Interpretation solcher Musik spezialisiert haben, teils in ganz eigenen stil- und zeitübergreifenden Projekten.

2. Parallelen zwischen Jazz und mittelalterlicher Musik

Es wäre vermessen, an dieser Stelle konkrete Bezüge zwischen Jazz und mittelalterlicher Musik postulieren zu wollen. Doch gibt es zumindest im Ansatz Entwicklungsparallelen, die weniger im Musikalischen selbst als vielmehr im Umgang mit der Musik liegen, in der Musikvermittlung, der Tradition und Geschichtlichkeit. Frühe Mehrstimmigkeit und Jazz nämlich haben eines gemein: Sie entstanden zu einer Zeit, als sich Dokumentations- und Überlieferungsmethoden der Musik änderten. Im einen Fall ist dies die exaktere und damit auf verschiedenen Ebenen besser nachvollziehbare Notation, im anderen Fall der kommerzielle Erfolg und die technische Verbesserung der Schallaufzeichnung. Dass Vermittlungsmedien Kultur- und Kunst-Geschichte beeinflussen, ist nicht neu. Gerade die frühe Mehrstimmigkeit und der Jazz aber stehen an den Wegscheiden wichtiger Entwicklungen und wären ohne die Einführung und Durchsetzung neuer, ihrer speziellen Ästhetik angemessener Aufzeichnungsmethoden nicht so erfolgreich, nicht so einflussreich gewesen, als wie sie sich mittlerweile erwiesen haben. 

Eine zweite Parallele hängt eng mit der ersten zusammen. Mit der Aufzeichnung mehrstimmiger Kompositionen trat genauso wie mit den ersten Schallplattenaufnahmen der kreative Künstler als Individuum in den Vordergrund, wurde die Musik, die zuvor Allgemeingut war, deren Ursprung nicht bei einzelnen Personen, sondern in langen, weit zurückliegenden Traditionen lag, zu einer Kunst, der einzelne Komponisten oder Musiker im Hier und Jetzt ihren Stempel aufdrückten. Leonin und Perotin sind damit in der Personalisierung der Musik vergleichbar mit Sidney Bechet und Louis Armstrong: Sie sind Urheber einer Musik, deren Wurzeln, Regeln und Gesetze weit in der Vergangenheit liegen, der sie aber durch eigene Kreativität individuelle Seiten abgewinnen, so dass die Ergebnisse ihrerseits für die Zukunft stilbildend sind.[1]

Die Geschichte des Jazz wäre ohne das Medium der Schallplatte genauso anders verlaufen wie die Geschichte der westlichen Musik ohne die Entwicklung einer exakten Notation. Auf den grundlegenden, diese Parallelen sogleich relativierenden Unterschied sei allerdings sofort verwiesen: Die Entwicklung der Notation im Mittelalter folgte dem Bedarf einer komplexer werdenden und eine genauere Notation erfordernden Musiktheorie; der Jazz nutzte ein gleichzeitiges, aber von seiner Entwicklung im Prinzip unabhängiges Medium.

Lassen wir uns dennoch auf einen Vergleich ein: Die Entwicklung der Musikpraxis im Mittelalter erforderte also eine exaktere Notation. Diese wiederum veränderte die Musikgeschichte, weil sie ihre Überlieferungstraditionen veränderte. Sie veränderte die Musikgeschichte, weil beispielhafte „Werke“ nun nicht mehr nur in Legenden lebten, sondern immer genauer nachvollziehbar, wiederholbar, für die Lehre beispielhaft wurden und zum konkreten Vergleich herangezogen werden konnten: sowohl im Hören als auch und vor allem im Lesen. Ähnliches gilt für den Jazz. Erst durch die Einführung der Schallplatte ergab sich für Musiker wie Hörer die Möglichkeit, frühere Stufen seiner Geschichte nachzuvollziehen, zu vergleichen, ja sogar zu notieren. 

Die Geschichte der westlichen Musik führt mit Hilfe der exakten Notation hin zur Kunst- und Werkästhetik, in deren theoretischer Rezeption das Medium – das Notenbild – oft mehr gilt als die Sache selbst, nämlich die klingende Musik. Die Geschichte des Jazz produziert ganz ähnlich ab Mitte der 20er Jahre Aufnahmen, die als „Meisterwerke“ angesehen werden und fortan als stilistischer Maßstab gelten[2].

3. Mittelalterlicher „Third Stream“: Jan Garbarek & Hilliard Ensemble, Orlando Consort & Perfect Houseplant

Als die Plattenfirma ECM 1993 die CD Officium mit Jan Garbarek und dem Hilliard Ensemble herausbrachte, war die Kritik begeistert. Zu ungewöhnlich schien das Projekt, zu disparat die musikalischen Welten, die da aufeinandertrafen: die kunstvoll geformte, für moderne Ohren dennoch irgendwie exotisch klingende Mehrstimmigkeit des Mittelalters in der Interpretation des Hilliard Ensembles und die afro-amerikanischen Musiziertraditionen verpflichteten Saxophonimprovisationen des norwegischen Jazzstars. Jazzer waren so etwas gewohnt, für sie war das neueste Projekt Jan Garbareks nur bedingt eine Überraschung: Der europäische Jazz hatte sich seit den 60er Jahren diversesten Formen für moderne Ohren „exotischer“ Musiktraditionen angenommen. Ob baskische Volkstänze, italienische Banda, indische Ragas, Schweizer Jodelrufe, sibirischer Obertongesang… alle möglichen, zum Teil uralten Genres volksverbundener Musik fanden ihren Widerhall in der Arbeit zeitgenössischer Jazz-Instrumentalisten.

Viele Jazzmusiker beschäftigten sich mit volksverbundenen Genres dabei nicht nur, weil sie darin ihre eigene Identität gespiegelt sahen oder weil sie sich von fremden Kulturen beflügeln lassen wollten, sondern aus einer Faszination mit jahrhundertealten, meist oral überlieferten und zum Teil noch heute lebendigen Traditionen. Auch Jan Garbarek hatte in seiner Karriere vielfach an solchen Experimenten teilgehabt: in der Verwendung der Windharfe („Dis“, ECM 1983 vom Dezember 1976), in Improvisationen über norwegische Volksmusik oder, ganz generell, in jener Art „nordischem Ton“, der im 19. Jahrhundert für einen Teil der skandinavischen Kompositionsentwicklung postuliert wurde und den man – allerdings auf ganz anderer Ebene – auch im Sound des norwegischen Tenorsaxophonisten wiederzufinden meint.[3]

Jan Garbarek + Hilliard Ensemble: Officium (1993)

Die CD Officium[4] von Jan Garbarek und dem Hilliard Ensemble entsprach der Offenheit beider Partner, neue Wege einzuschlagen: Das Hilliard Ensemble war keineswegs nur für seine Interpretationen mittelalterlicher Vokalmusik berühmt.[5] Ihm wurden auch von zeitgenössischen Komponisten Werke auf den Leib geschrieben. Jan Garbarek wiederum hatte sich seit den frühen 70er Jahren intensiv mit Grenzbereichen des Jazz auseinandergesetzt, mit norwegischer Volksmusik genauso wie mit Kirchenmusik. Für die Realisation des Projekts war es durchaus förderlich, dass sowohl Hilliard als auch Garbarek bei der Plattenfirma ECM unter Vertrag standen. Tatsächlich ist ECM’s Produzent Manfred Eicher entscheidend für die Idee der CD mitverantwortlich. Er hatte den Anstoß mit der Bemerkung gegeben, er könne sich gut vorstellen, dass sich Jan Garbareks Saxophon ins Stimmgerüst von Perotins „Beata viscera“ weben lasse. Officium wurde im Mai 1993 im österreichischen Kloster St. Gerold aufgenommen. Die Mitglieder des Hilliard Ensemble erklären verschmitzt: „We’re singing various medieval and renaissance numbers, and Jan’s adding the sax parts that the composers didn’t get around to writing at the time.“[6]

Die Auseinandersetzung der beteiligten Musiker mit der mittelalterlichen Tradition geschah in Officium auf drei Ebenen: „a notional pre-Gregorian chant, experimenting with ideas that might have been current before things were standardised (…); early polyphony, where it was possible to have many versions of the same piece; and renaissance polyphony that might provide chordal structures familiar to a jazz musician.“[7] Ausgangspunkt des Albums waren also konkrete Kompositionen, Ausgangspunkt war auch – jedenfalls von Seiten der Hilliard-Mitglieder – eine Art Werk- oder zumindest Genre-Treue: das Experimentieren mit Ideen, die vielleicht vor einer Standardisierung des Gregorianischen Repertoires existiert haben könnten; die Benutzung früher Polyphonie, in der schon ursprünglich die Möglichkeit bestanden hatte, ein Stück in mehreren Versionen erklingen zu lassen; die Verwendung harmonischer Gerüste, die als Changes für Jazz-Improvisationen umgedeutet werden konnten. Die Experimentierfreudigkeit der Hilliard-Mitglieder kam dem Projekt zugute: Ensembles mittelalterlicher Musik müssen sich grundsätzlich mit aufführungspraktischen Problemen auseinandersetzen, die Quellen hinterfragen, dabei letztlich aber doch immer sehr persönliche Entscheidungen über Artikulation, Rhythmik, Tempi etc. treffen, da auch die zeitgenössischen Musiktraktate, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in diesen Bereichen kaum konkrete Hinweise geben können. 

Orlando Consort + Perfect Houseplants: Extempore (1997)

Im Juni 1997 ging das Vokalensemble Orlando Consort mit Jazzmusikern ins Studio. Das gemeinsame Projekt war unabhängig von und bereits vor dem Officium-Album geplant worden. Ihre Zusammenarbeit mit dem Jazzquartett Perfect Houseplant mischt die Welten mittelalterlicher Vokalmusik und afro-amerikanischer Improvisation allerdings auf ganz andere Art und Weise. Auf der CD Extempore[8] tritt nicht wie in Officium ein Saxophonist quasi als fünfter „Sänger“ zum Vokalquartett, sondern steht den Sängern ein mit Saxophon, Klavier, Kontrabass und Schlagzeug konventionell besetztes Jazzquartett gegenüber. Auf ihrer Internet-Seite erklärt das Orlando Consort: „This music mainly explores, develops and improvises around and upon C.12th and C.13th music. Based on the premise that the original performers were all improvisers and that the links between contemporary and original singers have all but eroded, this project aims to recover a new spirit of authenticity in the foregrounding of improvisation and re-composition.“[9] Mittelalterlicher Ausgangspunkt sind einstimmige Hymnen („Entering and Leaving“), frühe Notre-Dame-Monophonie („South Wind“) oder Montagen französischer Conductus („Preceding“). In „South Wind“ beginnt Saxophonist Mark Lockhart mit dem straightgespielten Thema. Die solistische Tenorstimme singt daraufhin die erste Textstrophe über zurückhaltend-jazziger Begleitung. In der zweiten Strophe kommt das jazzig intonierte Sopransaxophon im Unisono hinzu. Ein swingendes Klaviersolo führt den Hörer in die Welt des modernen Mainstreams, bevor eine Themenreprise das Stück beschließt. „St. Martial“ besitzt begrenzt rhythmisch-improvisatorische Momente bereits im Vokalthema. Hier wechseln sich zweistimmige Gesangspartien und Bariton-Saxophon-Duette ab; darunter legen Perkussion und Kontrabass eine rhythmisch intensive Begleitung. In „Modus II, III, IV, VI“ und „Quasi“ wagen sich auch die Sänger an eine Improvisation, die allerdings den modalen und rhythmischen Prinzipien mittelalterlicher Musiktheorie mehr entspricht als den Regeln des Jazz. Das lyrische „Sanctus Fontorum“ dagegen wirkt in der Überlagerung der Vokalstimmen durch die Instrumentalisten bald wie eine originäre Jazzballade.

Trotz der verschiedenen stilistischen Herkunft der beteiligten Ensembles klingt Extempore doch wie aus einem Guss. Wie bei Garbarek aber – und übrigens auch wie bei frühen Beispielen des Third Stream aus den späten 50er und frühen 60er Jahren – stehen sich die Welten zwar versöhnlich, aber doch immer klar erkennbar als unterschiedliche musikalische Traditionen gegenüber. Für einen anderen Ansatz steht Michael Riessler. In seinen Projekten seit den frühen 90er Jahren nähert sich der Klarinettist und Komponist diversen Traditionslinien europäischer Musik mit dem Ziel, aus den Wurzeln der europäischen Kunst- und Volksmusik eine neue Musik zu schaffen, die auf spielerische Weise Komposition und Improvisation miteinander verbindet.[10]

4. Folklore imaginaire und imaginäres Mittelalter: Michael Riessler

Michael Riessler gehört zu den Musikern der jüngeren Generation, die – länderübergreifend – eine Vermählung ihrer musikalischen Identitäten versuchen: als Jazzmusiker und Europäer. Als der europäische Jazz in den 60er Jahren begann, ein eigenes, von den Entwicklungen in den USA unterscheidbares Gesicht zu entwickeln, stellte gerade dieses unterscheidbare Moment sich schnell in Bezug auf die individuellen, persönlichen und nationalen Musikkulturen und Musiktraditionen dar. Verkürzt gesagt: Im Saxophon-, Klarinetten- und Akkordeonspiel Michel Portals schwang genauso viel französische Volksmusiktradition mit wie im Trompetenspiel Enrico Ravas italienische Sanglichkeit. Anders als in romanischen und osteuropäischen Ländern fanden westdeutsche Musiker ihre Identität oft genug höchstens in der Kompositionstradition ihres Landes. Die Auseinandersetzung mit Volksmusik war deutschen Musikern nach den Bemühungen des Dritten Reiches, jede Art von „Volksbräuchen“ für seine Zwecke zu missbrauchen, schwer bis unmöglich geworden. Sie beschäftigten sich stattdessen intensiv mit Komposition aus dem Bereich der Neuen Musik – manchmal vielleicht auch nur deshalb, weil Komponisten Neuer Musik anfingen, die Klangfarben improvisierender Jazzmusiker für ihre Werke zu nutzen. 

Michael Riessler ist im Leben wie in der Musik französischen und deutschen Traditionen verbunden. Er lebt zwischen Köln und Paris, arbeitet in der zeitgenössischen E-Musik wie im Jazz, ist Dozent der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik genauso wie Musiker beim Darmstädter Jazzforum. Daneben steht Riessler auch in einer sehr französischen Traditionslinie, die sich in der Musik der ARFI (der Association à la recherche d’un folklore imaginaire) am deutlichsten darstellt: einer bewussten Auseinandersetzung mit verschiedensten nationalen (oder folkloristischen) Traditionen, die allerdings weniger „benützt“ werden als vielmehr der Inspiration für die eigene improvisatorische Arbeit dienen sollen. Das Konzept der „folklore imaginaire“ ist grundlegend für das Verständnis der Projekte, in denen Michael Riesslers sich neben vielen anderen Genres auch der mittelalterlichen Musik nähert, und soll daher in einem Exkurs näher vorgestellt werden. 

Exkurs: ARFI und die folklore imaginaire

Französische Musiker wie Michel Portal, François Tusques, Bernard Lubat, Henri Texier und andere spielten immer wieder mit den folkloristischen Traditionen der Bretagne, der Provence oder anderer Gegenden ihres Landes. Instrumente wie Akkordeon und Klarinette spielten im französischen Jazz eine wichtigere Rolle als sonstwo in Europa, was vor allem darin begründet liegen mag, dass französische Musiker sich besonders früh ihrer nationalen musikalischen Identität bewusst wurden. Vielleicht lässt sich diese Tatsache durch die besondere Situation Frankreichs als eines kulturellen Zentralstaats erklären, dessen Kulturzentrum Paris es den Nebenzentren schwer machte, national wahrgenommene Identitäten zu entwickeln. Vielleicht hat die häufige Verwendung einer nationalen Folklore auch mit der Tatsache zu tun, dass der moderne Jazz in Frankreich mehr als in anderen europäischen Ländern in erster Linie eine Musik der Intellektuellen und damit auch eine politische Musik war. Französische Musiker jedenfalls verstanden den Jazz spätestens ab den 60er Jahren nicht nur als eine spannende, moderne amerikanische Musik, sondern sahen in ihm darüber hinaus auch die Möglichkeit, ihre eigene Identität auszudrücken, eigene Spieltraditionen einzubringen.

Die ARFI gründete sich Mitte der 70er Jahre in Lyon als Zusammenschluss mehrerer Musiker, die zuvor vor allem in zwei Bands aktiv waren: dem Free Jazz Workshop oder Workshop de Lyon sowie der Marvelous Band. Zum Kern dieser Szene zählten Bassist Jean Bolcano, Saxophonist Maurice Merle, Trompeter Jean Mereu, Schlagzeuger Christian Rollet, Pianist Patrick Vollat, Klarinettist Louis Sclavis – insgesamt etwa fünfzehn Musiker. Die ARFI war damit eine Musikerinitiative, wie sie sich zur selben Zeit auch anderswo in Europa gründeten. Ihr Ziel war das Ziel aller Musikerinitiativen: gemeinsamer Erfahrungsaustausch, das Schaffen von Spielmöglichkeiten und neuen Auftrittsorten, die Entwicklung von Unterrichtsprogrammen etc. Ekkehard Jost zitiert in seinem Buch Europas Jazz eine programmatische Verlautbarung der ARFI: „Die Improvisation ist die Tradition einer spielerischen Organisation der Klänge: ein Instrument spielen; mit dem Instrument spielen; mit der Erinnerung an Klänge spielen, die im Augenblick zuvor produziert werden; mit anderen Musikern spielen, in einer komplexen Verbindung mit dem Hörer, dem Zuschauer; mit der Stimme und mit dem Körper spielen; emotionale Zusammenhänge herstellen; eine neue Folklore schaffen – all dies sind die Entwicklungsstufen der musikalischen Improvisation. Das Spiel ist der Garant für die Vertrautheit mit der Musik, für die Unmittelbarkeit der Aktionen und für die gegenseitige Nähe.“[11] Wichtigste Vokabel in diesem Programm ist das Wort „spielen“, daneben wird vor allem das Moment der musikalischen Kommunikation beschrieben – zwischen Musiker und Musiker, zwischen Musiker und Publikum – sowie die Reaktion auf Vorhergegangenes, im weitesten Sinne also auf Tradition. Mit ihrer „imaginären Folklore“ hoffte die ARFI, eine vertraute Kommunikation mit dem Hörer schaffen zu können, einen „emotionalen Zusammenhang“. 

Nach außen wurde die ARFI vor allem durch den Workshop de Lyon vertreten, eine seit 1967 bestehende Quartett- bis Quintett-Besetzung. Ursprünglich hatte der Workshop de Lyon sich Free Jazz Workshop genannt. Ein programmatischer Text erklärt das Konzept: 

Free: libre. Les musiques de l’homme sont innombrables, mais bien peu sont actuellement libres. Une musique libre est une musique qui a chaque instant crée et invente sa propre réalité.

Jazz: Langage musical issu du peuple noir amÉricain et devenu universel. Musique chaude, sensuelle, musique de la vie.

Workshop: Atelier. La création musicale nÉcessite l’étroite connection entre la vision du monde et le travail. Particulier de l’instrumentiste

Le Free Jazz Workshop se particularise en ce sens que sa musique appartient à la tradition chaude, sensuelle et irrationelle du jazz. Plus que la force individuelle de ses 4 composants, il faut retenir l’Énergie collective du groupe, est-ce pour ces raisons que le F.J.W. arrive a rallier les publics les plus divers?[12]

In der weiteren Beschreibung der Gruppe und ihrer Mitglieder finden sich Begriffe wie „recherche“, „collectif“, „experience musicale“, mit denen die verschiedenen Punkte der zitierten musikalischen Eigencharakteristik unterstrichen werden: Suche = Experiment; kollektives Zusammenspiel = Kommunikation; musikalische Erfahrung = musikalische Tradition. 

Der Begriff „folklore imaginaire“ – so viel wird vielleicht deutlich – ist nicht so sehr Beschreibung als vielmehr Hinterfragen ebendieses Terminus‘. Man analysiert, was Folklore ausmacht – Kommunikation, gemeinsame Erfahrung, gemeinsame Traditionsbezüge –, und formt nach diesen Kategorien eine eigene, eine neue, aber eine nicht wirklich reale „Folklore“: eine imaginäre Folklore, die sich nicht etwa auf jahrhundertalte Traditionen bezieht, sondern auf die vielleicht gerade eben erst gehörte, gemeinsam gemachte musikalische Erfahrung. Wir haben es also mit einer eher philosophischen Auffassung des Begriffs zu tun. Und wir sollten bei allen Erklärungen den Humor nicht vergessen, der gerade im französischen Jazz seit den 60er Jahren immer eine wichtige Rolle spielte. Surrealismus war und ist in Frankreich nach wie vor ein wichtiges Mittel musikalischer Kommunikation, und auch die Theorie der „folklore imaginaire“ ist nur zu verstehen, wenn man neben dem musikalischen Ernst auch das Augenzwinkern der beteiligten Musiker bemerkt.

Der Workshop de Lyon bezog sich nirgends direkt auf die Anfänge der europäischen Kunst- und Volksmusik, so wie Michael Riessler dies in den 90er Jahren tat. Aber insbesondere in Kenntnis der späteren Aufnahmen Riesslers kommt man um die Feststellung von Parallelen schwer herum. 

Workshop de Lyon: La chasse de Shirah Sharibad (1975)

Ekkehard Jost konstatiert in der Musik des Workshop de Lyon zwei thematische Typen: melodisch orientierte (selten kantable) Themen sowie zirkuläre Themen, deren Entwicklung nicht so sehr aus der melodischen Veränderung als vielmehr aus der Änderung im Zusammenklang entsteht. Nehmen wir als Beispiel für die Musik des Workshop das Stück „Telie“[13], eingespielt im September 1975: Das zweiteilige Stück besteht im ersten Teil aus einer durchgehenden arco-Bassbegleitung mit darübergelegten improvisierten Saxophonpartien, im zweiten Teil aus einem hymnenhaften, sich dynamisch steigernden Thema über teils chromatisch, teils diatonisch ansteigender Begleitung mit improvisierten Zusammenklängen der beiden Saxophonisten. Das kommunikative Moment steht im Vordergrund vor der Zurschaustellung instrumentaler Virtuosität. Die Musik besitzt klare, durchsichtige Strukturen, die durch geänderte Spielhaltungen, neue Instrumentalkonstellationen gekennzeichnet sind. Der Ansatz ist vom kammermusikalisch-dialogischen Beginn über den gepressten, Schalmei-artigen Saxophonsound bis zu den improvisierten Zusammenklängen der beiden Saxophonisten vor allem klangorientiert.

Workshop de Lyon: Musique basalte (1981)

Im relativ kurzen „Moulin Noir“[14] vom Oktober 1981 folgt einem rahmenden, folkloristisch wirkenden Thema ein Klarinettensolo über rhythmisch irritierender, vollständig abgesprochener melodisch-rhythmischer Begleitung. Das Klarinettensolo scheint genauso Elemente aus Klezmer-Musik zu enthalten wie aus einer unbestimmten regionalen Volksmusik. Im „Chant Bien Fatal“[15], ebenfalls vom Oktober 1981, wird das sehr sangliche, deutlich strukturierte Thema vom Saxophon über gestrichenem Bass vorgestellt. Hier gibt vor allem die Parallelführung von Klarinette und gestrichenem Kontrabass dem Sound etwas seltsam Folkloristisches. Nach der Themenexposition steht in einer Art Klangimprovisation das Zusammenspiel im Vordergrund. Die relativ kurzen Stücke der gesamten LP Musique Basalt stellen nur selten einzelne Solisten in den Vordergrund. Selbst in freiesten Improvisationspassagen bewirken die deutlichen Reaktionen der Musiker aufeinander, bewirkt die Durchhörbarkeit der musikalischen Strukturen eine leichte Verfolgbarkeit des musikalischen Ablaufs. Ausgeprägt wilde Kollektivimprovisationen wie in „Trois pour Deux“[16] sind da die Ausnahme.

Aus dem Kreis der ARFI stammen einige Musiker, die heute zu den gefragtesten Jazzern Frankreichs gehören. An erster Stelle ist der Klarinettist Louis Sclavis zu nennen. Sein Trio de Clarinettes gehört zu den gefeierten kammermusikalischen Ensembles des zeitgenössischen Jazz. Sclavis machte sich für das Trio wie für andere seiner Projekte die Erfahrungen der ARFI zunutze: Auch in seiner Musik tritt die immer vorhandene und immer auch gezeigte Virtuosität der einzelnen Musiker hinter die kollektive Erfahrung, das kollektive Zusammenspiel zurück.

Michael Riessler lernte die Idee einer „folklore imaginaire“ 1978 kennen, als er Mitglied des Pariser Ensembles Musique Vivante wurde, dessen Musiker auch in der Welt des Jazz und der improvisierten Musik daheim waren. Von 1989 bis 1991 war Riessler Mitglied des französischen Orchestre National de Jazz, das damals vom Gitarristen Claude Barthelemy geleitet wurde. Seit 1991 macht Riessler mit eigenen Projekten von sich reden, an denen fast immer auch französische Musiker beteiligt sind: der Drehleierspieler Valentin Clastrier, der Tubaspieler Michel Godard, der Akkordeonist Jean-Louis Matinier, der Kontrabassist Renaud Garcia-Fons. 

Riesslers Bezug aufs Mittelalter hat vor allem drei Säulen: 

  1. die Benutzung alter, zum Teil mittelalterlicher, zum Teil an mittelalterlichen Vorbildern sich orientierender Instrumente, wie sie in heutiger Musik kaum Verwendung finden – Drehleier, Tambourin, Sackpfeife;
  2. die Verwendung mittelalterlicher musikalischer topoi (v.a. in Melodik und Rhythmik) oder Themen – nie allzu wortgetreu, eher interpretierend;
  3. der Bezug auf ein Philosophie- und Lebensverständnis, bei dem Experiment und der Aufbruch zu Neuem im Vordergrund steht.[17]

Riesslers Bezug aufs Mittelalter ist dabei weit weniger klar, als es die Besetzung oder programmatische Plattentexte vielleicht erwarten ließen. Allerdings ist natürlich auch die Dokumentationslage mittelalterlicher Instrumentalmusik weitaus schlechter als die zur Vokalmusik. Im Covertext zu Héloise, einer Auftragskomposition für das Donaueschinger Musikfestival 1992, merkt Riessler an: „Il s’agit d’un projet de ‚jazz‘ pour lequel le principe de l’improvisation ne se limite pas uniquement au thème et à l’harmonie mais intègre Également, et tout particulièrement, des styles historiques de la tradition musicale européenne remontant au Moyen-Age: un Moyen-Age dans lequel, par exemple, des influences arabes parvenaient à l’Europe et dans lequel dominait une complicité harmonieuse entre le jeu modal et la technique de basse générale.“[18]

Michael Riessler: Tentations d’Abélard (1995)

In den CDs Tentations d’Abélar[19] und Héloise[20] spielen Bezüge auf mittelalterliche Musik auf verschiedenen Ebenen eine Rolle. Da ist zum einen ganz vordergründig der Bezug im Titel, im Programm der jeweiligen Kompositionen. Die Stücke in Héloise beispielsweise heißen „Wilhelm von Champeaux“, „Lais“, „Quanta qualia“, jene in den Tentations d’Abélard „Sequentiae“, „St. Denis“, „Die Horen des Astrolabius“ oder „Cantus“ und beziehen sich sämtlich auf die bekannte Liebesgeschichte zwischen Abélard und Héloise. Da ist zum zweiten die Instrumentation mit Drehleier, Serpent und Tabourin, aber auch mit Oud, Akkordeon, Harfe und Zymbalon – also eine Vermischung mittelalterlicher Instrumente mit solchen aus unterschiedlichen europäisch-arabischen Musikkreisen. Da sind zum Dritten innermusikalische Verweise, die sich teils aus klanglichen, teils aus harmonischen, rhythmischen oder melodischen Klischees ergeben. Die Bezeichnung „Klischee“ ist dabei nur eine Umschreibung dessen, was Riessler selbst als „Spuren“ bezeichnet, die er dem Hörer anbiete, um ihn in bestimmte musikalische Welten zu führen. In den Abélard– und Héloise-Suiten bleiben die einzelnen Stücke zumeist in einem Idiom. Riessler schafft Vermittlungen zwischen den meisten Kontrasten, selbst dort, wo die Sätze der Komposition ohne Pause ineinander übergehen. 

Michael Riessler: Héloise (1993)

Die Komposition „Und“ aus Héloise beginnt mit einem jazz-gemäß intonierten Kontrabass-Ostinato von Renaud Garcia-Fons. Darüber folgt ein schnelles, fusion-artiges Thema, unisono gespielt von Tuba und Bassklarinette. Das Tuba-Solo über einem neuen, rhythmisch intensiven Ostinato von Akkordeon, Bassklarinette, Tambourin und Drehleier zentriert sich auf Improvisationen zu sich abwechselnden Klangflächen über Des-Dur und E-Dur. Eine darauffolgende polyphone Partie der Melodieinstrumente wird von einem balkanisch anmutenden Zymbalonteil abgelöst, über den sich abschließend nochmals fusion-artige Unisono-Phrasen von Bassklarinette und Tuba drängen. 

„Lais“ aus Héloise beginnt mit einem scheinbar mittelalterlichen Troubadour-Thema, vorgetragen im imitativen Dialog von Drehleier und den restlichen Melodieinstrumenten. Der Mittelteil enthält ein virtuoses, über weite Strecken in Zirkularatmung geblasenes Klarinettensolo über einer orgelpunkt-artigen Begleitung von Bass (Akzente jeweils auf den Zählzeiten 1, 4 und 3 zweier aufeinanderfolgender Takte), Zymbalon und Akkordeon. Ein leicht variiertes Themenstatement schließt dieses Klarinettenfeature ab.

„Quanta qualia“ aus Héloise ist ein ausgesprochen original klingendes klagendes Lied. Das (d-)dorische Thema wird von der Serpent zur gitarrenartig gespielten Oud und einem Bass-Orgelpunkt vorgetragen. Serpent und Oud stimmen ein zweites Thema an, das in einen imitativen Dialog verschiedener Instrumente übergeht. Das Thema wird schneller, dabei ein wenig jazziger intoniert und plötzlich durch eine dudelsackartige Improvisation der Drehleier über rhythmisch intensivem Vollklang von Bass und Perkussion abgelöst, die ihrerseits die Grundlage für eine hymnisch-langsame Serpent-Melodie abgibt. Eine Reprise des klagenden Anfangsthemas beschließt die Aufnahme.

Michael Riessler: Honig und Asche (1997)

In der Auftragskomposition für die Musik-Biennale Berlin 1997 Honig und Asche (Melisande = miel et cendre) arbeitet Rießler noch deutlicher als in anderen seiner Kompositionen mit dem Moment der Ironie. Das Rießler-Ensemble setzt sich für diese Komposition aus doppelt besetzten Instrumentengruppen zusammen: zwei Trompeten, zwei Posaunen, zwei Holzbläser, zwei Streicher, zwei Perkussionisten, Akkordeon, Bass und vor allem: zwei Sängerinnen. 

Mit dem Einsatz der Stimmen gelingt Riessler die Botschaft noch klarer: Zitate oder auch Annäherungen an Zitate sind selten ernst zu nehmen. Zur Erklärung: Die gesamte Komposition besteht aus Texten unterschiedlichster Quellen. Riessler selbst nennt: Raymond Quenneau, Raymond Federman, Oskar Pastior, Friedrich Achleitner und das Langenscheidt Handwörterbuch, Schulausgabe.[21] Da gibt es einen deklamierten Text in „zungen“, in dem die Sängerin die Probleme des Komponisten beim Niederschreiben seiner Komposition vorträgt. Im emotional äußerst intensiv gehaltenen „piccola cosmogonia portabile“ werden Worte in kürzeste Silben gehackt, die dann das Spiel des gesamten Ensembles bestimmen: eine kurz-nervöse Atemlosigkeit über rockigen Rhythmen. „en“ beginnt mit simplen, von den Streichern vorgetragenen Akkorden, über denen die Sängerin leise summt und flüstert. Ihr Lied über einem Orgelpunkt und vielen harmonischen oder auch harmonisch irritierenden Haltetönen nutzt melismatische Wendungen, die – sicher auch im Zusammenspiel mit dem Hall der Aufnahme – durchaus Erinnerungen an mittelalterlich-sakrale Sologesänge aufkommen lassen. Aber Rießler selbst sieht solche Verweise nur als „gelegte Spuren“: „Was mich interessiert, ist Spuren legen; permanent jemanden in eine Richtung bringen und dann plötzlich… ah, es geht hier weiter!; nichts Vorhersehbares zu machen. Das ist der Sinn dieser Überlagerungen.“[22] Und so wandelt sich die Stimme am Ende vom melismatischen Schönklang zu einem schmerzlichen Krächzen. Im sich anschließenden „rem(us)“ gelangen wir auch auf der textlichen Ebene zurück in ein Schein-Mittelalter: ufa ufo buffo femur pouis fi fa rocco mea culpa nubis volvo croco pubis flavus tratus orbis pictus rubens tangens male rhombus male lambus davos bimbam omis taklan vale nono ecco novens bis koblenz wie abus bis rhodos im turnus nemesis mähne lautet der surreale Text, und im Duo der beiden Sängerinnen Lucilla Galeazzi und Elise Caron meint man die früheste Art einer dichten, über lange Strecken parallel verlaufenden Zweistimmigkeit durchzuhören. Riessler kontrastiert diese immerhin über drei Minuten durchgehaltene musikalische Welt mit bluesig-rockigen Bläserakzenten, die erst ein virtuoses Akkordeonsolo Jean-Louis Matiniers, dann ein jazzige Dämpfertechniken benutzendes Duett der beiden Posaunisten Yves Fabre und Michael Svoboda begleiten. Ähnlich stellt das Schlussstück „otang“ den Tango in den Mittelpunkt – deutlich hörbar in den Akkordeonpassagen. Doch auch hier werden verschiedene Stilebenen kombiniert: Die Sängerinnen haben kurze Jodelrufe auszustoßen und danach über lange Strecken lateinische Blumennamen aufzuzählen. Riessler: Es geht mir um den Inhalt des Wortes, aber nicht, um eine Geschichte damit zu machen, eine Art von Dramaturgie zu erzeugen. Ich will den Inhalt des einzelnen Wortes, des einzelnen Satzes nehmen, genau wie er ist, genau wie er klingt. Die Buchstaben sind dasselbe wie Noten.[23] Und wie mit Texten, so geht Riessler auch mit den Versatzstücken aus der Musikgeschichte um. Anders als bei John Zorn aber ist Riesslers Spiel mit den Traditionen nicht das einer musikalischen Collage. Die Versatzstücke seiner Musik sind allein schon durch die durchgehende Instrumentation miteinander verbunden. Das Tambourin Carlo Rizzis, die Nickelarpa Marco Ambrosinis oder in anderen Aufnahmen die Drehleier Valentin Clastiers sind klangliche Konstanten, die mal als Verweis auf Musikgeschichte verstanden werden können, mal vor allem des Sounds wegen eingesetzt werden oder einfach nur der Virtuosität ihrer Musiker wegen.

Michael Riessler: Poliritmia (1995)

Das Trio mit Carlo Rizzi und Valentin Clastrier ist hierfür das beste Beispiel. Rizzis erstaunliches Spiel auf dem Tambourin in Poliritmia[24] mag – übrigens auch in der Virtuosität seines Instrumentalumgangs – an das Klischee mittelalterlicher Jahrmarktstrommler erinnern. Und auch Riesslers Instrumentaltechnik besitzt ja neben aller Musikalität ein Moment des Circensischen: Wenn seine rasenden Wechselnotenpartien im Soloklarinettenstück „Zanza“[25] so schnell gespielt an Sackpfeifen erinnern, hat man den Eindruck, eine Melodie über mindestens zwei Bordunpfeifen zu hören. Ziel dieses Trios sei es, so Riessler im Plattentext, „aus den Wurzeln der europäischen Kunst- und Volksmusik eine neue Musik zu schaffen, die auf spielerische Weise Komposition und Improvisation miteinander verbindet.“[26] Die Betonungen dieses Satzes müssten fast auf jedes Wort gelegt werden: „Europa“, „Kunstmusik“, „Volksmusik“, „spielerisch“, „Komposition“ und „Improvisation“. Es ist kein großes Problem, diese einzelnen Termini unterschiedlichen Welten zuzuordnen, aus denen Riessler eben auch stammt: das Spielerische und die Improvisation dem Jazz, Kunstmusik und Komposition der zeitgenössischen (europäischen) Musik, die Volksmusik vielleicht einigen französischen und italienischen Volksmusiktraditionen, deren sich Riessler und seine Mitmusiker verbunden zeigen. Im selben Plattentext allerdings formuliert Riessler auch seine Abneigung gegen die klischeehafte Verwendung musikgeschichtlicher Versatzstücke: „Die Traditionslinien der italienischen Tarantella, der französischen Folklore, des neuen Jazz und der zeitgenössischen Musik dienen dabei nicht als oberflächliche oder nostalgische Klischees, sondern sie sind das Fundament, von dem aus neue Entdeckungen möglich werden: In jedem Moment solistisch und gleichzeitig in den Gesamtklang integriert; europäisch, indem die eigene Identität mit der der anderen kommuniziert.“[27] Aber die „Klischees“ bleiben eben doch Klischees – nur eben als Spuren, die der Komponist legen will, die auch vom Publikum erkannt werden sollen, die bewusst eingesetzt werden als Vokabeln einer gemeinsamen Musiksprache.

Michael Riesslers musikalische Rezeption mittelalterlicher Musik folgt in vielem dem Vorbild der „folklore imaginaire“, wie sie die ARFI in ihrer Musik vorgemacht hatte. Es bleibt müßig zu spekulieren, ob sich Riessler mittelalterlicher topoi in Ermangelung eines möglichen deutschen Folklorebezugs bedient habe – Riessler selbst ist viel zu sehr Europäer, als dass solche nationalstaatlichen Gedanken da eine große Rolle gespielt haben dürften. Riessler traf in seinen ganz unterschiedlichen musikalischen Unternehmungen auf virtuose Musiker, die gleich ihm an Aspekten der europäischen Musikgeschichte interessiert waren, die fernab der üblichen Konzertliteratur lag. Sie alle interessierten sich besonders für die experimentellen Seiten jener scheinbar so dunklen Epochen. Sie waren fasziniert von einer Musik, in der das Spielerische wenigstens im weltlichen Bereich den Vorrang vor dem Streng-Kompositorischen hatte, in dem die instrumentale Virtuosität nicht nur blenden, sondern auch Kontakt zum Publikum herstellen sollte. Die virtuose Technik, die Riessler und seine Mitmusiker in den verschiedenen Projekten in den Mittelpunkt stellen, ist musikalisch begründet, aber immer auch Schau, so wie die Musik auf mittelalterlichen Jahrmärkten kunstvoll war und zugleich der öffentlichen Schau diente. 

Zusammenfassung:

Probleme und Chancen einer Auseinandersetzung des zeitgenössischen Jazz mit mittelalterlicher Musik ähneln in vielem den Problemen und Chancen des Third Stream in den späten 50er und frühen 60er Jahren. Bei einer Begegnung von zeitgenössischer E-Musik und Jazz-Avantgarde waren für beide Bereiche Musiker vonnöten, die über die Grenzen des eigenen Genres hinwegzublicken bereit waren und die sich auf die Besonderheiten der jeweils anderen Seite einlassen konnten. Der Third Stream wurde eigentlich erst in den späten 70er und 80er Jahren zu einer ästhetisch befriedigenden Musik, als durch eine stilistisch breitere Musikausbildung Instrumentalisten gefördert wurden, die in mehr als einem Stilbereich zu Hause waren. Kompositionen von Anthony Braxton, Franz Koglmann oder Anthony Davis fordern Musiker, die ausgesprochen komplexe komponierte Parts perfekt realisieren können und zugleich exzellente Improvisatoren sind. Die Auseinandersetzung mit mittelalterlicher Musik scheint ähnliches zu verlangen. Die Mitglieder des Hilliard Ensemble und des Orlando Consort haben sich nicht nur theoretisch mit der Bedeutung der Improvisation in mittelalterlicher Musik befasst, sondern müssen auch ganz praktisch für die Realisierung ihres eigenen Repertoires aufführungstechnische Entscheidungen treffen, die weit über das Interpretieren klassischer Kompositionen hinausgehen.[28] In ihren Jazz-Projekten allerdings bleibt das Ergebnis vor allem eines der klanglichen Begegnung, nicht der musikalischen Vermittlung: Die Gruppe Perfect Houseplant und das Orlando Consort nehmen zwar immer wieder aufeinander Bezug, musizieren aber eigentlich jeweils in ihrer eigenen Welt. Das Resultat ist dabei durchaus spannend und keineswegs banal. Der Versuch einer auch innermusikalischen Vermittlung wird von vornherein kaum angegangen. Jan Garbarek und das Hilliard Ensemble gehen anders vor. Hier kommen die klanglichen Eigenheiten des Saxophonisten einer Vermittlung entgegen – Garbareks Partie setzt sich zwar durchaus disparat über den Vokalsatz, wirkt dennoch gleichsam fast wie eine fünfte Vokalstimme. Allein der Einsatz der Sänger aber bindet beide Projekte an die sakral-klanglichen Klischees eines Vokalensembles für frühe Musik. 

Michael Riessler scheint da musikalisch gleichsam vor den Dom zu treten, stellt das spielerische Moment in den Vordergrund. Er versucht die Übersetzung einer frühen europäischen Klangästhetik in die heutige Zeit. Die wichtigste Rolle spielt dabei in seinen Stücken der Vorrang der Improvisation. Riessler versteht die Auseinandersetzung mit alter Musik nicht als bloße Gegenüberstellung oder kritikloses Zitieren, sondern als stilistische Erweiterung seines musikalischen Vokabulars. Dieses wiederum besteht nicht nur aus mittelalterlichen Versatzstücken, sondern benutzt genauso Material aus der Neuen Musik, aus dem Jazz, aus der Folklore verschiedener Länder und Kontinente. Riesslers Besetzungswahl fällt meist auf Musiker, die sich kultureller Eigenheiten der Länder und Gegenden, denen sie entstammen, bewusst sind. Er baut auf die Meisterschaft seiner Mitmusiker, führt verwendete Klischees sofort vom reinen, durchaus auch witzigen Verweischarakter fort, um sie in ein größeres, im Höreindruck weit weniger als in der Beschreibung beliebig wirkendes Konzept einzubringen. Wo die Projekte Garbarek/Hilliard und Perfect Houseplant/Orlando Consort eher an frühe Experimente des Third Stream erinnern, bei denen sich die Welten bei aller Sympathie eben doch blockhaft gegenüberstanden, gelingt Riessler eine überzeugende Vermittlung, eine spannende Neudefinition alter Musizierpraktiken. Bei alledem beruft er sich übrigens durchaus bewusst auf grenzüberschreitende, wahrhaft „europäische“ Traditionen. 

Letztlich sind alle hier diskutierten Projekte von Seiten des Jazz her gesehen exotische Versuche, mit einem für Jazzmusiker neuen Repertoire zu arbeiten. Sie sind Resultat der in den 80er Jahren begonnenen ästhetischen Maxime des „anything goes“. Sie werden weder einen neuen Stil des Jazz bilden noch die Interpretation früher Musik revolutionieren. Sie können aber helfen, Ohren zu öffnen und die oft viel zu streng gezogenen Grenzlinien zwischen den musikalischen wie ästhetischen Idealen zu überbrücken. Und das ist in beiden Sparten keine geringe Leistung.


[1] Natürlich fand die Personifizierung im hohen Mittelalter durchaus auch in anderen Kunstsparten statt und ist damit nicht bloß, aber eben auch im Zusammenhang mit der Verschriftlichung zuvor oral tradierter Musik zu sehen.

[2] Als die ersten bedeutenden Jazzmusiker (Armstrong, Ellington) in den 30er Jahren nach Europa kamen, wurde Ihnen von den Fans erstaunt vorgehalten, dass ihre Soli ganz anders klängen als die Schallplatteneinspielungen, die man als Maßstab für ihren Stil vor Ohren hatte. Und selbst heute kann man noch ähnliche Reaktionen beobachten, wenn man uneingeweihte, nur mit der klassischen Notationstradition vertraute Musikhörer mit Jazzimprovisationen konfrontiert.

[3] Vgl. Heinrich W. Schwab: Das Lyrische Klavierstück und der nordische Ton, in: Friedhelm Krummacher und Heinrich W. Schwab (Hgg.): Gattung und Werk in der Musikgeschichte Norddeutschlands und Skandinaviens, Kassel 1982 (Bärenreiter), S. 136-153. Zu Garbareks Saxophon-Sound vgl. Tor Dybo: Jan Garbarek – Det åpne roms estetikk, Oslo 1996 (Pax)

[4] Jan Garbarek & Hilliard Ensemble: Officium; ECM New Series 1525

[5] Einer der Sänger des Hilliard Ensemble, John Potter, hat gerade erst ein eigenes Buch über die Gesangsstilistik diversester Musiktraditionen veröffentlicht. Vgl. John Potter: Vocal Authority. Singing Style and Ideology, Cambridge 1998 (Cambridge University Press)

[6] NN: Saxophones into Ploughshares, in: The Hilliard Ensemble (Newsletter), early 1994: 1

[7] NN: Editorial, in: The Hilliard Ensemble (Newsletter), Autumn 1994: 1

[8] Orlando Consort & Perfect Houseplant: Extempore; Linn CKD 076

[9] Zit. nach Internet-Homepage des Orlando Consort, geladen am 29. Juli 1998: http://ourworld.compuserve.com/homepages/Donald_Greig/WIZZF.htm. NOTE: Diese Website ist nicht mehr online, aber über die Wayback Machine abrufbar unter https://web.archive.org/web/20000915091535/http://ourworld.compuserve.com/homepages/Donald_Greig/WIZZF.htm (aufgerufen am 28. April 2024)

[10] Michael Riessler, im Plattentext zu Clastrier/Riessler/Rizzo: Palude; Wergo 8010-2

[11] Ekkehard Jost: Europas Jazz 1960-80, Frankfurt/Main 1987 (Fischer): 428

[12] Werbeblatt des Free Jazz Workshop aus den frühen 70er Jahren (im Archiv des Jazzinstituts Darmstadt).

Deutsche Übersetzung:

„Free: frei. Die Musiken der Menschen sind unzählig, doch nur wenige sind tatsächlich frei. Eine freie Musik ist eine Musik, die in jedem Moment ihre eigene Realität kreiert und erfindet.         

Jazz: musikalische Sprache der schwarzen Amerikaner und seither eine universelle Musiksprache. Eine warme, gefühlvolle Musik, Musik des Lebens.

Workshop: Atelier. Die musikalische Kreation braucht die Verbindung einer Weltvision mit der ganz spezifischen Arbeit des Instrumentalisten.              

Der Free Jazz Workshop hat sich in seiner Musik jener warmen, gefühlvollen und irrationellen Tradition des Jazz verschrieben. Zusätzlich zu der individuellen Kraft seiner vier Musiker benutzt der Workshop die kollektive Energie der Gruppe.“

[13] auf der LP Workshop de Lyon: La Chasse de Shirah Sharibad, Move 123 No. 8

[14] auf der LP Workshop de Lyon: Musique Basalt; Move WDL 005

[15] auf der LP Workshop de Lyon: Musique Basalt; Move WDL 005

[16] auf der LP Workshop de Lyon: Musique Basalt; Move WDL 005

[17] Der einzige inhaltliche Teil des Plattentextes zu seiner CD Tentations d’Abélard lautet: „Versuche und Versuchungen: Der Begriff des experimentum gehört für Pierre Abélard (1079-1142) nicht in den Bereich der Wissenschaft, sondern der Lebenspraxis. Zeit ist für Abélard nicht linear. So sind es Augenblicke, nicht historische Ereignisse, die körperliche Versuchungen und geistige Konflikte bestimmen.“ Plattentext zu Michael Riessler: Tentations d’Abélard, Wergo WER 8009-2 (1994)

[18] Michael Riessler: Plattentext zu Héloise, Wergo WER 8008-2 [1992]. Deutsche Übersetzung: „Es handelt sich um ein Jazzprojekt, bei dem das Prinzip der Improvisation sich nicht auf Thema und Harmonik beschränkt, sondern genauso die Behandlung historischer Stile und europäischer musikalischer Traditionen seit dem Mittelalter betrifft; einem Mittelalter, in dem arabische Einflüsse in Europa weitverbreitet waren und in dem zwischen dem modalen Spiel und der Generalbasstechnik eine harmonische Verbindung bestand.“

[19] Michael Riessler: Tentations d’Abélard, Wergo WER 8009-2

[20] Michael Riessler: Héloise, Wergo WER 8008-2

[21] Plattentext zu Michael Riessler: Honig und Asche, Enja ENJ-9303-2

[22] Zitiert nach Marcus Gammel: Honig und Asche. Uraufführung von Michael Riessler bei der Berliner Musik-Biennale, in: Jazzthetik, 11/6 (Jun.1997): 10

[23] Riessler bezieht sich bei dieser Aussage mit Sicherheit nicht auf die Musica enchiriadis, in der es dennoch gleich zu Beginn ganz ähnlich und doch natürlich genau von der anderen Seite kommend heißt: „Sicut vocis articulatae elementariae atque individuae partes sunt litterae, ex quibus compositae syllabae rusus componunt verba et nomina eaque perfectae orationis textum, sic canorae vocis phthongi, qui Latine dicuntur soni, origines sunt et totius musicae continentia in eorum ultimam resolutionem desinit.“ [So wie die elementarischen und unteilbaren Bestandteile der Sprechstimme die Buchstaben sind, aus denen sich die Silben zusammensetzen, die ihrerseits die Wörter und Namen bilden, so sind der Ausgangspunkt der Gesangsstimme die phthongi, die lateinisch soni heißen; und der Inhalt der gesamten Musiklehre mündet letztlich in deren Erklärung.] Zit. nach Hans Heinrich Eggebrecht: Die Mehrstimmigkeitslehre von ihren Anfängen bis zum 12. Jahrhundert, in: Frieder Zaminer (Hg.): Geschichte der Musiktheorie, Bd. 5: Die mittelalterliche Lehre von der Mehrstimmigkeit, Darmstadt 1984 (Wissenschaftliche Buchgesellschaft): 17

[24] Trio Clastrier – Riessler – Rizzo: Palude; Wergo WER 8010-2

[25] Trio Clastrier – Riessler – Rizzo: Palude; Wergo WER 8010-2

[26] Trio Clastrier – Riessler – Rizzo: Palude; Wergo WER 8010-2

[27] Trio Clastrier – Riessler – Rizzo: Palude; Wergo WER 8010-2

[28] Vgl. Brian Marley: The Archaeology of the Improvisers. Interpreting Early Music, in: Avant, 5 (Winter 1998): 36-38

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„Dann spielen wir, was Sie dirigieren!“

Ein Überblick über die Tradition von Komposition und Dirigat im Jazz mit ein paar speziellen Fragen an die Dirigenten und Komponisten Dieter Glawischnig und Mathias Rüegg

Dieser Beitrag erschien ursprünglich im von Alexander Drčar und Wolfgang Gratzer herausgegebenen Band Komponieren & Dirigieren. Doppelbegabungen als Thema der Interpretationsgeschichte (Freiburg 2017: Rombach Verlag): 257-286

Im Zentrum dieses Kapitels steht die Doppeltätigkeit der beiden österreichischen Pianisten, Komponisten und Bandleader Dieter Glawischnig und Mathias Rüegg. Glawischnig arbeitete von 1973 bis 2008 mit der NDR Bigband, die er von einem Unterhaltungs- in ein klares Jazzorchester überführte. Rüegg gründete 1977 das Vienna Art Orchestra, mit dem er bis 2010 mehr als 35 Produktionen vorlegte. Die Zusammenhänge zwischen Komposition und Dirigat in ihrer Arbeit mit den jeweiligen Ensembles lässt sich am besten anhand zweier Gespräche skizzieren, in denen Glawischnig und Rüegg auf konkrete Fragen Antwort geben. Um diese Antworten in den Jazzkontext einordnen zu können, kommen wir um einen ausführlichen Rückblick in die Jazzgeschichte nicht herum, der auf die unterschiedlichen Rollen des Dirigats im Jazz genauso einzugehen hat wie er terminologische Klarheit zu schaffen hat in Bezug auf Begriffe wie ›Improvisation‹, ›Komposition‹, ›Arrangement‹, und ›Dirigat‹.

Der Begriff der Improvisation ist in der europäischen Musikgeschichte seit der Klassik als eine künstlerische Größe weitgehend vernachlässigt wurde und vor allem durch den Jazz neu besetzt worden. Improvisation wird oft als ›tabula rasa‹ missverstanden, während sie wohl eher mit der freien Rede verglichen werden sollte, dem Entwickeln musikalischer Gedanken mithilfe von Vokabeln, Grammatik und Satzstrukturen. Im Jazz gibt es eine Bandbreite improvisatorischen Musizierens, die von Verzierung und Umspielung über die an harmonischen, melodischen oder rhythmischen Strukturen sich orientierenden Chorussoli bis hin zur mehr oder weniger freien Improvisation reicht, in der die Formgestalt sich aus der spontanen Kommunikation der Künstler ergibt. 

Es gibt jede Menge an Absprachen, die der Improvisation zugrunde liegen und die einen mehr oder weniger geordneten musikalischen Ablauf garantieren sollen. Die üblichste Absprache ist die des Chorusmodells, bei der Musiker sich an der harmonischen Struktur des zugrundeliegenden Themas orientieren, über die sie eine bestimmte (oder auch unbestimmte, spontan sich ergebende) Anzahl an Chorussen spielen, meist als improvisierte Soli, ab und an im Duo oder gar im Kollektiv, eventuell mit vorgeplanten Begleitungen im Arrangement oder auch mit spontan hinzugesetzten Begleitriffs. 

Die Grundlage, auf der das alles passiert und auf der sich der Improvisator, egal welchen Instruments, relativ frei von den Vorgaben lösen kann, ist in der Regel die Rhythmusgruppe, die mehr oder weniger klar die Struktur markiert, harmonische Wechsel betont, an die Form erinnert, und dem Solisten dabei die Möglichkeit gibt, gerade auch im Kontrast zur bekannten Melodik, Rhythmik, Harmonik, Form des interpretierten Themas Spannung aufzubauen und zu entwickeln. Absprachen können rigider sein, etwa, wenn es sich um Improvisation innerhalb eines Orchesterarrangements handelt, die Musik also zu einer vorab bestimmten Zeit weitergehen und die Spontaneität damit eingeschränkt werden muss. Es gibt Beispiele sogenannter ›simulierter Improvisation‹, bei der ein Komponist scheinbar improvisierte Partien komplett ausnotiert hat (André Hodeir, aber auch bereits Duke Ellington), und es gibt Beispiele dafür, dass auch im Orchesterkontext, der scheinbar striktere Vorgaben verlangt, eine gewisse Freiheit der Interpretation, auch der Länge von Improvisation möglich ist. Absprachen können auf der anderen Seite aber auch weit offener sein, indem sie etwa dramaturgische Verläufe andeuten oder Signale verabreden, zu denen der Verlauf des Stücks verändert werden soll etc. 

Solche Strukturen, innerhalb derer die Improvisation sich abspielt, fallen bereits in den Bereich der Komposition. Nichts anderes nämlich sind solche Absprachen als unterschiedlichste Arten von teils vorgeplanter, teils spontaner, teils von einem Künstler, teils von allen gemeinsam geplanter ›Komposition‹ des musikalischen Ablaufs mit mehr oder weniger Freiräumen zur improvisatorischen Veränderung eben dieser Planung. Hier erkennen wir bereits einen grundlegenden Unterschied des Verständnisses von ›Komposition‹ aus europäisch-westlicher zu jenem aus afro-amerikanischer Sichtweise. Im Westen ist der Terminus irgendwann in den letzten dreihundert Jahren zum Synonym für ›künstlerisches Werk‹ geworden, hat sich zu einem ästhetischen Wertmerkmal entwickelt, das einen Autor hat, den eigentlichen kreativ-schöpferischen Prozess umschreibt und zu einem für alle Zeiten festzustehen scheinende Gebilde geworden ist, das in Folge höchstens ›interpretiert‹, nicht aber in Frage gestellt wird. Solch eine Art von Komposition gibt es gewiss auch im Jazz; doch zumeist ist Komposition hier nur eine von mehreren Vorstufen zum kreativen Prozess. 

Komposition im Jazz kann das Themengebilde bezeichnen, das Ausgangspunkt einer Interpretation ist, also den 32-taktigen Song oder den 12-taktigen Blues einschließlich seiner melodischen, harmonischen und rhythmischen Struktur. Der Komponist eines solchen Themas ist in der Regel allerdings noch kein ›Jazzkomponist‹ – die meisten der Standards im Jazzrepertoire stammen von Musical- oder Filmkomponisten und wurden also für ganz andere Zwecke als die Jazzinterpretation erschaffen. Solche Themen stehen bestenfalls zu Beginn und zum Schluss der Interpretation, mehr oder weniger originalgetreu gespielt; die Harmonien unter den Themen bilden die Improvisationsgrundlage für die Solisten.

Zur ›Jazzkomposition‹ gehört ein weiteres: Der Jazzkomponist plant eine Struktur, den Ablauf eines Stücks, innerhalb dessen thematische Passagen genau wichtig sind wie solistische (und damit eben nicht komponierbare bzw. durch den Komponisten planbare) Freiräume. Er plant Kontraste harmonischer, klanglicher, rhythmischer oder metrischer Natur. Er kann Übergänge der festgelegten in die improvisierten Passagen und zurück planen. Er mag Begleitstrukturen für wichtig erachten, die auch in der Freiheit, die dem Solisten bei seinen Soli zusteht, sicherstellen, dass der Bezug zum Umgebenden gehalten wird. Der Jazzkomponist hat die Ausführung durch ein Ensemble im Sinn, weiß eben gerade um die nicht einzig auktoriale Rolle, die er dabei spielt, versucht eine Balance herzustellen zwischen seiner Vorstellung eines Klangergebnisses und der Freiheit, die er den Solisten zugesteht. Komponisten wie Jelly Roll Morton, Duke Ellington, Charles Mingus, Gil Evans und andere arbeiteten dabei durchaus mit konventionellen Mitteln, mit Notenarrangements und fixen Formteilen, die aufeinander bezogen waren. Im Extremfall kann Jazzkomposition aber auch weit freier geschehen. Grafische Notation etwa von Anthony Braxton, Komposition, die mit Zufallswerten arbeitet wie einige Stücke von John Zorn, Komposition, die einzig auf große formale Blöcke fixiert ist wie die Arbeit von Cecil Taylor – all das sind kompositorische Entscheidungen, die sich zum Teil erheblich von dem unterscheiden, was in der europäischen Musikgeschichtsschreibung unter kompositorischem Handwerk verstanden würde[1].

Eine dritte Kategorie neben Improvisation und Komposition ist das Arrangement. Auch hier gibt es terminologische Missverständnisse, die aus der Verankerung des Begriffs in der westeuropäischen Kunstmusik begründet liegen. Dort greift ein Arrangeur etwa ein, um ein ›Werk‹ für eine andere Besetzung umzuschreiben, um leichtere oder komplexere Fassungen eines Werkes zu schaffen. Im Jazz nimmt der Arrangeur ebenfalls bestehendes Material, etwa die Themen eines Standards oder des Blues, und schreibt um sie herum einen Verlauf, in dem thematische Passagen mit solistischen abwechseln. Der Arrangeur im Jazz hat also eher eine am oben beschriebenen Jazzkomponisten gemessene Aufgabe, anders als der Arrangeur in der europäischen Kunstmusik, den man nicht mit dem Komponisten vergleichen würde. Der Unterschied ist der Grad des kreativen Eingriffs. Der Jazzarrangeur stellt ähnlich wie der Jazzkomponist die Balance zwischen gelenktem Ensemble- und Solospiel in den Vordergrund. Er wird die Klangfarbe des Ergebnisses entscheidend mit prägen, gehört daher in Diskographien durchaus zu Recht mit in die Auflistung des Bandpersonals. 

Bleibt die vierte Kategorie, die für unser Thema wichtig ist: der Dirigent. Ein Dirigent ist in der klassischen Musik aus unterschiedlichen Gründen wichtig. Zum einen sind die aufzuführenden Werke zum Teil so komplex und für so große Ensembles geschrieben, dass es eines Koordinators braucht, der den ausführenden Musikern aus einer Art neutraler Hörposition heraus hilft, präzise Einsätze zu finden, die Dynamik auszubalancieren, auf rhythmische Facetten Acht zu geben und vieles mehr. Der Dirigent ist also Ergebnis sowohl immer größer werdender Ensembles als auch einer immer komplexer werdenden Kunst. 

Im Jazz sind die Ensembles meist übersichtlich. Ein Quartett oder ein Quintett kommt genauso gut wie jedes Streichquartett ohne einen Dirigenten aus. Und selbst eine Bigband benötigt in der Regel niemanden, der ihr die Einsätze gibt. Die Rollen sind hier klar zugewiesen: in jedem Instrumentalsatz gibt es einen Anführer, der die Saxophone, die Posaunen, die Trompeten im Griff hat, eventuell auch über den Satz hinaus Einsätze gibt, wenn es komplex wird und nötig ist. Ausnahmen bestätigen die Regel, aber selbst die meisten Bigbandleiter waren daneben eben auch Instrumentalisten in ihrer eigenen Band und hielten sich höchstens zu Beginn eines Stücks, oder wenn es wirklich mal sehr schwierig wurde, vor dem Ensemble auf. 

Natürlich gab daneben immer auch Bands, die dennoch auf einen Dirigenten zurückgriffen – aus unterschiedlichen Gründen. Paul Whiteman dirigierte sogar mit einem Stab; das allerdings war vor allem Show und dem Publikum geschuldet; auch wollte Whiteman schon in den 1920er Jahren den Jazz als eine ›Lady‹ präsentieren und zielte mit dem ›baton‹ auch auf das Bild des klassischen Dirigenten. Jelly Roll Morton und Cab Calloway ließen sich eher zu Showzwecken mit Taktstock ablichten. Duke Ellington und Count Basie gaben ihre Einsätze zumeist vom Klavier aus. 

Im Großen und Ganzen reicht die Bandbreite des Dirigierens im Jazz vom bloßen Mitwippen und Mitschnipsen eines Woody Herman bis hin zu den anfeuernden, das Orchester geradezu herausfordernden Rufen und heftigen Handzeichen eines Thad Jones. Immer wieder gab es komplexe Arrangements, für die Bands einen Dirigenten benötigten, um ihnen bei der korrekten Ausführung zu helfen, so etwa in Kompositionen des österreichischen Flügelhornisten Franz Koglmann. Doch ist dies die Ausnahme. 

Eine weitere Ausnahme soll nicht unerwähnt bleiben, weil sie das Dirigat mit dem Improvisator verbindet. Es ist die Technik der Conduction, die von verschiedenen Musikern als eine Art improvisierter Führung großer Ensembles entwickelt wurde, insbesondere vom amerikanischen Kornettisten Butch Morris, der ein eigenes Repertoire an Gesten und Zeichen entwickelte, um eine Band durch eine kollektive Improvisation zu leiten. 

Dirigenten sind auf jeden Fall die unhörbaren Musiker im Ensemble, da sie – zumindest in dieser Funktion – auf der Aufnahme in der Regel nicht zu hören sind. Tom Lords umfassende Diskographie verzeichnet in der letzten Ausgabe (Vol. 15, 2014)[2] in mehr als 217.000 gelisteten Sessions etwa 2.500 Aufnahmesitzungen, bei denen dezidiert ein Dirigent (conductor) angegeben wird. Oft handelt es sich hierbei um die Arrangeure, die etwa kompliziertere Stücke selbst einzählten (Gerry Mulligan, Gil Evans etc.), oft um große Begleitensembles etwa für Sängerinnen und Sänger (Dinah Washington, Sarah Vaughan), oft um sinfonische Ensembles oder Chöre, um die eine Jazzperformance verstärkt wurde. Diese statistische Zahl ist jedoch nur bedingt aussagefähig, da Dirigenten einerseits oft gar nicht angegeben werden, da es sich bei Lords Diskographie zum zweiten um eine bloße Zählung der Aufnahmesitzungen handelt (also nicht der einzelnen Dirigenten), und da zum dritten Dirigenten aus dem Orchester heraus (also beispielsweise Satzführer, die in komplexeren Stücken die Regie übernehmen) gar nicht aufgeführt sind. 

Betrachten wir einige konkrete Beispiele aus der Jazzgeschichte:

Count Basie wird in Diskographien nie als ›Dirigent‹ ausgewiesen. Tatsächlich hat er vom Klavier aus ein minimalistisches Konzept an Zeichen entwickelt, die er mit Händen, Kopf (und Blicken) sowie dem Instrument bedient. Oft kommuniziert er dabei mit Freddie Green, dem Gitarristen der Band, der wie eine Art Scharnier zwischen Basie und seinem Orchester wirkt; immer wieder auch mit dem Satzführer, dem ›straw boss‹; in der Band der 1950er und 1960er Jahre insbesondere dem Saxophonisten Marshall Royal, der in dieser Funktion bereits in Lionel Hamptons Band gedient hatte, in den 1970er Jahren ersetzt durch Bobby Plater. Handgesten Basies und deutliche Fingerzeige sind die üblichsten Zeichen, die er meist zu Beginn eines Stücks oder beim Schlusschorus nutzt, um den Einsatz des Orchesters einzuzählen. Kopfgesten erheischen die Aufmerksamkeit des Ensembles, ein scharfer Blick und ein kurzes Nicken geben dann den Einsatz, beispielsweise für eine geänderte rhythmische Faktur. Am häufigsten sind Basies ›Instrumentaldirigate‹, sehr klare Klavierphrasen, die überdeutlich auf den Einsatz der Band hinleiten. Sie bauen Spannung auf, sind zugleich oft genug ein effektiver Kontrast in der Sparsamkeit seiner Töne, Akkorde, Rhythmen und dem vollen Sound der Bigband. Auch in seiner Begleitung von Soli ›dirigiert‹ Basie das Ensemble, ermuntert beispielsweise zu Background-Riffs der Bläser. Er tut all dies mit einer Ruhe und Besonnenheit, die der enormen Dynamik seines Ensembles entgegenzustehen scheint, bei der aber klar ist, dass er die Band in jeder Sekunde ›unter Kontrolle‹ hat. Besonders deutlich wird der Einfluss dieses Dirigats vom Klavier aus dort, wo Basie nicht mit dabei ist – etwa in Aufnahmen, die das Orchester mit fremder Rhythmusgruppe als Begleitband verschiedener Vokalisten in den 1950er und 1960er Jahren machte. Nach Basies Tod wurde die Band von Thad Jones, Frank Foster, Grover Mitchell und anderen geleitet, ehemaligen Bandmitgliedern, die meist vor dem Orchester standen und dem Ensemble durch Handgesten ihre vor allem rhythmische Erfahrung des Basie-Sounds mit auf den Weg gaben. In den Aufnahmen dieser ›ghost band‹ sind oft die Arrangements des authentischen Basie-Orchesters zu hören, die jetzt aber einer völlig anderen Dynamik zu unterliegen scheinen.

Cab Calloway erzählt in seiner Autobiographie, wie er in der Band The Alabamians zum Dirigieren gekommen war: »During rehearsals, every time [Richard B.] Harrison would turn his back I’d jump up on the stage under the pretense of rehearsing as M.C. for a number and I’d make the band move. The sound was so different when I directed the band that it was almost embarrassing. I could bring out the various sections, highlight the soloists, and make the band lively and vital.«[3] Calloway sah sowohl den musikalischen Effekt seiner antreibenden Bewegungen vor der Band als auch die Showmanship dahinter. Seine Vorbilder waren weiße Pop- und Novelty-Bands, wie er sie nennt, Bandleader wie Benny Meroff oder Paul Ash, an denen ihn faszinierte, dass sie nicht nur die Musiker inspirierten, sondern auch einen Effekt aufs Publikum besaßen[4]. Der übergroße weiße Taktstock in den Händen des Bandleaders mit wehenden Haaren und weißem Frack war ein Showeffekt erster Güte; er nahm zugleich karikierend Bezug auf erstarrte Rituale der Klassik und den viel zahmeren Sound Paul Whitemans, dessen Silhouette mit Taktstock seit den 1920er Jahren zu einem Stereotyp geworden war, da er diese mit dem mitreißenden Swing des schwarzen Amerikas füllte.

Dizzy Gillespie Big Band, 1947: „Groovy Man“

Dizzy Gillespie hatte Ende der 1930er Jahre in Calloways Band gesessen und einige seiner Bühnen-Acts dem älteren Bandleader abgeschaut. Filmaufnahmen aus dem Jahr 1947 zeigen ihn, wie er die Band einzählt, Akzente schlägt, aber auch vor dem Orchester auf- und abtanzt[5] oder wie er die Band fast schon mit dem Hintern dirigiert, wenn er die ganze Zeit mit Gesicht zum Publikum steht und damit ganz deutlich macht, dass es auf der einen Seite um rhythmische Intensität und Motorik geht, die sein Tanzen und Dirigieren an die Band weiterreichen kann, auf der anderen Seite aber auch um den Effekt beim Publikum. ›Tanzen‹ ist für diese frühen Beispiele von Jazzdirigaten sowieso eine wichtige Erklärungshilfe. Bigbands der Swingära waren in erster Linie Tanzorchester – hier bewegte sich das Publikum. Cab Calloway war mehr und mehr ein Showorchester, zu dessen Auftritten neben den Instrumentalisten und Vokalisten auch Tänzer gehörten. Calloway selbst ersetzte im Showact quasi die Motorik des tanzenden Saals, und nicht anders sind Dizzy Gillespies Tanzeinlagen zu verstehen, etwa in Oo Bop Sh‘ Bam! ebenfalls von 1947[6].

Dizzy Gillespie Big Band, 1947: „Oo Bop Sh‘ Bam“

Und schließlich deuten sowohl Calloways als auch Gillespies tanzende Dirigate auf noch eine weitere Tradition des Jazz, die nämlich des Grand Marshall, der, in feierliche Kleidung mit Handschuhen und manchmal mit einem Stab oder einem Schirm, die seine Führungsrolle bekräftigten, die Begräbniszeremonien in New Orleans anführte[7]. Der Taktstock als Symbol für Zepter und heiligen Stab, aber auch für die Häuptlingsstäbe afrikanischer Erinnerung; die populäre Musik Afro-Amerikas ist reich an mehr oder weniger versteckten Verweisen, die die eigene mit der angenommenen Kulturgeschichte verbinden, double-entendre, Signifying Monkey. 

Natürlich waren auch Bandleader wie Fletcher Henderson und andere darauf angewiesen, ihre Bands bei Gelegenheit dirigierend zu lenken. Duke Ellington allerdings ist wohl der erste Komponist / Bandleader, für den die Führung durch Gesten, rhythmische Bewegungen oder instrumentale Eingriffe besonders wichtig war, da viele seiner Stücke seit den Mitt-1920er Jahren komplexe, auf die Dramaturgie der Komposition bedachte Werke waren, in die er Solopassagen einwebte, die ihrerseits als Teil eines ›kompositorischen‹ Gesamtkonzepts dienten. Wie Whiteman und Calloway war Ellington durchaus Showman; er hatte Musik für Bühnenrevuen geschrieben und achtete sehr auch auf die optische Wirkung seiner Auftritte. Im Dezember 1938 erschien in der Fachzeitschrift Down Beat eine kurze Notiz mit dem Hinweis, Ellington habe bei seinem jüngsten Auftritt im Apollo Theater in Harlem eine neuartige Art des ›band-conducting‹ entwickelt, zu dem Bühnenelemente auf verschiedener Höhe gehörten, das Schlagzeug am höchsten gesetzt in der Mitte, links davon die Posaunen, rechts die Trompeten, davor die Saxophone und davor das Klavier, von dem aus Ellington mit dem Rücken zum Publikum das ganze dirigiere. Auf Fotos und Filmausschnitten ist deutlich zu erkennen, dass Ellington der Blickkontakt möglichst zur gesamten Band sehr wichtig war (vgl. Abbildung aus dem Hurricane, April 1943[8]). 

In der Literatur heißt es oft genug, Ellington habe zwar Klavier gespielt, sein eigentliches Instrument sei allerdings das Orchester gewesen. Diese Beschreibung korrespondiert zum Kompositionsverständnis des Jazz. Das Orchester war auf eine Art und Weise die ›Partitur‹, mit der Ellington arbeitete, auf der er formale Entwicklungen, rhythmische Intensität, harmonische Rückungen, melodische faszinierende Linien erzeugen und festhalten konnte. Ein anderer Vergleich, mit dem Ellington immer wieder beschrieben wird, ist der des Klangmalers, dessen Palette an Klangfarben letzten Endes aus den individuellen Sounds seiner Orchestermusikern bestand und der diese Farben durch seine Fähigkeit, sie ins Gesamtbild einzubinden, erhöhte. Bilder hinken, und doch fassen sie meist auch ein wenig den Kern des Tatsächlichen. Nichts war Ellington wichtiger, als sein Orchester selbst in wirtschaftlich schweren Zeiten am Laufen zu halten, einfach deshalb, weil er es tatsächlich zum Komponieren benötigte, weil er zwar im Kopf hatte, was er schreiben würde, der Kompositionsvorgang aber ohne das Erklingen des Notierten und die Korrektur anhand von Einwürfen aus der Band oder der eigenen Erkenntnis, dass etwa eine Solo- oder Duopartie die Musik tatsächlich ganz anders beeinflusse als vorab gedacht, nicht beendet war. Der Kompositionsprozess war bei Ellington noch mehr als bei vielen anderen Musikern seiner Generation tatsächlich ein Prozess, das fertige Ergebnis ein laufend zu Korrigierendes, der Umgebung, in der es erklingen würde, Anzupassendes. Dieses Prozesshafte ist bereits in seinen frühen Aufnahmen aus den 1920er Jahren erfahrbar, die er oft mehrmals einspielte, und die dabei immer wieder teilweise erhebliche Änderungen erfuhren. Manchmal waren Umbesetzungen in der Band der Grund dafür, etwa, wenn ein Solist ausfiel und Ellington daraufhin das ihn betreffende Solo strich oder den Arrangement-Ablauf umstrukturierte. Andere Änderungen waren der geänderten Spielsituation geschuldet, also Revuetheater versus Aufnahmestudio versus Tanzveranstaltung versus Konzertsaal. Sie konnten ästhetische Entscheidungen sein, etwa wenn Ellington relativ simplen Arrangements über die Jahre komplexere Strukturen verlieh. Oder sie konnten den Bedürfnissen des Unterhaltungsgeschäfts geschuldet sein, wenn Ellington beispielsweise in späteren Jahren die Hits, die die Leute immer wieder hören wollten, in Medleys bündelte, um die ungeliebte Aufgabe des ›popular demand‹ so geschickt abzuarbeiten. Die Vielfalt und Verknüpfung all dieser Aufgaben wird etwa im Livemitschnitt einer Probe vom Juli 1965 in Juan-les-Pins, Südfrankreich deutlich, bei der Ellington sein Orchester durch ein neues Stück leitet, den Old Circus Train Turn-Around Blues, und in engem Dialog mit den Musikern Änderungen einbaut, Teile streicht und andere hinzufügt[9]. Komponist, Compiler, Moderator, Dirigent – Ellington besitzt hier ganz unterschiedliche Rollen, und bei allen wissen die Musiker, welches ihre Aufgabe ist.

Das Thad Jones / Mel Lewis Orchestra war 1965 vom Kornettisten Thad Jones und dem Schlagzeuger Mel Lewis gegründet worden und trat bis 1978 jeden Montagabend im kleinen New Yorker Village Vanguard auf. Der Montag wurde gewählt, weil an diesem Tag die Musiker, die in Broadway-Shows mitspielten, ihren freien Abend hatten. Jones schrieb die meisten der Arrangements, dazu kamen weitere Stücke etwa von Bob Brookmeyer und anderen Bandmitgliedern. Jones‘ Umgang mit Voicings und dem Bigbandsound baute auf seinen eigenen Erfahrungen im Orchester Count Basies auf; im Jones / Lewis Orchestra aber konnte er auf jüngere, stilistisch modernere Solisten zurückgreifen und eine Kompositionssprache entwickeln, die zeitgemäß war, ohne den Bezug zur Tradition zu verlieren. Für den swing, den diese Band verkörperte, war Mel Lewis mit von der Partie, einer der erfahrensten Bigband-Drummer des Jazz, der nicht nur die Rhythmusgruppe, sondern auch das Satzspiel und die Soli antreiben bzw. jeweils entsprechend begleiten konnte. Zum Gelingen der Interpretationen trugen allerdings auch Thad Jones‘ Dirigate bei, die dem schwerfälligen Instrument Bigband eine ganz spezielle Art von Körperlichkeit verliehen. Ein Video von 1968 zeigt die Band in Groove Merchant[10]. Jones zählt ein, hat ansonsten eigentlich nicht so viel zu tun, da die Rhythmusgruppe auch ohne ihn swingt. Ab und an gibt er perkussive Zeichen, ein herausgehobenes Klatschen, dann ein mit beiden Armen ausgeführtes vorbereitendes Treiben, auf dass das Orchester gleich danach im richtigen Schwung einsetzt. Seine Aufgabe sind also keineswegs bloß rhythmische Einsätze, daneben ist er auch fürs gemeinsame Einschwingen verantwortlich. Tatsächlich achtet die Band ziemlich deutlich auf diese Einschwinggesten Jones‘: Seine perkussiven ›handclaps‹, mal als rhythmisches Antreiben, mal als singuläre Akzente, werden von den Musikern akustisch wahrgenommen, seine ausholenden kräftigen Gesten auch aus den Augenwinkeln bemerkt. Die Band kam vielleicht nur einmal die Woche zusammen, jedoch kannten die Musiker das Repertoire nicht weniger gut als ihre Kollegen bei Basie oder Ellington. Im Video erkennt man ihre Konzentration auf den charismatischen Dirigenten Thad Jones und ihre Bereitschaft, jederzeit in seinem Sinne zu reagieren. 

Thad Jones / Mel Lewis Orchestra, 1968: „Groove Merchant“

Seit 1985 hat Butch Morris ein Vokabular an Gesten entwickelt, die er zum Dirigieren improvisatorischer Verläufe benutzt. Ein Ausgangspunkt seiner Arbeit sind dabei die Musiker, die ihm die Ideen liefern. In Conduction-Sessions, die Morris vor seinem Tod regelmäßig im New Yorker Club Stone abhielt, ließ er sich zuerst von den Musikern Ideen vorspielen, melodische Phrasen, Klänge, rhythmische Akzente, hörte mit großen Ohren zu und identifizierte dann zusammen mit den Musikern das Grundvokabular des Abends. Er vergab Handzeichen für einzelne Phrasen, übte die mit den Musikern so ein, dass sie auf Zeichen abrufbar waren[11]. Morris arbeitete mit Ensembles unterschiedlicher stilistischer Herkunft und stellte fest, dass ihre Musizierauffassung und damit auch ihre Reaktion auf sein Dirigat völlig voneinander verschieden waren. Während Morris anfangs noch mit kompositorischen Versatzstücken arbeitete, konnte er bald die Noten beiseitelegen. Er benutzte einen Taktstab oder nur die Hand, Zeigegesten mit ausgestreckter Hand oder Zeigefinger, und er war jederzeit bereit, sich auch auf die sich individuelle Auslegung der vereinbarten Interpretation einzulassen. Sein Konzept der Conduction ist, wie er es nennt, »ein improvisiertes Duett für Ensemble und Dirigent«, bei dem beide laufend aufeinander reagieren. 

Morris‘ aktiver Dialog mit dem zu dirigierenden Ensemble, führt mich zu einem Begriff, den ich in diesem aber auch vielen anderen der beschriebenen Fälle fast vorziehen würde. Letzten Endes geht es beim Dirigieren des Jazzensembles eben nur bedingt um eine ›leitende‹ Aufgabe. Rich DeRosa, seit 2014 Chefdirigent der WDR Big Band, vergleicht die Leitung eines Jazzensembles mit der Regieführung im Theater: »Den Regisseur sieht man nicht, man nimmt ihn nicht mehr war. Die Arbeit ist getan.«[12] Im Zusammenkommen von kompositorischen und improvisatorischen Passagen hat der Dirigent hier sehr oft eher eine moderierende Aufgabe. Er moderiert zwischen den Musikern, zwischen Musikern und Arrangement, zwischen Komposition und Improvisation, zwischen der Band und dem Publikum. Ellington, Basie, Woody Herman und andere Bandleader moderieren einen Schaffensprozess, der nur zum Teil bereits feststeht, zum anderen Teil aber bei jeder Aufführung im Werden begriffen ist. Im Extremfall muss diese Moderationsaufgabe auf die Unwägbarkeiten der improvisatorischen Gestaltung eines musikalischen Ablaufs Rücksicht nehmen, auf Soli, die länger oder kürzer ausfallen als geplant, auf spontane Begleitriffs, auf freiere Arrangementpassagen, die quasi im Kollektiv von der Band gestaltet werden etc. Das Dirigat im Jazz umfasst ein weitreichenderes Geben und Nehmen von Impulsen als dies in Dirigaten der Fall ist, bei denen der Dirigent erst einmal seine Vorstellung einer Interpretation vorgibt. Das Jazzdirigat ist im Idealfall eine weit weniger hierarchische Aufgabe als im klassischen Ensemble. 

Vor dem Hintergrund dieser jazzhistorischen Einordnung der Phänomene Improvisation / Komposition / Arrangement / Dirigat sind die folgenden Gespräche mit Dieter Glawischnig und Mathias Rüegg zu lesen, die sich auf durchaus unterschiedliche Weise über die Thematik äußern. 

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Fragen an Dieter Glawischnig[13]

Dieter Glawischnig hat seit den frühen 1960er Jahren als Pianist, Komponist (und zeitweise auch als Posaunist, als solcher etwa im österreichischen Rundfunkorchester) Jazz gemacht. Er studierte sein Instrument, daneben aber auch Dirigieren und Musikwissenschaft, arbeitete u.a. als Korrepetitor an der Oper Graz, und leitete zwischen 1968 und 1975 die Jazzabteilung der Musikhochschule Graz. Seit 1973 nahm er immer wieder Gastdirigate beim NDR wahr, anfangs in der damaligen NDR-Studioband, die 1980 zur NDR Bigband erweitert wurde, und blieb Chefdirigent dieses Ensembles , bis er 2008 in den Ruhestand ging. Daneben spielte er freie Musik mit kompositorischem Ansatz im Quartett The Neighbours, zu dem er auch immer wieder internationale Solisten aus dem Kreis der freien improvisierten Musik einlud, von Fred Anderson und Anthony Braxton bis zu Albert Mangelsdorff und John Surman. In der NDR Bigband war er auf der einen Seite für das gesamte Programm verantwortlich, das er in enger Absprache und auf im Auftrag Wolfgang Kunerts entwickelte, der die Jazzredaktion beim NDR leitete. Für seine eigenen Projekte hatte er dabei recht große Freiheiten. Glawischnig lebt in der Nähe von Graz. 

Komposition

Wolfram Knauer: Wenn Du an eine Komposition für großes Ensemble herangehst, welchen Einfluss macht das Wissen um die ›zur Verfügung stehende‹ Instrumentation und die personelle Besetzung auf den Kompositionsprozess? Kannst Du mir Beispiele dafür nennen, wo eine konkrete Besetzung zu Kompositionsentscheidungen geführt hat, ob positiv (»Da habe ich ja eh dieses oder jenes Klangmaterial zur Verfügung, lass mich das mal ausprobieren«) oder negativ (»Das wird zu kompliziert, dafür müssten wir Instrumentalisten ‚von außen‘ einkaufen«)?

Dieter Glawischnig: Ich habe immer nur für ›meine‹ NDR Bigband komponiert (ganz wenig arrangiert, hat mich nicht interessiert, wir hatten auch für diese Sparte sehr gute Leute). Es waren Auftragsarbeiten meiner Redaktion, besser gesagt von Wolfgang Kunert). Als mich Kunert 1973 zum ersten Mal als Gastdirigent einlud, habe ich verschiedene ›Stilistiken‹ angeboten: ein Pattern-Stück, ein sehr freies, ein eher traditionelles, da ich damals nichts über das RTUO [Radio Tanz- und Unterhaltungsorchester] wusste. (Alles war OK, bis auf das ›freie Stück‹, das gefiel mir nicht, die meisten Mitglieder der Band konnten damit nichts anfangen; damals waren die ›Jazzer‹ in der Band Herb Geller, Wolfgang Schlüter, Lucas Lindholm und Kurt Giese). Und für meine erste größere Arbeit für des Hamburg Jazzfestival 1982 hatte ich die NDR BB für meinen ersten ›Opernakt‹ mit Texten von Ernst Jandl (Laut und Luise) zur Verfügung, plus zwei Solisten: Manfred Schoof, Gerd Dudek. Diese Konstellation hatte ich immer im Ohr! (Übrigens: Kunert hatte meine Programme im Trio mit Jandl gehört, und er hat mich dann animiert, ein solches Programm für unsere Band zu schreiben.) Auch für meine weiteren Projekte/Kompositionen für die NDR BB sah ich immer die ganze Band vor mir sitzen, dazu die eigeladenen Solisten (für Jandl II Aus der Kürze des Lebens Christof Lauer, Manfred Schoof, die Bauer-Brothers). Ich habe nur geschrieben, wenn es aufgeführt werden konnte! Eine größere Jazz-Komposition ›in der Schublade‹ (wie in ›der Klassik‹ oft geschehen), die dann irgendwann als großes als Meisterwerk zu Tage tritt, halte ich nicht für realistisch (Odrrrrr?)

Du hast ja innerhalb einer bürokratischen Struktur gearbeitet (Klangkörper einer Rundfunkanstalt). Inwieweit hattest Du in diesem Komplex kompositorische Freiheiten bzw. inwieweit hat Dich diese Art der Struktur vielleicht auch gehindert in der Realisation kompositorischer Ideen?

Wie schon angedeutet, hatte ich für meine eigenen Projekte alle Freiheiten der Redaktion (= Kunert) und des Leiters der Unterhaltungsabteilung des NDR. Ein Projekt, das mir sehr wichtig gewesen wäre, konnte ich leider nicht realisieren: Ich kam in Hamburg mit Thomas Ebermann und Rainer Trampert in Kontakt und die beiden entwickelten ein Libretto, das mir und Kunert sehr gefiel, aber der damalige (uns im Prinzip eh wohlgesonnene) Abteilungsleiter hielt die Sache damals wohl für ›zu links‹.

Für Deine Arbeit spielte immer wieder motivische und formale Bindung (›Freiheit in der Beschränkung‹) auch innerhalb freier Improvisationspartien eine wichtige Rolle. Zum 60sten Geburtstag wünschtest Du Dir damals, »das Cercle-Konzept auf großes Orchester zu übertragen«[14]. Wie hattest Du Dir das vorgestellt? Wie kannst Du so etwas in der Arbeit für größeres Ensemble sicherstellen? Welchen Einfluss hast Du als Komponist auf den Verlauf längerer Improvisationspartien? Wann ist Dir solch ein Einfluss wichtiger, wann weniger wichtig? 

Das Konzept F.i.d.B. kann auch für große Ensembles gelten: Der Komponist kann sich innerhalb eines von ihm selbst abgesteckten Rahmens bewegen, bei allen ›Auswuchsmöglichkeiten‹ aus der ›Keimzelle‹, und die Solisten machen mit; wenn ich das Gespielte der Solisten für völlig unpassend hielte, würde ich versuchen, ins Gespräch mit ihnen zu kommen; wobei immer noch die große Chance für mich bestünde, durch die überzeugenden, wenn auch andersartigen Improvisationen eine Bereicherung meiner Ideen zu erfahren.

Du hast in der Beschreibung Deiner Arbeit einmal von der »Erfindung stets neuer Spielregeln als Basis für den Verlauf des jeweiligen Stücks« gesprochen[15]. Was genau meintest Du damit? Bzw. trifft es eventuell das, was Werner Burkhardt meinte, als er davon sprach, Du hättest in Die dunkle Seite des Würfels dem Jazz die Freiheit gelassen, „ohne die Strenge und die Genauigkeit der Komposition zu gefährden«[16]?

Ich weiß ja nicht, was mein sehr geschätzter Kollege in Hamburg mit seinem schönen Satz genau ausdrücken wollte. Ich denke, er meinte, dass die Soli den komponierten Teil nicht überwuchert haben und dass die dem Text folgende Improvisation die formale und inhaltliche Anlage und Aussage der Sache nie gefährdet, sondern unterstützt hat; ich stimme ihm zu, so war es geplant.

In kleinen Besetzungen hast Du durchaus auch mit einer Art von Head-Arrangements gearbeitet, die Euch die Möglichkeit gab, freier mit den motivischen Vokalen zu agieren. Inwieweit ist so etwas auf größere Ensembles übertragbar?

In der letzten Zeit kommen wieder improvisierende Großensembles in Schwung (in Mode), zumindest in Österreich. Es ist natürlich angebracht, den Verlauf der Musik sagen wir über 50 Minuten ›im Groben‹ zu planen: volle Besetzung, kleinere Gruppen, laut-leise; Ausdruckscharaktere (sparsam/fast nichts, kräftig voluminös, etc.), Register hoch / tief, usw., usw. Dazu braucht es einen ›Dirigenten‹, der gestische Anweisungen gibt: jetzt die 3 Spieler, dann die 4, dann alle zusammen glissando hinauf, dann alle staccatissimo decrescendo, etc. etc. (z.B. Butch Morris hat ja für sich ein eigenes Vokabular entwickelt). Und derartige Gruppen gelten als ›Impro‹-Gruppen; aber: die Mitglieder der Band spielen immer nur, wenn ›der Dirigent‹ eine Anweisung gibt! Free? Wenn schon ›free‹, dann wirklich free dem Geschehen des Augenblicks folgen, etwas dazu beitragen, entwickeln, ›Kettenassoziationen‹, oder auch Kontraste einbringen, etc.; ein derartiges Dialogisieren interessiert mich als Spieler immer noch am meisten. 

Arbeit mit Texten

Du hast viel mit Texten gearbeitet (Ernst Jandl, Gunter Falk). Texte sind ja eine ganz andere Art der Komposition: Sprache ist dabei zuerst einmal scheinbar funktionaler (Subjekt, Prädikat, Objekt…). Welche Freiheiten hattest Du gerade auch in der engen Zusammenarbeit mit den Autoren? Und welche Begrenzungen sind die Vorgaben von Gedichten / Texten – das ist ja noch etwas anderes als Libretti…

Ich hatte keinerlei Begrenzungen. Ich habe mir für die ersten beiden Jandl-Kompositionen Texte ausgesucht die mich begeistert hatten, die wir im Trio (mit NEIGHBOURS) schon gespielt hatten. Mit einigen Ergänzungen hat der Meister zugestimmt, auch meiner Gliederung der formalen Anlage in bestimmte Themenbereiche (Zur Kunst des Dichtens, Sozialisation, Krieg, Tiere, Menschliches, Gott, u.a.), wobei mein Anliegen war, Jandl in seiner ganzen inhaltlichen Fülle einzubringen; mich hat immer geärgert, dass Ernst von vielen Menschen nur als ›skurriler Witzbold‹ gekannt wurde. Für das dritte Jandl-Stück Jedes Ich Nackt, posthum mit dem großartigen Dietmar Mues für den NDR produziert, hab ich mir die Texte v.a. aus seinen Letzten Gedichten zusammengesucht. Und auch Die dunkle Seite des Würfels entstand posthum. Allerdings hatte ich mit dem Autor Gunter Falk einige gemeinsame Auftritte mit unserem Trio Neighbours absolviert, ich meinte also zu wissen, worauf es ihm ankam.

Bigband

Die NDR Bigband hatte ja ganz unterschiedliche Aufgabenbereiche: von der Präsentation anspruchsvoller aktueller Bigbandmusik bis hin zu Begleitung populärer Sängerinnen und Sänger. Sie hat über die Jahre unter Deiner Leitung eine Wandlung durchgemacht vom Tanz- und Unterhaltungs- zu einer Art Solistenorchester. Deine Funktion als Bigbandleiter beinhaltete sowohl das eine oder andere Arrangement in all diesen Bereichen (als Arrangeur), die Planung und Durchführung originärer Ideen und Werke (als Komponist oder Auftraggeber von Kompositionen) und die Umsetzung all dessen in Leitungsfunktion (als Dirigent, Bigbandleiter). Kannst Du die verschiedenen Funktionen (habe ich da noch eine vergessen?) beschreiben und ihre gegenseitigen Einflüsse / Abgrenzungen?

Als ich (Chef)Dirigent der NDR Bigband wurde, 1980, war das Orchester wie beschrieben sehr ›multifunktionell‹ eingesetzt. Für mich war die Erfahrung mit einer Rundfunkband sehr spannend. Ich war ja an der Grazer Musikhochschule Professor für Jazztheorie, im Trio Neighbours weltweit unterwegs, und bekam dann von meiner Hochschule ein Karenzjahr für 1980 bewilligt. Als der NDR dann meinen Vertrag für 1981 verlängern wollte, war ein zweites Karenzjahr nicht möglich. Also machte ich beides (Unterricht in Absprache mit dem Grazer Kollegium und den Studierenden jeweils Samstag und Sonntag). Als dann der Präsident der Hamburger Musikhochschule Hermann Rauhe eine schon lange geplante Jazzprofessur einrichten konnte, hab ich mich beworben, die Stelle bekommen, und ab dem Jahr 1982 meine Grazer Zelte abgebrochen. Die Einrichtung der Jazzabteilung an der Hamburger Hochschule war aus finanzieller Sicht nur möglich, weil wichtige Positionen mit Lehraufträgen an Musiker in der NDR BB vergeben werden konnten. Die Planung und Ausführung der Aktivitäten der Jazzredaktion, lag vor allem bei Wolfgang Kunert. Natürlich haben wir uns immer abgesprochen über das kommende ›Programm‹, wer eingeladen werden sollte, wer ›gewichtig‹ in der Szene war; auch Wünsche/Anregungen aus dem Orchester wurden gerne aufgenommen.

Wie wichtig war für Dich die »Personalunion von Komponist, Arrangeur, Konzeptor, Improvisator und Leiter ‚mitten drin’«[17], die Du einmal als Ideal für die Realisation einer Third-Stream-Komposition bezeichnet hast, in Deiner Funktion in der Bigband?

Für mich persönlich hat diese vielschichtige Personalunion gepasst, nicht nur für die Realisation einer Third-Stream-Komposition. Die Hochschule war froh, einen Jazz-Professor ›aus der Praxis zu bekommen‹, noch dazu wo er auch eine musikwissenschaftliche Qualifikation, ein klassisches Klavierdiplom und ein Kapellmeisterdiplom mitbrachte, der NDR war froh, einen Leiter, der auch ein eigenes künstlerisches Profil aufzuweisen hatte, gewonnen zu haben.

Du hast immer wieder herausgehoben, dass Du Dich als Leiter der NDR Bigband als primus inter pares verstanden hast. Ist das aus Deiner Kenntnis heraus ein spezifisch europäischer Ansatz der Orchesterleitung? (Wo es in den USA ja deutlich klarer den Chef gibt?) Und funktioniert so etwas wirklich? Bzw.: Wann und wo funktioniert es eventuell nicht?

Ob das ein spezifisch europäischer Ansatz ist, weiß ich nicht. Ich habe zu wenig Erfahrung diesbezüglich, und weiß nur (relata refero), dass der Leiter der seinerzeitigen ORF-BB und auch derjenige des sehr erfolgreichen Vienna Art Orchestra meinem Ideal von Kommunikation nicht gefolgt sind. Und in den USA kenne ich persönlich nur die Arbeit meines hochverehrten Kollegen Herb Pomeroy am Berklee College, der wollte nicht Chef sein, aber er war es, als ›primus inter pares‹.

Dirigat

Der klassische Ansatz ans Dirigieren geht ja quasi vom Großen ins Kleine: Formanalyse, Harmonik, Stimmführung, bis hin zur Motivik, Phrasierung usw. Inwieweit sieht das beim Jazz anders aus?

In dieser Hinsicht sieht es bei uns ähnlich aus: In den Partituren, so diese traditionell notierte Kompositionen sind und nicht nur ›Spielanweisungen‹ verbaler oder auch graphischer Natur, steht ja immer alles drin, was für die Interpretation wichtig ist, oder sollte es zumindest. Im Unterschied zu den Ausführenden hat der ›Dirigent‹ den Vorteil, die Partitur zu kennen, und kann dadurch helfend, manchmal auch lenkend eingreifen. Wichtig ist die Ausarbeitung einer korrekten Phrasierung (Artikulation) entsprechend der rhythmischen Absicht des/der Komponisten/in oder des Arrangeurs/ der Arrangeurin (triplets/Triolen-off beat oder even eights): für professionelle Orchester eine Selbstverständlichkeit (aber immer wieder mal muss doch ein bisschen ›nachgebessert‹ werden); weiters Beachtung der Gesamtdynamik des Stückes, der dynamischen Balance innerhalb der Satzgruppen und im ›Tutti‹. Auf Selbstverständlichkeiten wie ›Stimmen‹ der Instrumente vor Spielbeginn, ›Vorzählen‹ im richtigen Tempo (vom Komponisten meist mit Metronomzahl vorgeschlagen) etc. will ich hier nicht eingehen.

Wie unterscheidet sich für Dich die Möglichkeit des Eingreifens, des Lenkens vom Klavier aus von der klassischen Dirigierposition vor dem Orchester?

Soweit es mich betrifft, muss ich sagen, dass ich fast immer nur bei meinen eigenen Stücken, meist nach Texten, am Klavier sitze, und dass die Stücke ausgiebig geprobt werden konnten, so dass sich ›Dirigieren‹ fast immer erübrigt und auf gewisse ›Cues‹ beschränkt. Bei Klavierkonzerten im Bereich der Klassik (Mozart …) ist es ja ähnlich: Die Musik wird gut geprobt und hat meist einen durchgehenden Rhythmus, der Pianist, oft ein internationaler ›Star‹, sitzt vor dem Orchester, wirft gelegentlich einen freundlichen Blick zum Konzertmeister, und kann sich darauf verlassen, dass alles bestens funktioniert. Und genau so war es auch mit Count Basie oder Duke Ellington, die waren ja oft monate-/jahrelang mit einem Programm unterwegs!

Das ›Dirigieren‹ vor der Band wurde durch die Arbeit der vielen Rundfunk-, Revue-, Musical- und auch Film-Orchester mit wöchentlich oder auch täglich wechselndem Programm notwendig. Konfrontiert mit immer neuer Musik (leider meist nicht Neuer Musik) musste jemand den ganzen Laden zusammenhalten…

Hast Du fürs Dirigieren des Orchesters eine eigene Dirigiersprache gesucht / gefunden / mit Deinen Musikern verabredet? Du hast ja ursprünglich auch Dirigieren studiert; was hast Du aus dem klassischen Dirigierstudium mitgenommen für die Arbeit mit großem Jazzensemble?

Mein Dirigierstudium, das ich sogar mit dem ›Kapellmeisterdiplom‹, so hieß es, an der Grazer Musikakademie (heute Universität) abgeschlossen habe, hat mir schon geholfen, eine sogenannte gute ›Schlagtechnik‹ ist schon brauchbar bei rhythmisch komplexer Musik (Takt/Tempo-Wechsel, Rubati, Fermaten, Kombination unregelmäßiger Rhythmen, Kontraste ›im Ausdruck‹, etc.). ›Jazzspezifische Zeichen‹ sind z.B. das Einzählen (Tempovorgeben) ›in time‹, das Anzeigen von Wiederholungen bestimmter Passagen, eine einladende aber unauffällige Geste für den nächsten Solisten, Cues für die Band nach Beendigung des Solos; aber auch hier zeigt der Solist oft selbst an, wann es weiter gehen soll. Jeder Leiter hat natürlich eine eigene Körpersprache und persönliche Ausstrahlung entwickelt. Mehr fällt mir jetzt als Unterschied zu einem klassischen Dirigat nicht ein. Eine Anmerkung nebenbei: Viele ›Amateur-Dirigenten‹ (und nicht nur diese), die mal vor einer professionellen Bigband stehen ›dürfen‹, fuchteln meist viel zu viel herum, besonders das gestische Durchschlagen eines 4/4-Taktes z.B. nervt alle Spieler, vor allem die Rhythmusgruppe leidet. Es kann aber auch Passagen in einem sehr, sehr schnellen Tempo geben, vielleicht auch mit komplexen, gegenläufigen polyrhythmischen Einsätzen der Gruppen, bei denen auch die versiertesten Musiker nicht unfroh über klare simple 1-3-1-3 Zeichen sind!

Du hast Dich einmal als Probenleiter bezeichnet[18] und dazu gesagt: »Zum Dirigieren gibt es bei der Big Band fast nichts«… Wie wichtig ist das Proben zum Schaffen von Freiheiten bei der tatsächlichen Realisierung von Musik (insbesondere bei Bigbands)?

Klar ist die Probenarbeit das Wichtigste! Bei BB-Kompositionen/Arrangements ist die Absicht der Schöpfer in der Partitur ablesbar, der Dirigent hat die Aufgabe, diese Ideen/Vorgaben mit den Spielern umzusetzen! ›Freiheiten‹ gelten für die Gestaltung der Soli, und für die improvisatorische Arbeit der ganzen Rhythmusgruppe, die Bläser der Satzgruppen sind notgedrungen ›Notenknechte‹.

In Deiner Zusammenarbeit mit Sprechern kommt Dir ja auch als Dirigent“ eine noch andere Aufgabe zu: Du gibst quasi die Cues für die nicht rhythmisch festgelegten Texte, die ja in der Regel recht frei gesprochen werden. Kannst Du über die Probleme dieses Teils Deiner Zusammenarbeit mit Sprechern berichten? Geht es da um ein schnellerlangsamermehr Pausen – musst Du den musikalischen Verlauf gegebenenfalls anpassen?

Die Texte, die ich mir ausgesucht und dann in Abstimmung mit Jandl, Dietmar Mues und Henning Venske ›vertont‹ habe – mit Gunter Falk war das nicht mehr möglich, Die dunkle Seite des Würfels entstand posthum als ›hommage‹ für den Steirischen Herbst 1986 – habe ich auf verschiedene Weise verwendet: Text solo ohne Musik, da ist der Sprecher völlig frei in seiner Interpretation – ich wusste natürlich wie die Dichter ›vortrugen‹ und habe diese solistischen Passagen im dramaturgischen Ablauf der Komposition wirkungsvoll einzusetzen versucht.. Einige Texte waren ganz genau ›im Takt‹ notiert, dem Sprechrhythmus folgend, was Jandl anfänglich verzweifeln ließ; in für ihn »harter Probenarbeit« , wie er sich ausdrückte, gelang dann eine von mir vorgesehene präzise Ausführung. Textpassagen, die ich in einen ›freieren, improvisatorischen‹ Zusammenhang gestellt hatte, entweder im Dialog Sprecher mit Solist(en) oder auch mit gemischt besetzten kleineren Gruppe, mussten natürlich gemeinsam erarbeitet werden, in Abstimmung aller eingesetzten musikalischen Parameter mit der Textvorlage, bei größtmöglicher ›Freiheit‹ der Beteiligten. 

Gibt es ein Zurück vom Dirigieren ins Komponieren? Kommt es also vor, dass Du erst im Leiten der Band merkst, das stimmt so nicht, oder: Das wäre anders besser?

Nein. Ich überlege immer lange, ›trage meine Ideen/Skizzen mit mir herum‹ – das macht wohl jeder ›kreative Künstler‹ so – und dann bin ich irgendwann sicher, wie es sein muss (gelegentlich auch aus Zeitnot), und dann ist das Verfassen der Partitur eine notwendige Pflichtübung. Was nicht ausschließt, dass ich beim Anhören älterer Musik von/mit mir (BB-Kompositionen, Aufnahmen in den Trios, im Duo, Solo) nicht auch denke: Es hätte eigentlich auch ganz anders ablaufen können…

Wie ist generell es mit dem Feedback der Musiker: bei Dir, bei anderen Arrangeuren/Dirigenten der Bigband: Ist das ein Geben / Nehmen? Oder auch ein gehöriger Frust auf der einen oder anderen Seite?

Wenn die Kompositionen, von anderen oder von mir, von den Band-Mitgliedern goutiert werden, dann wird immer konzentriert und gern gearbeitet, also ein Geben und Nehmen im Sinn der Frage. In meiner ersten Zeit als ›Chefdirigent‹ – na ja, da das Sinfonieorchester immer schon einen solchen hatte, hatten wir dann ebenfalls einen solchen – kam schon gelegentlich gemeinsamer Frust auf, wenn wir, damals noch als ›Radio Tanz- und Unterhaltungsorchester‹ (RTUO), allzu dürftige Tanzmusik spielen oder Schlagersternchen begleiten ›mussten‹. In unserer ›Solistenband‹, wie sie etwas später immer wieder mit Recht bezeichnet wurde, konnte umgekehrt folgendes passieren: Wir waren ja bekannt für unsere zeitgenössischen ›avantgardistischen‹ Programme; wenn aber ein eingeladener Arrangeur allzu bemüht war, ›moderne‹ Satztechniken ohne tieferen musikalischen Sinnzusammenhang (you know what I mean) zusammen zu stoppeln, dann wurden diese oft technisch schwierigen Stücke als unmusikalisch, als konstruiert empfunden und mit Unlust, aber ›professionell‹ heruntergespielt (Dienst ist Dienst, wie es so schön hieß)… – aber das kam nicht allzu oft vor. 

Ihr habt ja seinerzeit auch Braxtons vertrackte Partituren aufgeführt. Welche Schwierigkeiten bedeutete das für Dich als Dirigentdes Ganzen und wie hast Du davor und währenddessen mit Braxton kommuniziert?

Ab 1980 haben wir mit unserem Grazer Trio NEIGHBOURS auf einigen Festivals mit Braxton gespielt, auch eine LP mit ihm aufgenommen, wir waren gut befreundet. Als ich dann später das NDR-Orchester leiten konnte – das RTUO hatte auf Betreiben seines Redakteurs Wolfgang Kunert, der mich nach Hamburg geholt hatte, auch vor meiner Zeit gelegentlich Jazz spielen ›dürfen‹ und hieß dann NDR STUDIOBAND –, haben wir Braxton eingeladen, wohl wissend was auf die Musiker zu kam. Anthony spielte selbst im Saxophonsatz mit, was wichtig war: Eine schwierige, rhythmisch komplexe längere Passage galt für die Kollegen als unspielbar; erst als Braxton das Ding locker (mit gespielter Harmlosigkeit) herunterspielte, wurden die Sax-Kollegen vom Ehrgeiz gepackt, und am Konzerttag in der Hamburger Fabrik gebührend gefeiert.

Welchen Einfluss kannst Du als Dirigent nehmen, um eine dem Motivischen verpflichtete Improvisation zu befördern (so Du das überhaupt willst)?

Ich denke, jede gute Jazzimprovisation ist irgendwie motivisch, darauf hat auch Ekkehard Jost mit dem Begriff der ›motivischen Kettenassoziation‹ bei Ornette hingewiesen[19]. Jeder Improvisator hat sich ja sein eigenes Vokabular ansozialisiert, angeeignet, angeübt, eingeübt. Aufgrund dieser prinzipiellen Fähigkeit wird es Improvisator/innen kaum schwer fallen, mit einem jeweils vorgegebenen Material in einem größeren kompositorischen Rahmen sinnvoll umzugehen. Wenn jeder Motivationsversuch versagt, dann besteht in einem größeren Klangkörper die Chance, den/die Solistin/en zu wechseln. In kleinerer intimer Besetzung besteht diese ›Gefahr‹ wohl kaum, da sich ja nur Spieler mit derselben musikalischen Wellenlänge zusammen finden werden, die entweder wirklich ›frei‹ improvisieren, oder sich gern auf sinnvolle Vorgaben/Anregungen einigen werden.

Ist der Dirigent im Falle einer großen Besetzung tatsächlich eine Art Moderator zwischen den kompositorischen und den improvisierten Partien der Stücke? Oder empfindest Du das ganz anders…?

Der Begriff ›Moderator‹ erscheint mir als unangebracht, weil missverständlich, weil dieser Begriff v.a. durch das TV so besetzt ist. Wenn ein BB-Arrangement, wenn instrumentaltechnisch schwierig, lange geprobt wird, so hat das mit Moderation nichts zu tun. Der Leiter probt so lange, bis alles stimmt, wie es in der Partitur steht. Und auf die improvisierten Passagen stürzen sich eh meist mehrere dafür in ihrer stiistischen Haltung prädestinierte Kollegen. Den Begriff ›Moderation‹ würde ich nur verwenden für ›tatsächliches Moderieren‹, für die der Dirigent/Leiter bei öffentlichen Auftritten des Orchesters zuständig ist: Vorstellung der Band, Ansage der Stücke, Nennung der jeweiligen Solisten, allgemeine Bemerkungen zum Programm, Lob des Veranstalters etc. (Nur nebenbei: Meine Ansagen kamen immer sehr gut beim Publikum und auch beim Orchester an, weil mein österreichischer Dialekt soo ›charmant‹ rüber kam; außerdem waren sie so sachlich wie möglich). 

Hat sich in Deiner Zeit mit der NDR-Bigband etwas geändert in Deiner Herangehensweise ans Dirigieren? Gab es Zeiten, wo Du zu viel / zu wenig dirigiert hast? Wie sieht es mit unterschiedlichen Klangkörpern aus? Bedarf es jeweils einer Einführung ins persönliche Dirigiervokabular?

Ich denke, meine persönliche Art des Leitens einer Bigband hat sich über die Jahre nicht sehr verändert. (Diese Frage müssten eigentlich die Musiker in der Band beantworten). Im Partiturlesen bin ich geschwinder geworden, und in der ästhetischen Einschätzung des jeweiligen Materials viel kritischer.

Du hast ja auch Erfahrungen außerhalb des Jazzkontextes. Wie unterscheidet sich die Aufgabe, wenn Du die Dir bekannte NDR Bigband, ein anderes Jazzensemble, einen Chor oder ein Ensemble mit Musikern dirigierst, die vor allem klassische Spielerfahrung besitzen? In der Reaktion? In der Kommunikation? In den Anforderungen, die die Musiker an Dich – als Komponisten, als Arrangeur, aber auch als Dirigenten – stellen?

Im Jazzbereich hatte ich bisher die WDR Bigband und einige Hochschul-Bigbands und Landesjugendjazzorchester leiten können, die Arbeit als ›Dirigent‹ ist jeweils ähnlich. Dass mit einer so notensicheren Band wie der des WDR fast alles wie von selbst geht, ist wohl klar: in den 80ern wurde ich für ein Konzert zum 100. Geburtstag von Strawinsky eingeladen, das Ebony Concerto wurde gespielt, und unser Herb Geller hatte einige Woody Herman Stücke neu arrangiert; und vor kurzem hatte ich die Freude, im Rahmen eines ›Legenden (?) -Konzerts‹ in Gütersloh einen kurzen Ausschnitt aus einem meiner Jandl-Stücke spielen zu können, mit Wanja Mues als Sprecher. Dass mit Jugend-und Hochschulorchestern, also angehenden Profis, mehr im Detail an allen ›basics‹ gearbeitet werden muss, ist auch klar. Eine besondere Erfahrung für mich war immer die Arbeit mit klassischen Orchestern im Jazzkontext: Im Rahmen des NDR machten wir zahlreiche Produktionen mit dem Rundfunkorchester Hannover plus Jazzsolisten, als bekanntestes Beispiel die Uraufführung von Wolfgang Dauners Urschrei beim Jazzfestival Berlin 1976. Das Problem mit klassischen Orchestern ist, dass diese in kurzer Zeit kaum zum Swingen gebracht werden können, sollte das der Komponist beabsichtigt haben. Das gilt für europäische Orchester, soweit ich das beurteilen kann; die USA-Orchester können das aufgrund ihrer musikalischen Sozialisation auch im Jazzbereich meist ohne Problem. Mit dem Sinfonieorchester in Oldenburg und vor allem mit dem großartigen SO des NDR in Hamburg konnte ich Liebermanns Concerto aufführen, wobei ein ziemlicher ›Schwung‹ erreicht werden konnte. Bei diesen Orchestern war schon ein ›klassisches Dirigierverständnis‹ Voraussetzung für eine Akzeptanz des Leiters. Ähnlich war es bei der Arbeit mit dem Bläser-Ensemble der deutschen Oper Berlin an Kompositionen von Eberhard Weber, und bei der Erarbeitung von Kenny Wheelers Kompositionen für die Bläser des SO Hamburg mit dem Trio Azimuth. Dirigentische Zeichengebung war sowieso klar, aber ich erinnere, dass ich mit Körpereinsatz, mit Vorsingen/-artikulation letztlich doch ein Gefühl für swingende ›off beats‹ anregen konnte, das allen Beteiligten sogar auch Spaß machte. Ganz allgemein: Bläser, vor allem Blechbläser, waren viel aufgeschlossener dieser für sie neuartigen Artikulationsweise gegenüber als die Streicher! Im Rückblick denke ich, dass die jüngeren Musiker/innen interessiert mitgezogen haben, dass der ältere Teil der Orchester teils pflichtgemäß aber ›wurschtig‹ dabei war oder sein Missfallen ganz offensichtlich mimisch ausdrückte. Ich hatte sehr gute Erfahrungen mit dem klassischen Chor des NDR (Ellingtons Sacred ConcertsRequiem von Steve Grey), der begeistert bei unserer BB dabei war. Allerdings wurde der Chor nicht mit off beat-Phrasierungen belastet, sondern hatte meist klangschön und ausdrucksstark die Ellington-Voicings zu interpretieren. (Private Anmerkung: Da war meine mehrjährige Arbeit als Chor-Korrepetitor am Grazer Opernhaus sehr hilfreich. In den oft ›lyrischen‹ Passagen ist schon eine andere Zeichengebung notwendig als bei stark swingenden BB-Stellen.) 

Ihr habt regelmäßig Gastdirigenten eingeladen. Wann und wo machte das besonders Sinn und was konnten die besser als wenn Du die Band geleitet hättest?

Komponisten und Arrangeure, deren Musik wir im Repertoire haben wollten, ›durften‹ immer ihre eigenen Stücke leiten, wenn sie wollten und konnten (was fast immer der Fall war), wie sie sich ja auch immer einen Gast-Schlagzeuger wünschen konnten: die Schlagzeugstelle war bei uns nicht fix besetzt, da wir für unser breites Repertoire stilistisch bestens qualifizierte Musiker von Charlie Antolini bis Tony Oxley haben wollten. Was diese Gäste besser konnten als ich? Ich denke, Dirigieren im technischen Sinn nicht, vielleicht brachten sie ihre Musik mit (noch) größerer Überzeugung über die Rampe. Es gab vor allem einen ganz pragmatischen Grund für das Engagement von Gastdirigenten: Ich hatte nur eine begrenzte Anzahl von ›Dirigiertagen‹ (anfangs 140 pro Jahr, viel zu viel; dann 110, das ging gut neben meinem zweiten Hauptjob in Hamburg, der Leitung der Jazzabteilung an der Musikhochschule; dann 80, sehr angenehm, zuletzt 60, sehr, sehr angenehm), also mussten die Lücken auf jeden Fall gefüllt werden, im Ergebnis ein Gewinn für unsere gemeinsame Sache. 

Vor einigen Jahren hattest Du mal das 100köpfige Orchester der chinesischen Roten Armee dirigiert… Was war da los? Und wie war’s?

In den 90er Jahren war ich mehrmals jeweils im Herbst in Beijing im Rahmen des DAAD-Austauschprogramms (Reisespesen, Hotel, Tagesdiäten, kein Honorar), meist an der von Yamaha gesponserten ›Midi School‹ für Pop und Rock, gelegentlich auch am Konservatorium und an Musikschulen in der Umgebung von Beijing. Bald kamen einige Musiker der ›Bigband‹ der Roten Armee (ich glaube sie hieß ›Red Eagle Banner‹) und haben mich dem leitenden ›Musik-General‹ vorgestellt, der so was von höflich und ergeben vor mir aufsalutierte. Diese etwa 30 Musiker waren alle Mitglieder der 5 großen ›sinfonischen‹ Militär-Blasorchester (jeweils ca. 100 Musiker) gewesen, die es tatsächlich hingekriegt hatten, eine eigene Gruppe zu bilden und Jazz zu spielen, oder spielen zu wollen. Es gab ein bescheidenes Repertoire, so was wie ›very-easy-Tanzorchester-Zicken-Swing‹, und wir haben es dann zu ganz ordentlich phrasierten swingenden aber technisch schon leichteren Count Basie-Stücken gebracht. Als ich das erste Mal in Beijing ankam, fand gerade das 2. Internationale Jazzfestival statt auf dem ich dann jährlich spielen konnte, mit Neighbours, mit Cercle, mit der NDR Bigband, mit ENIM (Ensemble for New Improvised Music) – das war eine tolle wirklich internationale Gruppe die ad hoc in Beijing entstanden war (Mark Dresser/USA b, Andi Schreiber/Austria viol, Peter Veale/Australia oboe, Vladimir Tarasow/Lit dr, ein weiterer lokaler Geiger, und ich, ich hoffe, ich habe niemand vergessen); wir hatten dann noch eine Einladung nach Georgien zu einem Avantgarde- Festival (!) in der Nähe von Tiflis – mit einer Riesengage, für die ich mich noch heute schäme. Ich erinnere, dass einige Musiker ›meiner‹ NDR Bigband mit Freude und Interesse Satzproben mit der military band gemacht haben, mit der wir auch einmal das Festival eröffnen durften. 

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Fragen an Mathias Rüegg[20]

Mathias Rüegg wuchs in Graubünden auf und studierte ab 1973 erst in Graz, dann in Wien Klavier und Komposition. 1977 gründete er das Vienna Art Orchestra (VAO), das bald zu einer der herausragenden großen Ensembles Europas werden sollte und auch von amerikanischen Medien für seine Fortentwicklung der Bigbandsprache gelobt wurde. Das VAO ging durch verschiedene Stadien, die sich durch unterschiedliche Besetzungen, Repertoires und musikalische Ansätze auszeichneten. In seiner 23-jährigen Geschichte legte das Orchestra mehr als 35 Tonträger vor, die sich mal verschiedenen Aspekten der amerikanischen Jazzgeschichte widmeten, mal den unterschiedlichsten europäischen Traditionen, die mal stärker improvisatorisch ausgeprägt waren, dann wieder stärker kompositorisch. Neben seiner Arbeit für das VAO war Mathias Rüegg 1993 einer der Mitgründer des Wiener Clubs Porgy and Bess, dem er einige Jahre auch als künstlerischer Leiter vorstand. 2003 gründete er das Austrian Music Office, das vierzehn Jahre lang den renommierten Hans-Koller-Preis vergab. Rüegg lebt und arbeitet in Wien. 

Komposition

Wolfram Knauer: Du hast ja in den 1970er Jahren in Graz Dein Handwerk verfeinert. Kannst Du ein wenig darüber erzählen, wie Dein auch klassisches Kompositionsstudium Einfluss auf Deine Arbeit als Jazzkomponist hatte?

Mathias Rüegg: Ich hatte mich dort lediglich ein Jahr damit beschäftigt. Da ich aber mit Klassik aufgewachsen bin, hatte ich bereits einen ›direct access‹ zur klassischen Musik. Das meiste passierte dann aber durch ›learning by doing‹. Zusätzlich gab es später eine jahrelange Freundschaft mit dem Komponisten Nali Gruber, von dem ich viel lernen konnte. und das Hören verbesserte sich bei mir kontinuierlich.

Siehst Du Deine Arbeit, die ja mit Komposition und Improvisation arbeitet und auch mit Techniken aus den Welten europäischer und afro-amerikanischer Traditionen, als eine Fortführung der Third-Stream-Bewegung –  oder ist Dir eine solche Zuordnung zu simpel? Du hast Deine Musik für das VAO selbst einmal als »American jazz with American timing and idiomatic American phrasing, but from a European point of view« bezeichnet[21]Wo verortest Du für Dich die unterschiedlichen Traditionen, auf die Du Dich in Deiner Arbeit beziehst? 

Ich würde mich als Polystilisten bezeichnen, vielleicht auch als musikalischen Jongleur in der Schnittstelle zwischen Jazz, Klassik, evtl. auch Volksmusik. Und immerhin hatte ich 1969/70 sogar eine Rockband, mit der ich schon damals Klavierstücke von Schumann adaptiert hatte, ganz nach dem Vorbild Keith Emersons.

Du hast mit dem VAO eigentlich immer wieder Reverenzen an andere Kollegen (Komponisten und Musiker aus Klassik und Jazz) vorgelegt. Ist diese Spiel mit quasi Bekanntem – also auf Beispiele, die sowohl für die Musiker wie auch für das Publikums einen Bezugsrahmen bedeuten können – für die Arbeit mit aktueller, zeitgenössischer Musik ein Angebot ans Publikum (ein wenig wie das Standardspielen)? Oder anders ausgedrückt: Lässt sich leichter wider den Stachel löcken, wenn man auf scheinbar Bekanntes rekurriert als wenn alles Material für alle Beteiligten neu ist?

Ich dachte mir, dass es zu vermessen wäre, wenn das VAO nur Stücke von mir spielen würde. Dieser potentiellen Horizontverengung versuchte im insofern mit einer Horizonterweiterung entgegenzuwirken, als ich ›Material‹ von möglichst vielen Musikstilen durchforstete und auf die Realisierungsmöglichkeiten prüfte, um es dann zu adaptieren. Ich war also zur Hälfte Komponist und zur Hälfte Arrangeur.

Vienna Art Orchestra

Wie war zu der Zeit, als Du das VAO gegründet hattest, der Ruf des Bigband-Jazz bei Euch Musikern? Das Vienna Art Orchestra heißt ganz bewusst Orchestra, nicht Bigband, wollte ursprünglich also auch die mit der Bigband verbundenen Traditionen überwinden.

Gute Beobachtung! Wir hatten Bigbands eher ›gehasst‹, oder böser gesagt, das musste man damals, wenn man zur Avantgarde gehören wollte. Bis ich spätestens 1997 festgestellt hatte, dass ich in Wahrheit eigentlich immer im Geiste schon lange für Bigband geschrieben, es bis dato aber nicht gemerkt hatte. Aber die größte Challenge war dann 2009, als ich die Bigband in ein Kammerorchester verwandelte. Vier Streicher statt Saxophonsatz, drei Holzbläser (Flöte, Klarinette Fagott), drei Blechbläser (Trompete, Flügelhorn, Posaune), rhythm section (ebenfalls Klassiker) & drei Jazzsolisten. Das war wohl zeitlich noch etwas zu früh, aber ich finde das Album Third Dream sehr spannend und total unterbewertet! Im Übrigen sehe ich mich als Spätzünder. Je älter ich geworden bin, desto substantieller wurde meine Musik. Die größte Schwierigkeit dabei: das Lösen vom Zeitgeist, von Coolness und von Hipness. Zum Glück halten sich die zeitbedingten Peinlichkeiten in Grenzen. ›Free‹ hatte damals live super funktioniert, aber sich das dann später auf Tonträger anhören zu müssen, fällt für mich eher ins Kapitel ›Strafe‹.

Im Prinzip gab es drei Ausgaben des VAO, die erste Besetzung bis 1990, die Besetzung von 1990 bis etwa 2008 und die Besetzung nach 2009, in der neben den Jazzern auch vermehrt klassische Musiker saßen, die aber auch mit der Jazzsituation umgehen konnten. Gab es in diesen drei Besetzungen auch für Dich als Komponisten Unterschiede in der Herangehensweise? Und falls ja, wie ließen sich diese beschreiben?

Die erste war 1977/78 (Happening-Phase), dann 1979 bis 1987 (Urbesetzung mit Uli Scherer, Roman Schwaller, Bumi Fian, Lauren Newton etc.) dann 1988 bis 1997 (verschiedene szenische Konzeptprogramme wie Fe & Males oder VAO Plays for Jean Cocteau), dann 1998 bis 2008 (Big Band) und dann 2009/10 das Kammerorchester. Im Prinzip ging es bei jedem Programm um eine andere Herausforderung, die ich mir gestellt hatte. Bis 1987 passierte alles aus Zufall, unbewusst. Die Musik war einfach da. Aber ab dann musste ich sehr kämpfen. Erst ab 1998, also nach zehn Jahren, ging dann wieder fast alles wie von selbst. Außer bei dem Kammerorchester, da musste ich erst ganz vieles erfinden. Den Klassikern hatte ich die Soli z.B. ausgeschrieben, in untereinander kombinierbaren Mehrfachvarianten, so, dass sie jeden Abend etwas anderes spielen konnten.

Du hast bei der Auswahl Deiner Musiker immer Wert darauf gelegt, dass sie sich im Ensemble wohlfühlen, aber auch die Möglichkeit der solistischen Freiheit bewahren. Wie beugt man bei der langjährigen Tätigkeit mit einem Großensemble dem Satzspieler-Frust vor, der Bigbands durchaus eigen ist (in Deutschland spricht man gelegentlich von den Musikbeamten bei den Musikern, denen durch die Pflichtübung des Satzspiels ihre Kreativität abhandengekommen ist)? 

Die wichtigste Fähigkeit jedes guten Leaders ist – egal in welchem Bereich –, das Talent, die Mitspieler motivieren zu können. Und alle lebendigen Großformationen bestanden, im Gegensatz zu später entstandenen staatlich verordneten Klangkörpern, fast ausschließlich aus Solisten. Eine Bigband kann sehr schnell nach etwas klingen. entscheidend wird es dann, wenn die Soli beginnen! Und einen Solisten für einen ganzen Abend einzuladen, fand ich immer schon eine eigenartig konstruierte Idee, die es so nicht mal in der Klassik gibt. Jedenfalls kann man mit so einem Konzept die Mitspieler nicht motivieren! Und Satzspielen kann ja auch Spaß machen!

Du bist, ganz im Sinne Ellingtons, ein Komponist, der für die Persönlichkeiten der Musiker schreibt. Was genau ist das: die Persönlichkeit eines Musikers? Und wie macht sich das musikalisch fest? Und haben diese Musiker, für die Du schreibst, auch selbst Mitspracherecht? Rückkopplungsrecht?

Wenn man zusammen auf Tournee ist, dann will man natürlich den Solisten Parts vorlegen, die sie mögen und herausfordern. alles andere wäre absurd – und passiert hauptsächlich in einmaligen ›Projekten‹, in denen es zum guten Ton gehören kann, gegenMusiker und gegen den Klang der Instrumente zu schreiben.

Du hast ja schon die Fäden in der Hand gehalten im VAO. Hast Du Dich dennoch als primus inter pares verstanden in dieser als wilder Haufen gestarteten Truppe, die mit der Zeit immer mehr Form erhielt? Oder hat sich deine Rolle gegenüber dem Orchester gewandelt mit der Zeit?

Eigentlich war das VAO am Schluss ja immer (nur) ich. Eine Erkenntnis, zu der ich sehr spät gelangt bin, denn ich hatte mich ja immer sehr zurückgenommen. Anders gesagt: Die musikalisch-stilistische Entwicklung des VAO entspricht haargenau meiner eigenen. Vom Chaos zur (versuchten) Perfektion.

Dirigat

Du bist als Komponist der Garant für den Verlauf der Musik, aber auch als Orchesterleiter. Welchen Einfluss hat Deine Anwesenheit auf den Verlauf des Abends? Wie kannst Du steuern? Oder was kannst Du eben gerade nicht steuern?

Es verhält sich ziemlich genau wie im Fußball. Die wichtigste Arbeit des Trainers passiert vor dem Spiel. Gestikuliert wird fürs Fernsehen. Sein einzig konkreter Eingriff ins Spiel erschöpft sich durch Zeitpunkt und Wahl der Wechselspieler. Dazu bräuchte er aber nicht mal auf dem Spielfeld zu sein.

Das VAO mag zwar als Anarcho-Haufen begonnen haben, wie es immer wieder beschrieben wurde, hat aber sehr schnell eine Handschrift erhalten, die ganz klar Mathias Rüegg zuzuordnen war. Dem Komponisten Rüegg also. Inwieweit hast Du das VAO als Dein Instrument begriffen, wie es Ellington so oft nachgesagt wird…?

Nachdem ich als Klavierspieler – im Gegensatz zu Ellington – unfähig war, blieb mir gar keine andere Möglichkeit! Und siehe oben: Die Entwicklung des VAO war immer (auch) meine eigene. 

Du hast neben der Arbeit mit dem VAO (aber sicher auch durch sie) immer wieder Kompositionsaufträge für andere Besetzungen erhalten, Sinfonisches, Kammermusik oder kleinere Besetzungen und hast einmal gesagt, dass das eigentlich viel interessanter ist als für Bigband zu schreiben. Inwiefern unterscheidet sich das Schreiben für ein Dir erst einmal nicht bekanntes Ensemble vom Schreiben für bekannte Musiker wie die des VAO?

Ich habe immer liebend gerne für klassische Musiker geschrieben. Man muss die Musik nicht mit dem Solisten teilen. Wobei das eine eigene Kunst wäre, die früher alle beherrschten, heute nur noch wenige. Man ist also alleiniger ›Kreator‹ und für alles verantwortlich. Man kann nicht einfach ›swing in g-minor ad lib‹ schreiben.

Welches waren Deine Möglichkeiten der Leitung  des VAO? Hast Du Gesten, Blickdirigate, Lenkung der Band auch in improvisatorischen Partien entwickelt über die Jahre? Sind Dir die Musiker da immer gefolgt? Gab es Konflikte dabei, oder Missverständnisse?

Der Konzertmeister der Wiener Philharmoniker hat einmal zu einem Gastdirigenten, der sich mit dem Orchester anlegen wollte gemeint: Gut, aber dann spielen wir das, was Sie dirigieren…

Gibt es Unterschiede des Dirigats – sowohl in der Art wie auch in der Funktion des Dirigierens – in der Probe und des Dirigats während des Konzerts?

Das Einstudieren ist mit Abstand das Wichtigste. Der Rest sind vor allem Motivation und die richtigen Tempi.

Wie verstehst Du Deine Rolle als Dirigent vor der Band? Dein Kindheitstraum war, sagtest Du ja einmal im Gespräch mit Robert Menasse, Kapitän[22]. Gab es für Dich das Anliegen, als Dirigent auch eine gewisse Kontrolle über den improvisatorischen Fortlauf zu nehmen, um das Arrangement in der Gesamtheit zusammenzuhalten? Oder bist Du vor allem Einsatzgeber, Orientierungshilfe?

Stimmt! Die Produktionen der letzten 20 Jahre waren immer genauer festgelegt, so, dass es mich als reinen Dirigenten kaum gebraucht hätte. Aber ich war ja immer auch Road Manager, Reiseleiter, Finanzchef, Koordinator etc. 

Wenn Ihr bestimmte Stücke bereits etliche Male gespielt habt, wofür braucht es dann noch den Mann vorm Orchester? Sprich: Wie verändert sich die Aufgabe des Dirigenten mit der Repertoiregeläufigkeit der zu dirigierenden Musiker?

siehe vorherige Antwort

Zwei Deiner Helden sind gewiss Duke Ellington und Gil Evans. Der eine ein großer Showman, der andere ein eher im Hintergrund agierender Arrangeur. Ellington hat an jeder Stelle die Möglichkeit gehabt, Einfluss zu nehmen, durch seine Persönlichkeit, Bühnenpräsenz aber auch sehr präsente Art Klavier zu spielen. Evans hat das eher hintergründig getan, ebenfalls von den Tasten aus, aber eher als eine Art Sicherheitsbremse oder -antrieb, sollte man ihn brauchen. Wie hast Du Deine Rolle vor oder hinter dem Orchester gesehen?

Ich war auf der Bühne immer eher ›the man in the shadow‹. Und das war auch gut so, weil ich ja sonst ›omnipräsent‹ war. Zum Beispiel mit der Wahl der Musiker und der Techniker, mit der Wahl der Programme und deren dramaturgischen Umsetzungen etc. etc. Mit Gil Evans verband mich im Übrigen eine lose Freundschaft über mehrere Jahre. Und Duke hatte ich noch 1974 im Frühjahr (wenn ich mich richtig erinnere) bei einem seiner letzten Konzerte in Graz gehört. Aber eines meiner ganz großen Vorbilder am Anfang war Carla Bley! Ihre Musik hatte eine magische Wirkung auf mich. Erst später entdeckte ich nach und nach die vollständige Geschichte samt all ihrer großen Meister!


[1] Vgl. Glawischnig 1992, der statt des Begriffs ›Komponist‹ Hilfsbegriffe wie »Konzeptor, Struktur- oder Verlaufsplaner, Ideen-Lieferant, Erzeuger von Improvisationsvorlagen, Improvisations-Animator, Bezugsrahmen-Setzer, Erzeuger von Rahmenbedingungen, Steuermann von prozeßhaften Verläufen« einführt. (Dieter Glawischnig: Mitteilungen aus der musikalischen Praxis, in: Wolfram Knauer (Hg.): Jazz und Komposition, Hofheim 1992 (Wolke), S. 159-178; hier: S. 163

[2] Tom Lord: The Jazz Discography, Version 15.0 (2014) [CD-Rom]

[3] Cab Calloway & Bryant Rollins: Of Minnie the Moocher & Me, New York 1976 (Crowell), S. 62

[4] Ebd., S. 65-66

[5] https://www.youtube.com/watch?v=dtG5m7P56vk (aufgerufen am 28. Mai 2015)

[6] https://www.youtube.com/watch?v=LSC0zze3dz0 (aufgerufen am 28. Mai 2015); vgl. auch den kompletten Film Jivin‘ in Bebop, der Gillespies Eingebundenheit ins kommerzielle Showbusiness zeigt; https://www.youtube.com/watch?v=ZjIWIJTPwu4 (aufgerufen am 28. Mai 2015)

[7] Karla FC Holloway: Passed On. African American Mourning Stories. A Memorial, Durham/NC 2002 (Duke University Press), S. 175-176

[8] http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/f7/Duke_Ellington_-_Hurricane_Ballroom_-_Duke_directing_2.jpg (aufgerufen am 28. Mai 2015)

[9] The Ella Fitzgerald & Duke Ellington Cote D’Azur Concerts on Verve (Verve 314-539 033-2)

[10] https://youtu.be/4ZLvqXFddu0 (aufgerufen am 28. Mai 2015)

[11] http://www.conduction.us/ (aufgerufen am 28. Mai 2015)

[12] Klaus Härtel: Von Autopilot und Technik. Richard DeRosa über Unterschiede des Dirigats, in: Clarino.print, May 2015, S. 35

[13] Dieter Glawischnig gab seine Antworten auf die Fragen des Autors per e-Mail vom 15. April 2015.

[14] Andreas Fellinger: Aus der Kürze des Lebens. Morgen Samstag feiert der Pianist, Komponist, Big-Band-Leiter, Hochschullehrer und Musikwissenschaftler Dieter Glawischnig, ein Grazer in Hamburg, seinen 60. Geburtstag. Und zwar, wie es sich gehört, öffentlich: im Grazer Orpheum, in: Neue Zeit (Graz), 6.Mar.1998, S. 29

[15] NN: NDR-Bigband. Die dunkle Seite des Würfels. Kompositionen von Dieter Glawischnig, in: [Konzert-Werbeblatt], NDR Hamburg, 4.Feb.1994 (im Archiv des Jazzinstituts Darmstadt)

[16] Werner Burkhardt: Garstig swingendes Melodram. Dieter Glawischnig schreibt für die NDR Big Band, in: Süddeutsche Zeitung, 12./13.Feb.1994 (Ausriss im Archiv des Jazzinstituts Darmstadt)

[17] Oskar Aichinger: Third Stream. Anmerkungen zu offenen Fragen – Ein Interview mit Dieter Glawischnig, in: Jazzforschung/jazz research, #24 (1992), S. 183-189, hier: S. 186

[18] Hans Kumpf: Dieter Glawischnig. Das Verstehen von Musik ist für mich gleich wichtig wie das Machen, in: Jazz Podium, 43/10 (Oct.1994), S. 23-24, 26, 29-30; hier: S. 30

[19] Ekkehard Jost: Free Jazz. Stilkritische Untersuchungen zum Jazz der 60er Jahre, Mainz 1975 (Schott), S. 57

[20] Mathias Rüegg gab seine Antworten auf die Fragen des Autors per e-Mail vom 22. April 2015.

[21] Patrick J. Butler: Is 20 Years Enough? Mathias Rüegg is not sure if his Vienna Art Orchestra’s 20th anniversary is another highlight of its success or its grand exit, in: Down Beat, 64/9 (Sep.1997), S. 10-11; hier: S. 10

[22] Robert Menasse: …Zwischen Künstlern. Robert Menasse im Gespräch mit Mathias Rüegg, in: Jazz Zeit, #27 (Apr.2002), special supplement, S. 8-9; hier: S. 8


Veröffentlicht unter Essays

Blow your horn, man!

Über die fragwürdige Männlichkeitsästhetik des Jazz

Diesen Text verfasste ich fürs Programmheft des 53. Jazzfests Berlin (als PDF hier abrufbar), für das Festivalleiter Richard Williams zum ersten Mal eine Parität zwischen den Geschlechtern unter den Bandleader:innen schuf. Abgesehen davon, dass ich gerade einen solchen Text heute wahrscheinlich gendern würde, geht er – sicher auch den Vorgaben zum Umfang geschuldet – bei weitem nicht tief genug, hinterfragt insbesondere nicht meine eigene Position in diesem Diskurs, als Autor, Veranstalter, Dozenten und damals Direktor des Jazzinstituts Darmstadt. 

Zu den vielen Klischees, die es über den Jazz gibt, zählt ganz gewiss jenes, dass der Jazz eine Männermusik sei. Und es stimmt ja auch: Die üblicherweise gefeierten Heroen des Jazz, von Louis Armstrong über Duke Ellington, Charlie Parker, Miles Davis, John Coltrane, Herbie Hancock bis hin zu den jüngsten Namen, die angeblich die Wiederbelebung des Genres auszeichnen, Robert Glasper, Jason Moran oder Kamasi Washington, um nur die amerikanische Linie anzuführen – alles Männer. Tatsächlich gibt es genügend Frauen, die an der Entwicklung des Jazz mitgewirkt haben, nicht nur jene, die bei diesem Thema immer genannt werden, Mary Lou Williams, Maria Schneider oder Barbara Thompson, Ella Fitzgerald, Jutta Hipp oder Carla Bley. Die amerikanische Musikethnologin Sherrie Tucker hatte 2004 eine Publikation über den Anteil von Musikerinnen im New Orleans des frühen 20sten Jahrhunderts veröffentlicht und dabei mit dem Vorurteil aufgeräumt, schon von Anfang an sei der Jazz eine Musik von Männern gewesen. Aus anderen Quellen erfahren wir – wahrscheinlich zum Erstaunen der meisten –, dass es kurz nach der Jahrhundertwende mehr Frauen- als Männerensembles in Europa gab, oder dass auch in Deutschland mancherorts die ersten dort zu hörenden amerikanischen Jazzbands in den 1920er Jahren Frauenorchester gewesen waren. 

Es gibt also, wenn man nur tief genug gräbt, genügend Informationen darüber, dass der Jazz, anders als man gemeinhin glaubt, keineswegs eine Männermusik sein muss. Warum aber wird er so oft als eine solche gesehen? Warum hält sich das Klischee bis in unsere Tage? Und wie ließe sich der Wahrnehmung von Jazzgeschichte als einer männlichen Domäne korrigierend entgegentreten? Ganz bestimmt nicht allein dadurch, das man in Konzerten und bei Festivals von Musikerinnen geleitete Ensembles oder gar ganze „Frauenbands“ auftreten lässt. Es geht ja weniger darum, zu zeigen, das Musikerinnen „genauso gut“ spielen wie Musiker, als vielmehr darum, dass ihre Beweggründe, sich in diesem Genre ausdrücken zu wollen, dieselben sind wie die ihrer männlichen Kollegen. Wenn aber die musikalischen Voraussetzungen und die Motivation des Musikmachens grundsätzlich ähnlich sind, müssen die Gründe für die weitgehende Marginalisierung von Musikerinnen im Jazz anderswo zu suchen sein.

Vielleicht lohnt es sich, von den vielen Perspektiven dieses Themas zumindest drei kurz anzureißen. 

Da sind zum einen die Jazzkritiker, denen wir, lange bevor es so etwas wie Jazzforschung überhaupt gab, die Dokumentation von Jazzgeschichte zu verdanken haben. Sie waren teilweise Experten, teilweise hingebungsvolle Fans, die der Musik großen Respekt entgegenbrachten, ohne aber oft tatsächlich das, was da musikalisch verhandelt wurde, angemessen beschreiben zu können. Die Jazzkritik fand überdies bis in die 1950er Jahre hinein vor allem in der populären Musikpresse statt, richtete sich also an ein Laienpublikum. Und so suchten viele der frühen Kritiker eher nach guten Geschichten, als dass sie wirklich auf die Musik hörten. Ihre Berichte über phänomenale Soli oder über die Tenor Battles in Kansas City lesen sich oft genug wie Sportreportagen, bei denen der – gesellschaftlich eher männlich konnotierte – Wettbewerbscharakter stärker im Vordergrund zu stehen scheint als etwa die – gesellschaftlich eher weiblich konnotierte – Einfühlsamkeit des Aufeinander-Hörens und Aufeinander-Reagierens der Musiker/innen. Das Höher-Schneller-Weiter (und immer wieder auch „Neuer“) der amerikanischen und europäischen Jazzkritik entstand aus einer Haltung heraus, die den Fokus auf (männliche) Musiker und die Marginalisierung weiblicher Musikerinnen nur unterstützte. 

Da ist zum zweiten das Publikum, das über die Jahre – ebenfalls gesellschaftlich begründet – immer mehr aus Männern zu bestehen schien. In New Orleans war der Jazz noch eine in der Gemeinschaft verankerte Musik. In der Swingära war Jazz geschlechterübergreifend der Soundtrack fürs erste Date. Je mehr Jazz aber zum Kultobjekt einer ganz eigenen Community (jener der Jazzhörer nämlich) wurde, desto weniger waren Frauen Teil dieses Kreises. Das hat viele Gründe, von denen einer der Jazzclub sein mag, in dem auf unterschiedlichste Art und Weise Geschlecht markiert und zwischen den Geschlechtern vermittelt wurde. Hier mutierte der Jazzfan zum sprichwörtlichen Briefmarkensammler, der statt seltener Marken Platten oder Livemusikerlebnisse sammelt, der sich durch das Wissen um die Musik im Männerbündnis der anderen Sammler und Experten positioniert, der den Jazzkeller zugleich aber auch (zumindest in den 1950er bis 1970er Jahren) als potentiellen Flirt- oder außerfamiliären Freiraum betrachtet. Wie bei so vielem war die Konzentration männlicher Sammelleidenschaft dabei irgendwann so übermächtig, dass viele der Frauen, sofern sie zu diesem Zirkel überhaupt Zugang fanden, aufgaben, weil es Wichtigeres gibt, sei es – um das Klischee zu bedienen – Familie, Beruf oder aber tatsächlich: die Musik. 

Da sind zum dritten die Musiker selbst, die vor allem im homosozialen Umfeld der Männerensembles wirkten. In der Swingära war die einzige Frau auf der Bühne oft genug die Sängerin, die vor allem bei Schlagern zum Einsatz kam und ansonsten vor der Band zu sitzen und schön auszusehen hatte. Der „Canary“ (wie man die Bigbandsängerinnen damals abschätzig nannte) war ein Ausdruck der durch die musikindustrielle Vermarktung von Jazzorchestern festgeschriebenen neuen Geschlechterordnung, nach der Männer die Musiker und Frauen höchstens Sängerinnen, ansonsten vor allem Begleiterinnen der Jazzfans waren. All das wiederum ist eine Reaktion auf die durch Heteronormativität geprägte Gesellschaftsordnung des 20sten Jahrhunderts. Wenn auch der Jazz zu Beginn seiner Geschichte durchaus Verbindungen in ein Milieu besaß, in dem Frauen als Ware betrachtet wurden, so genossen die Musikerinnen in jenen frühen Tagen doch große Wertschätzung. Ab den 1930er Jahren wurden sie auf der Bühne dagegen vermehrt als (immer auch sexuelles) Objekt präsentiert und wurde diese Objekthaftigkeit von Weiblichkeit durch alle die Musik begleitenden Medien tradiert und in einen scheinbaren Gegensatz gesetzt zur überbetonten Subjekthaftigkeit, also dem Alleinstellungsmerkmal musikalischer Individualität, ihrer männlichen Kollegen. 

Wo aber stehen wir heute? Die Genderdiskussion ist mittlerweile auch im Jazz angekommen, etwas unaufgeregter als in anderen Bereichen, auch deshalb, weil die gesellschaftlichen Veränderungen eine neue Art von „Normalität“ herstellen, wie es sie vor 20 Jahren so noch nicht gegeben hatte. Kann es vielleicht sein, dass, so wie bi-lingual aufgewachsene Menschen oft nicht wissen, ob sie ein Buch in der einen oder anderen Sprache gelesen haben, Geschlecht und sexuelle Orientierung von Musiker/innen heutzutage kaum mehr Einfluss auf die Rezeption ihrer Musik haben? Das 1996 ins Leben gerufene Mary Lou Williams Women in Jazz Festival wurde 2014 in Mary Lou Williams Jazz Festival umbenannt, weil die Veranstalter den Fokus auf Frauen für zu einseitig hielten: Er implizierte zu oft die Frage, ob dort auftretende Musikerinnen generell oder aber nur „für eine Frau“ großartige Musik machten. „Man muss nicht das Geschlecht dieser wunderbaren Frauen herausstellen“, erklärte eine der Organisatorinnen. „Talent ist Talent ist Talent.“ Und als 2014 das OutBeat Festival in Philadelphia ein Programm um Musikerinnen und Musiker strickte, die sich der LGBTQ-Community zugehörig fühlten, murrten beide Seiten auf: Einige der auftretenden Künstler wollten nicht einzig durch ihre sexuelle Orientierung definiert werden; einige nicht schwul-lesbische Musiker kritisierten: Seit wann ist schwul oder lesbisch ein musikalisches Qualitätskriterium? Die einzige transsexuelle Künstlerin des Events, die Bassistin Jennifer Leitham, witzelte in ihrer Ansage: „Was man heutzutage nicht alles tut, um einen Gig zu kriegen!“ Der Pianist Orrin Evans aber, der in Philadelphia an einer der Diskussionsrunden zu Homophobie im Jazz teilnahm, fasste die eigene Haltung und die der meisten Kolleg/innen seiner Generation lapidar zusammen, als er auf die Frage, wie er es mit schwulen oder lesbischen Musiker/innen in seiner Band halte, antwortete: „I don’t care whom you’re screwing… as long as you’re screwing somebody.“ Musik, will er damit sagen, handelt nun mal vom Zwischenmenschlichen; sie ist nichts für Eremiten.

Die Zeit männlicher Dominanz im Jazz und in der Reflektion über Jazz ist noch nicht vorbei. Immer noch gibt es sehr viel mehr männliche als weibliche Booker bei Clubs oder Festivals, Professoren an Hochschulen, Jazzredakteure an den Öffentlich-Rechtlichen Sendern. Musiker/innen und wissenschaftliche Studien suggerieren, dass es auch im Spielen, beispielsweise in Jam Sessions, Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Musiker/innen gibt. Das biologische Geschlecht aber, erklärt Judith Butler, ist keine fixe Größe dessen, was man ist oder was man hat, sondern höchstens ein Teil des Prozesses, durch den Weiblichkeit oder Männlichkeit im augenblicklichen gesellschaftlichen Diskurs markiert wird.  Die Welt ändert sich, und mit ihr ändert sich auch die Wahrnehmung künstlerischer Rollenzuschreibungen. Der Blick zurück wird vielleicht noch lange die Verklärung von Männerbünden als zentrales Narrativ im Blick behalten – zu eingebrannt ist diese in die Erinnerung der Jazzgeschichte. Dieser männliche Blick auf die Historie lässt sich auch nicht einfach dadurch ändern, dass man den Fokus auf die Frauen im Jazz richtet. Vielmehr ist es wichtig, über Jazz aus der Perspektive von Musikerinnen nachzudenken. Vor allem aber, regte Sherrie Tucker beim Darmstädter Jazzforum über „Gender and Identity in Jazz“ im letzten Jahr an, gehe es beim Thema „Gender“ darum, vielleicht über das Thema „Frauen im Jazz“ zu sprechen, tatsächlich aber „Vielfalt im Jazz“ zu meinen. Einer solchen Haltung sind wir immerhin näher als je zuvor: Die Maskulinitätsästhetik des Jazz löst bereits in der Gegenwart höchstens noch Kopfschütteln aus; in der heutigen Generation von Jazzmusiker/innen geht es vor allem um … Musik.

Wolfram Knauer (September 2016)


Weiterführende Literatur:

Sherrie Tucker: A Feminist Perspective on New Orleans Jazzwomen, 2004. https://www.nps.gov/jazz/learn/historyculture/people.htm

Nichole T. Rustin & Sherrie Tucker: Big Ears. Listening for Gender in Jazz Studies, Durham/NC 2008 (Duke University Press)

Gender and Identity in Jazz, herausgegeben vom Jazzinstitut Darmstadt, Hofheim 2016 (Wolke Verlag: Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, Band 14)

Veröffentlicht unter Essays

Cecil Percival Taylor

I wrote this essay about Cecil Taylor as composer together with two other essays (on Jelly Roll Morton and John Lewis) for the two-volume International Dictionary of Black Composers, edited by Samuel A. Floyd Jr., published in 1999 by Fitzroy Dearborn Publishers, Chicago (p. 1093-1102)

1. Jazz Composition before Cecil Taylor

The term „composition“ in jazz relates to aesthetic ideals which are considerably different from those of „composition“ in European based art music. Jazz emphasizes improvisation, and thus the main task of the jazz composer was often limited to the creation of a framework setting the atmosphere for and structuring the performance. One does not necessarily need a composer or arranger for making a jazz performance more interesting harmonically, melodically or rhythmically. These elements can be just as well controlled by the interpreter, the improvising musician. After all, even the harmonic progression on which the chorus of a song is based, does mainly constitute the formal frame for the ensuing improvisations. The task of the composer, then, was to provide the larger formal structure and/or the melodic theme. Even composers of popular jazz standards often were by far not as well known as some of the musicians achieving a successful interpretation of their tunes. Hardly any jazz fan, for example, remembers Johnny Green, the composer of Body and Soul, but nearly everyone knows Coleman Hawkins‘ classic interpretation of the piece.

The main function of composition in jazz, thus, is to provide a structural frame. When the language of improvisation became more and more complex within the stylistic developments of the 1940s, some musicians were dissatisfied with the limitations of form in jazz — especially the prevalent chorus structures of repeated twelve or thirty two bar chord progressions. The Third Stream movement of the 1950s and early 1960s tried to alert musicians and composers to the fact that whereas improvisation in jazz had highly developed within the last twenty years, jazz composition had hardly kept up with it. Gunther Schuller and John Lewis envisioned musicians who were aware that within classical music there existed examples for compositional procedures which jazz musicians could learn from. Third Stream’s aim was a musician equally well versed in both traditions of African American and European musics and thus able to use whatever fitted his musical plans and ideas.

Jazz composers from Jelly Roll Morton to Duke Ellington, John Lewis, Thelonious Monk and Cecil Taylor usually followed two aims: They wanted to impress their own individual stamp, their stylistic identity as composers and at the same time give the musicians the freedom of contributing their own individuality as improvising soloists. One of their obstacles was to mediate between the worlds of composition and improvisation. Ellington wrote pieces fit for the individual style of his musicians and made this style part of his own sound. Monk wrote themes and provided accompaniments which always kept his personal stamp on the pieces. The same holds true for John Lewis who with sparse, blues-tinged accompanying phrases gave a counterpoint to Milt Jackson’s virtuoso elaborations and provided structural unity. Ellington and Lewis sometimes moved away from the usual twelve or thirty two bar chorus form. Cecil Taylor in his music proceeds even further changing the whole function of composition in jazz. His compositions no longer are mere formal outlines for ensuing improvisations but provide his musicians with a predetermined (which seems like a better term than the word „composed“) vocabulary of phrases, technical procedures, dynamic suggestions from which to choose, if not at random, at least in relative freedom.

2. Cecil Taylor as a Free Jazz Musician

The term „free jazz“ used for the music by many of the young musicians developing a new style in the early 1960s turned out rather to confuse than to define the understanding of jazz at that point. Free jazz was by far not as „free“ as the term seemed to imply. The music of Ornette Coleman, John Coltrane and Cecil Taylor had its roots in the history of African American music, in jazz. The aesthetic concept of many of the young musicians proved to be on a line with that of Duke Ellington, John Lewis, Charles Mingus or some of the Third Stream composers from the 1950s. By different means they tried to either bring together the most contemporary forms of improvisation and composition or to develop new forms and compositional procedures more suited to contemporary improvisation. Many of the avantgarde musicians of the early 1960s had been in close contact with some of the more important figures in the Third Stream. Ornette Coleman had studied with Gunther Schuller. Coleman and Eric Dolphy had participated in many projects by the Orchestra U.S.A., an ensemble founded to feature the new musical aesthetics of Third Stream. Cecil Taylor had studied the histories of jazz and contemporary European art music and was well versed in both traditions. In interviews he acknowledged influences from composers and musicians such as Duke Ellington, Lennie Tristano, Dave Brubeck, Arnold Schoenberg or Igor Stravinsky. He summarizes: „Everything I’ve lived, I am… I’m not afraid of European influences. The point is to use them — as Ellington did — as part of my life as an American Negro.“ [Taylor 1958]

Together with Coleman and John Coltrane, Cecil Taylor stands for the „classic“ period of American free jazz. In the late 1950s and early 1960s, Taylor developed a musical language of composition and improvisation which seemingly broke with many of the musical traditions of jazz — more so than in the cases of Coleman and Coltrane, it seemed at that time. Ornette Coleman in most of his music still retained a steady beat and often relied on an obvious „swing“ feeling. John Coltrane developed his style of playing gradually by extending the harmonic and formal language of jazz by means of modal improvisation. Cecil Taylor, though, in the early 1960s brought forth a new concept. In his music the forward motion usually achieved by „swing“ was substituted through an extreme rhythmic energy. Melody was mostly discarded in favor of short phrases or repetitions of phrase fragments. The harmonic basis consisted neither of changes as in traditional jazz nor of scales as in modal improvisation, but rather — if at all — of short tonal centers around which the improvisation developed. The formal outline of his pieces was neither a more or less notated structural frame nor complete structural freedom within stream-of-consciousness-like improvisations, but a distinct formal vocabulary working with short, predetermined structural units. Taylor explains: „This is not a question of ‚freedom‘ as opposed to ’nonfreedom,‘ but rather a question of recognizing different ideas and expressions of order.“ [Hentoff 1965]

More than with earlier jazz composers, though, with Taylor terms like „composition“, „improvisation“, „form“, „rhythmic energy“ have to be newly defined. Taylor’s music — in his solo as well as his group performances — is built upon a concept of structured free improvisation. His dynamic concept has been termed „energy play“ – a rhythmic-dynamic process which replaces the functions conventionally fulfilled in jazz by „swing“. Whereas traditionally jazz musicians refer to an underlying, though not always stated pulse, Taylor gives up this reference point. In his early recordings (up to 1960/61) he often played with musicians who insisted on the rhythmic basis, who did swing, while Taylor obviously followed a different ideal. Taylor himself calls the dynamic element in his music „energy“ and equals its effects with those of conventional swing, „swing meaning the traditional coloring of the energy that moves the music“ [Spellman 1966: 71]. He states that swing is „black energy brought to music… It has to do with how different people think about rhythm, about time, how they see themselves in space; what they think the body is.“ [Taylor 1979]. In his programmatic liner notes to the album Unit Structures from 1966, Taylor in his typical poetic language equals „Creative energy force = swing motor reaction exchange/fused pulse expands measured activity relating series of events. Explosive dynamics filter graduated tempi/a molecular condition of bearing/special levels qualitatively diverse and special/emerging event holds traditional recording men’s actions in heat life variable knit accord history a language in balance, direction.“ [Taylor 1966]. Energy play is not only a substitute for swing but a distinct formal ideal. Whereas swing represents mostly a continuous forward motion, the dynamically defined energy of Taylor’s music builds up to dynamic culmination points, is an active ingredient in his formal concept. Taylor himself defines the different musical ingredients — form, rhythm, musical communication — in their relation to each other: 

„The Ensemble Exists
 beginning microcosm
 germ expanding simultaneously
 in 3 areas: outer curve
             – intra section (density)
             rhythmic eclipse (time)
 Resulting weight produce organism thrust
      archetypical
      event  energy
             source
             swing“

[Taylor 1976]

Taylor’s concerts consist of long sets in which the players find together in passages of intense musical conversation. De facto, though, these sets are built upon carefully planned compositional ideas – compositions, though, very different from the composed „opus“ of European music, and different just as well from the theme composition or mere arrangement which one usually encounters in jazz. In recent years, Taylor has recorded some of his compositions in short versions which allow a more detailed analytic study of their concept. 

3. Composition with Cecil Taylor

Taylor’s recordings from the early 1960s onward show him experimenting with group sounds, trying to find a new way of playing together, to establish a dense musical texture not hitherto heard in jazz. His music contains clear structures – not in the sense that one finds in notated, analytical compositions or arrangements but in the sense of a structuring of musical time. Taylor does rarely use notated music. In numerous interviews he argues against notation: „The eyes are really not to be used to translate symbols that are at best an approximation of sounds. It’s a division of energy and another example of Western craziness. When you ask a man to read something, you ask him to take part of the energy of making music and put it somewhere else. Notation can be used as a point of reference, but the notation does not indicate music, it indicates its direction.“ [Spellman 1966: 281-282]. Or, more concisely: „Western notation blocks total absorption in the ‚action‘ playing. The eye looks, mind deciphers, hands attack, ear informs.“ [Taylor 1966]. Taylor’s way of „transmitting ideas“, as he calls it, is the oral concept. Saxophonist Jimmy Lyons reminisces: „Sometimes Cecil writes his charts out, sometimes not. I dig it more when he doesn’t. I don’t know how to say this, but we get like a singing thing going when he teaches us the tunes off the piano. It has to do with the way Cecil accompanies. He has scales, patterns, and tunes that he uses, and the soloist is supposed to use these things. But you can take it out. If you go into your own thing, Cecil will follow you there.“ [Spellman 1966: 44]. Here, Lyons explains more than just the oral „transmission“ of ideas as opposed to interpreting notated music. Taylor is more interested in the musical process, in the direction the music takes than in the actual nameable (repeatable) result. At one instance, he states, „Music is a head game, and the idea is that all things that prevent complete absorption of the sound should be cut away as much as possible. We’ve devised different ways of organising the music, to get to musicians very quickly so that they can absorb the ideas and get it playing around in their heads and operating“. [Wilmer 1977: 48]. Taylor’s musicians are not supposed to blindly follow a compositional plan but to absorb musical ideas and influence the musical process to an even larger degree than with standard procedures in jazz. One may find Taylor preparing a concert by playing a certain motivic cell, spread over the whole keyboard, over and over again for hours, absorbing its possibilities. This motivic cell may then function as the point of reference for the evening’s concert, although it is hardly ever stated during the live event. To interpret for him means to absorb the musical idea. In 1957 Taylor recorded Nona’s Blues at the Newport Jazz Festival. He relates this story about his view on musical notation: „I’ve had musicologists ask me for a score to see the pedal point in the beginning of that piece. They wanted to see it down on paper to figure out its structure, its whole, but at that point I had stopped writing my scores out. I had found that you get more from the musicians if you teach them the tunes by ear, if they have to listen for changes instead of reading them off the page, which again has something to do with the whole jazz tradition, with how the cats in New Orleans at the turn of the century made their tunes. That’s our thing, and not composition. There are periods when I go through that and periods when I don’t, depending on the score and the musicians. But ‚Nona’s Blues‘ I did not write out. And the musicologists found that hard to believe, since on that tune one section just flows light into the next. That gives the lie to the idea that the only structured music possible is that music which is written. Which is a denial of the whole of human expression.“ [Spellman 1966: 70-71]

4. The Unit – Band and Solo

The term „unit“ was used as a name to many of Taylor’s ensemble since 1966 as well as a description of some aspects of his musical aesthetics. As a band it was a unit of individuals relating to each other and to each other’s personal and musical history: „When I say the Unit, it is not piano virtuoso or drum virtuoso or alto soloist, but a community of men feeding each other, relating to each other, and speaking to each other in musical architectural sounds which have been passed on to them through reverence of Sidney Bechet, Charlie Parker and Sonny Rollins, with due respect for Ornette Coleman, Eric Dolphy, if you happen to be Jimmy Lyons… or through the love of Fats Waller, Jelly Roll Morton, Erroll Garner, Bud Powell, Thelonious Monk, Horace Silver, if you happen to be Cecil Taylor… I mean, that’s what improvisation is. It is the ability to communicate with the geniuses that have prededed us and to come with reverence to obtain some personal meaning from their universe and translate it for ourselves to give to those who follow.“ [Taylor 1979]

While this quote emphasizes the importance of historical awareness in Taylor’s music, in his liner notes to the album Air Above Mountains (1966), Taylor explains the moment of individuality and the very personal sides of improvisation in his own and his group’s music:

„Improvisation is a tool of refinement
 an attempt to capture ‚dark‘ instinct
 cultivation of the acculturated
 to learn one’s nature in response to
 group (society) first hearing ‚beat‘
 as it exists in each living organism.“

[Taylor 1976]

Taylor himself, without doubt, is a virtuoso pianist. He has total command of the keyboard but applies it according to his own stylistic concept. The percussive quality of Taylor’s piano playing has often be singled out as a special characteristic of his style. Taylor often uses a technique involving fast cluster movements covering the whole keyboard of his instrument. He holds his hands, finger pressed together, in a hammerlike position and moves them, one hand above the other, across the whole or part of the keyboard. Taylor uses clusters in several ways depending on their structural task: In improvisatory parts these clusters help producing highly energetic results. Another cluster type produces melodic or rhythmic motives, sets recognizable patterns and functions as a motivic unit and as such as an element of form in Taylor’s music. Such clusters are mostly used in the thematic parts which can be freely combined by the musicians. Taylor himself characterizes his piano playing analytically: „The piano as catalyst feeding material to soloists in all registers, character actor ‚assoluta‘. Attitude encompassing single noted line, diads, chord cluster, activated silence (motion in the dark light square) it is played percussively (stiff bodied fingers) …“ [Taylor 1966]. His ideal of piano solo playing is to sound like an orchestra — an ideal not too rare with jazz pianists. In his solo pieces the three structural categories which Taylor calls „anacrusis“, „plain“ and „area“ are clearly discernible by their different pianistic character (as discussed below for Air Above Mountains). Within the ensemble, the unit, Taylor usually worked together with musicians who were able to relate to his dynamic concept of improvisation. Some of the musicians stayed around Taylor for a considerable time, the saxophonist Jimmy Lyons for instance for more than twenty years.

5. Unit Structures – Cecil Taylor’s musical program

Taylor — and with him other exponents of the „new thing“ — did rarely play „standards“ with fixed harmonic progressions (i.e. with a preset formal outline). Taylor looked for new ways to structure improvisation in order to find an alternative to the conventional form (and structuring) in jazz. 

In Taylor’s music from the 1960’s into the 1990’s one often hears similar melodic and motivic elements. Listening to his recordings one soon discerns a distinct motivic vocabulary. There seem to be not too many „words“ in this vocabulary, as one encompasses similar formulas over and over again. There are motivic cells like a rhythmic octave pendulum motive; there are typical harmonic progressions like Taylor’s fondness for chromatic passages; there are formal conventions such as the static-energetic repetition of small motivic units. 

The single constituents of Taylor’s stylistic vocabulary are the structural units. Unit Structures — also the title of Taylor’s first album for the Blue Note label from 1966 — was a musical program based on more or less defined structural units. This unit concept becomes the most important feature of Taylor’s formal language throughout the years. Starting with Unit Structures and Conquistador (1966), Taylor developed the unit concept in his group as well as in his solo projects. A „unit“ in this concept is an isolated musical occurence, a time unit, a formal entity. Taylor exlains in his liner notes to Unit Structures: „Rhythm-sound energy found in the amplitude of each time unit. Time measurement as isolated matter abstracted from mind, transformed symbols thru conductor, agent speaking in angles…“ [Taylor 1966]

Taylor introduces terms for three formal elements central to his compositions: 

  • „anacrusis“: „Anacrusis“ is a thematic introduction which, as Ekkehard Jost explains, „defines above all the emotional level of the ‚collective compositions'“ [Jost 1981: 77]. Anacrusis, then, is not the thematic material for improvisation but rather an introduction setting the atmosphere for what follows.
  • „plain“: „Plain“ are short motivic cells which constitute the most recognizable part of Taylor’s music, the „vocabulary“: composed or predetermined parts which can be combined by choice. Taylor explains the „plain“: „architecture, particular in grain, the specifics question-layers are disposed-deposits arrangements, group activity establishing the ‚Plain‘.“ [Taylor 1966]. Typical „plain“ cells include simple octave pendulums, chromatic changing note passages, repeated chordal phrases, fast harmonic arpeggios often covering several piano registers. 
  • „area“: The „area“ is the field for improvisation, leading from the surrounding structures into an improvisatory exploration of given material — though the material itself does not necessarily have to be the basis for improvisation. Taylor explains: „… where intuition and given material mix group interaction. (…) The players advance to the area, an unknown totality, made whole thru self analysis (improvisation), the conscious manipulation of known material“ [Taylor 1966].  

A fourth element in Taylor’s universe of composition is called „strata“ and defines the personality of each musician, his musical approach and his individual sound. Taylor: „Each instrument has strata: timber, temperament“ [Taylor 1966].

The use of the three structural elements „anacrusis“, „plain“ and „area“ results in a recognizable overall structuring of Taylor’s music, which nevertheless allows for extreme personal freedom of the individual musicians. Taylor explains: „From Anacrusis to Plain patterns and possibility converge, mountain sides to dry rock beds, a fountain spread before prairie, Form is possibility; content, quality and change growth in addition to direction found.“ [Taylor 1966; emphasis is mine]. Or, in less metaphysical words: „My music is constructionistic, that is, it is based on the conscious working-out of a given material“ [quoted in: Jost 1981: 75].

6. Conquistador! 

Conquistador! is the second of two albums Cecil Taylor recorded for the Blue Note label in 1966. The Blue Note deal was Taylor’s first contract with an established company. All musicians of the date had played with Taylor before. Taylor had used the two bassists Alan Silva und Henry Grimes since 1964; Jimmy Lyons had worked with the pianist since 1961; drummer Andrew Cyrille, whose second album with Taylor this was, would stay with the pianist into the mid-1970s. The years before the recording had been relatively successful for Taylor, who, for instance, held an engagement at the prestigious Village Vanguard in New York for five consecutive weeks. The reviews of Taylor’s first Blue Note album (Unit Structures) had been mostly positive. The album Conquistador!, though, ended Taylor’s contract with Blue Note. Conquistador! contains two extended compositions: the title piece as well as With (Exit), both almost twenty minutes in length. 

–> Conquistador (YouTube link)

Conquistador begins with a short cascade-like piano introduction. This is followed by a repetitive unison theme stated by trumpet and saxophone (see ex. 1) and accompanied by vivid piano phrases. The piano takes over with another melodic figure repeated in chromatic downward sequences, soon to be accompanied by long notes from the horns. 

Jimmy Lyons takes his solo from here, beginning on top of the repeated rhythmic piano phrases. Whereas the unison theme in the beginning clearly states a gb (minor) modality, the alto solo stays in an eb (minor) surrounding. Lyons‘ solo itself works with repetitive structural elements, short phrases which are repeated, changed, interrupted by cascade-like runs, changed into new, related phrases which again are repeated. All this happens on top of a very active piano accompaniment, on top of irritating drum accents, on top of an ever-moving bass line — all of which veils the repetitive elements, giving the structure much more of a nervous appeal than it really holds. The repetitions of the saxophone and those of the piano do not necessarily coincide, Taylor‘ phrases often beginning at different time intervals from Lyons‘. Still, these repetitive elements constitute the structure of the long alto saxophone solo. The musicians refer to a common phrase vocabulary as may be noted when Lyons starts a sequence of intervallic triads (see ex. 2) similar to the intervallic structures often used by Taylor — and which the pianist actually plays not more than 30 seconds after the saxophone passage in question.

A change of atmosphere introduces a lyrical, nearly ballad-like trumpet solo in c minor, accompanied by sparse and much more harmony-oriented piano phrases, arco as well as pizzicato basses and single drum accents. Taylor’s accompaniment does not contain any of his typical cascade-like runs. 

The short interlude-like trumpet solo is followed by a piano „vamp till ready“ section in eb minor preparing for a 4/4 theme which is stated by trumpet and alto saxophone in unison. After the first two measures this theme breaks out of the 4/4 structure and holds its own clear melodic line (ex. 3) against repeated piano phrases. This second theme has a strong hardbop feel. A „bridge“ constantly repeats a simple two measure phrase (first in f minor, then in ab minor). 

From here Taylor starts his solo with sparse phrases on top of equally sparse drum accents and a dense bass carpet. Taylor repeats short phrases and single chords. His solo is structured harmonically in four parts: an a minor part; a second, more cascade-like part changing between G major chords and chords on its chromatic upper second (ab); a third part returning to the opening a minor; and a final part in g minor.

This leads back into a reprise of the second (hard bop) theme which after Taylor’s „vamp“ is shortly (just once) stated by the horns. 

The following section features the basses. Fore- and background seem to be changing constantly. The texture becomes dense, has the effect of a constant dialogue between the two basses, piano and drums. After a while saxophone and trumpet enter with held notes (still in an eb minor feel), followed by an unaccompanied bass duo which more and more calms down, until piano and alto enter quietly. 

The piece ends with a short motivic reminiscence of the opening theme. Ekkehard Jost’s conclusion of his analysis of Unit Structures holds true for Conquistador: „Beneath the emotional impact of his music, which is what the listener primarily responds to, is an intricate network of formal relationships. These inner formative aspects — created by composition and agreement, as well as by spontaneous interaction on the part of the players — are utterly independent of traditional schematic demarcations and thus have only a low degree of predictability for the listener.“ [Jost 1981: 83] In Conquistador, Taylor presents different thematic, atmospheric, improvisational approaches from which his musicians can choose. The larger formal outline is progressive rather than repetitive even though the second (hardbop) theme functions as a formal frame for part of the performance. The stylistic language of Taylor and his musicians in Conquistador comprises rhythmic and melodic repetition, pronounced tonal centers as well as a distinct negation of such tonal centers, solo passages and collective improvisation, aggressive accompaniment and lyrical melodies. Here as in other recordings by Taylor one meets phrases, melodic and rhythmic figures which form the basic vocabulary of Taylor’s music. In his solo recordings Taylor keeps mostly within such a vocabulary whereas in the group recordings his musicians have the freedom to contribute their own ideas within the given stylistic frame. 

7. Air Above Mountains (Buildings Within)

Air Above Mountains (Buildings Within) was recorded in August 1976 during a solo piano concert in Austria. It was released on the German Enja label in two  fragments, each of which covers about 26 minutes. 

In his essay accompanying the extensive CD documentation of Cecil Taylor’s one-month stay in Berlin in August 1988, Ekkehard Jost [Jost 1988: 93] analyses the development of Taylor’s solo piano language from his earliest solo album (Praxis) from 1968 to his recording of For Olim in 1986. Jost notices a development from a cluster-emphasized highly energetic playing in earlier years to a stronger emphasis on short tonal centers and chromaticism, a development aiming at structural diversity and timbral variety. One might add that with the years Taylor obviously made more conscious use of certain of his „vocabulatory“ phrases, a development resulting in the solo/trio miniatures of the album In Florescence from 1989. Also, in recent years Taylor’s solo as well as his group projects have made more and more use of his own poetry recited either before or in the middle of his pieces, sometimes even accompanied by his own percussion or piano playing (Double Holy House, 1990, FMP CD 55).

–> Air Above Mountains (YouTube link)

In Air Above Mountains, Taylor uses an alternation of „plain“ and „area“ passages involving the following structural ideas:

„plain“: 

  • octave pendulums, usually spread over up to four octaves but sometimes over the whole keyboard;
  • chromatic changing note passages, sometimes involving two, three or four neighboring notes, often played in forcefully attacked octave pendulums covering several octaves;
  • chordal phrases, usually hammered in frequent repetitions of single chords (sometimes spread over several octaves) or, as Ekkehard Jost describes them as „a motive consisting of two chords moving in parallel or in counter motion. When two hands are involved, each hand mirrors the other.“ (see ex. 4, taken from Jost 1988: 91);
  • fast arpeggios with a clear harmonic center, often played alternating with similar arpeggios a second above or below (chromatic shift). These arpeggios often only comprise a single octave, are repeated and then dissolved into an octave pendulum a second higher or lower as in ex. 5, taken from a phrase near the end of the second half of Air Above Mountains.

„area“:

  • cascade like improvised passages, played rapidly with both hands creating a seemingly single melodic occurence. These extremely fast passages often are hammered by Taylor in his unusual piano technique described above.

„Plain“ and „area“ sections as well as the single „plain“ units usually are easily identifiable. Single units are rarely longer than half a minute; passages of improvisational cascades lasting for more than two minutes as they occur in both halves of the recording stand out in the context of the performance. Sometimes the alternation of different techniques leads to frame-like structures. This is the case during the middle of the first part of Air Above Mountains, when Taylor plays a signalling passage reiterating „d“ (as a fifth in G major), then proceeding to a cascade-like improvisational passage which is followed by a clear reminiscence of the earlier frame. Only rarely do we encounter distinctly structured melodic lines or rhythmical phrases reminiscent of more conventional jazz playing. If any tonal identities are established, they don’t last long — usually not more than a couple of seconds before being discarded in favor of chromatic shifts or sudden change of technique. Structural changes are abrupt, there are no connecting interludes, no improvised transitions between the structural units. 

Taylor’s solo piano performances tend to be more coherent than his group recordings. Relying on just himself as improvising soloist, Taylor often cuts „area“ sections to a minimum giving himself more room to explore the „plain“, to develop dynamic tension out of the the unit vocabulary. In general, with Taylor composition is neither aim nor frame but point of departure. Improvisation can be achieved on different levels: in the more „conventional“ free improvisations of Taylor’s „area“ passages; but also in the individual use and interpretation of the different „plain“ units. 

It would be a mistake, though, to understand the limited motivic material in the „plain“ parts as musical center of Taylor’s compositional concept. The „plain“, the compositional reservoir he uses and let’s his musicians use is comparable to the vocabulary of a language, which in itself does not make sense but only in a semantic surrounding. Taylor’s motivic cells are tools to develop the energetic process of his pieces. Many performances use a similar vocabulary, and yet the results are extremely different, because the musical development as such is largely independent of the precomposed units. These have a function comparable to bricks in the building of architecture. One brick looks like the other, and yet one building will be a church and the other a hotel. (Taylor, by the way, is highly interested in architecture and dance. Both stand for ideals within his own musical thinking: architecture = structuralism; dance = rhythm, processual form.)

8. Ell Moving Track

In 1989 Cecil Taylor recorded the trio album entitled In Florescence containing fourteen pieces. Each composition is introduced by Taylor with short poetic lines. Many of these seem programmatic, for instance the lines preceding Charles and Thee: „How many ways can one note, its resonances physically impelled to produce a myriad of inflections, timeless in the glare of an absidian blade.“ All compositions on the album are miniatures compared to usual Taylor performances, lasting between 48 seconds and 11 minutes and averaging around 3 to 5 minutes. Many of the miniatures, though show a formal outline similar to the structural development of much longer concert performances. Thus, In Florescence kind of represents a dictionary of Taylors formal and compositional vocabulary. The short compositions show harmonically, melodically and rhythmically clearly structured forms. The skeleton transcription of Ell Moving Track in ex. 6 tries to direct the listener to the formal and structural development, notating only such elements (bass lines, chords etc.) which best identify single units. (Some of such units, it can be deduced from this skeleton transcription, center more on chordal playing, some on harmonic/chromatic figures, some stand out through clear melodic phrases, while others feature  a distinct rhythmic character.)

–> Ell Moving Track (YouTube link)

Taylor opens the short performance (Ell Moving Track lasts for only 5’15“) with a recitation of two poetic lines: „Instrument always less than the music, spirits engulf blood to make“. The piece itself can be analytically structured in five sections. It begins with homophonic lines, hardly rhythmically stressed, increasingly interrupted by breaks and played in opposite motion by both hands (blocks 1-8 in the transcription). A second section (blocks 9-13) consists of chains of broken chords in the right and a clear bass line in the left hand. Notice a split second — barely discernable — of a swinging rhythm within block 11. A third section (blocks 14-16, 17) has a clear formal task: a passage reminiscent of ragtime figures frames a chordal improvisational passage. The fourth section (blocks 18-28) features improvised cascades framed by motivic „ritornellos“; in between there are motivicly related improvisations with clear — and for Taylor rather rare — melodic and harmonic references to the blues. Also one hears a distinct harmonic basis: blocks 18-19 indicate E minor, blocks 23-28 Gb minor. The last section (blocks 29-44) again features broken chords over distinct bass lines and is clearly reminiscent of section 2. Again there are tonal relationships, again one finds repetitions of various melodic/thematic groups. 

The „composition“ of the whole piece results in a strong feeling of formal unity. The musical process can be deduced to relatively simple structural ideas which make up the single sections. Rhythmic intensity and with it a feeling of rhythmic development is not achieved by the jazz-traditional means of swing but by a more or less of musical energy. The high point doubtlessly are the improvised cascades in section 4. 

The main traces of stylistic traditions from jazz history are rhythmic and harmonic references towards blues, ragtime, a swinging rhythm. These, though, nearly vanish behind the strong personal style of the pianist. Still, they stress the importance of African American musical heritage for Cecil Taylor: „The determinant agent of this music has to do with ancestor worship, it has to do with a lot of areas in terms of a feeding process. It has nothing to do with energy except that one tries to keep one’s body in shape. It has to do with a language of sounds that are exchangeable depending upon one’s knowledge of the tradition.“ [Giddins 1981: 282-283]. The pianist acknowledges different influences, some of which can be heard in his music, some of which can only be experienced in his live performances: „The elements I draw from include the blues, the conservatory and even the Japanese Kabuki“ [Taylor 1979]. Taylor can often be seen in concerts of musicians from a broad stylistic variety of African American music. Tradition with him is an aesthetic as well as a technical prerequisite. 

„technique is weapon to do whatever
must be done/ is self-determined
reflective of conscious application
of ancient ritual within family“

[Taylor 1976]

From a traditional understanding of music it may seem odd that Taylor gives different titles to pieces which obviously make use of the same motivic/melodic elements. A title with Taylor is no longer the name for a single, identifiable piece, but the name for a unique improvised process. This becomes especially clear in the rare cases in which Taylor uses a title twice, such as on his solo album Silent Tongues. Live at Montreux ’74 (Arista Freedom Al 1005) in which the encores Jitney No. 2 and After All No. 2 mirror the original Jitney and After All from the same concert only in atmosphere — After All for example clearly identifiable as Taylor’s idea of a ballad. On the other side, it may be enlightening to compare the structural elements of a composition such as Ell Moving Track to recordings making use of similar material. In November 1989, for instance, Taylor recorded a solo album (Looking (Berlin Version) Solo, FMP CD 28) which features elements found in Ell Moving Track: In a short piece (just 1’22“) entitled Section 3 one finds a passage not unlike the one in blocks 9 to 11 from ex. 6: chromatic, chordal passages, a signaling motive and a short, slightly swinging rhythm. Section 4 from the same concert (length: 3’45“) might be compared to the fourth block from Ell Moving Track with the alternation of a ritornello frame and short, then increasingly longer cascade-like improvisations. In both Section 3 and Section 4 Taylor uses a glissando as another structural point de vue, this time one not heard in Ell Moving Track. 

The vocabulary used in Ell Moving Track, thus, has not been coined especially for this piece. Taylor has used it before and since. An earlier example can be hear in the second piece of Taylor’s Iwont£nwonsi. Live at Sweet Basil (Sound Hills SSCD-8065), recorded in 1986 (released in 1995). Many of the above mentioned structural units are easily identifiable — the first fifteen minutes of the piece which lasts for slightly more than 44 minutes seem mostly like an enlargement of elements found in Ell Moving Track –, even though the units are combined differently. „Each piece is choice“, says Taylor in 1966 [Taylor 1966]. With Taylor, the term „composition“ can be traced back to its literal origin „com-ponere“: to combine a specified musical vocabulary. In his compositional aesthetics, Taylor moreover combines musical traditions from the European as well as the African American heritage. As composer and performer Taylor succeeds in arriving at highly energetic performances which, inspite of the limited musical material used as basis, are largely unpredictable to the listener. Taylor’s music, without doubt is demanding to the listener. But for those who take up the challenge, his compositions never loose the highest risk of an improvised jazz performance and yet bear the individual mark of an original composer.

Wolfram Knauer (March 1996)


References:

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Coss, Bill. 1961. Cecil Taylor’s Struggle for Existence, in: Down Beat, 28/22 (26.Oct.1961), p. 19-21

Giddins, Gary. 1981. The Avant-Gardist Who Came In from the Cold, in: Gary Giddins: Riding On a Blue Note. Jazz & American Pop, New York: Oxford, p. 274-296

Goldberg, Joe. 1965. Jazz Masters of the 50s, New York: DaCapo; chapter „Cecil Taylor“, p. 213-227

Hentoff, Nat. 1965. The Persistent Challenge of Cecil Taylor, in: Down Beat, 32/5 (25.Feb.1965), p. 17-18, 40

Jost, Ekkehard. 1981. Free Jazz, New York 1981: Da Capo

Jost, Ekkehard. 1988. Instant Composing as Body Language. Towards an Understanding of Cecil Taylor’s Music of the Last Twenty Years, in: Cecil Taylor in Berlin ’88, Berlin 1989 [CD-booklet (FMP)], p. 85-102 

Litweiler, John. 1984. The Freedom Principle. Jazz After 1958, New York: William Morrow; chapter „Cecil Taylor“, p. 200-221

Lyons, Len. 1983. The Great Jazz Pianists, Speaking of Their Lives and Music, New York: Quill; chapter „Cecil Taylor“, p. 301-311

Macnie, Jim. 1989. Liner notes: Cecil Taylor – In Florescence, A&M 395286-2

Mie·gang, Thomas. 1991. Semantics. Neue Musik im GesprÑch, Hofheim: Wolke; chapter „Cecil Taylor“, p. 169-174

Rosenthal, Juergen Abi S. 1990. Auf der Suche nach Cecil Taylor, Hofheim: Wolke

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Spellman, A.B. 1966. Four Lives in the Bebop Business, New York: Pantheon, chapter „Cecil Taylor“, p. 3-76

Wilmer, Valerie. 1977. As Serious As Your Life. The Story of the New Jazz, London: Quartet; chapter „Cecil Taylor–Eighty-Eight Tuned Drums“, p. 45-59

Taylor, Cecil. 1958. Liner notes: Looking Ahead, Contemporary S 7562

Taylor, Cecil. 1966. Liner notes: Unit Structure, Blue Note Records BST 84237

Taylor, Cecil. 1976. Aqoueh R-Oyo. Liner notes: Air Above Mountains, Enja 3005

Taylor, Cecil. 1979. Liner notes: Live in the Black Forest, MPS 0068.220 

Wilmer, Valerie. 1977. As Serious As Your Life. The Story of the New Jazz, London: Quartet; chapter „Cecil Taylor — Eighty-Eight Tuned Drums“, p. 45-59

Wilmer, Valerie. 1977. Jazz People, London: Quartet; chapter „Cecil Taylor. Each Man His Own Academy“, p. 21-30 (F/I)

Veröffentlicht unter Essays

„On Patrol in No Man’s Land“

Eine Würdigung der Aufnahmen von James Reese Europe

Dieser Aufsatz erschien ursprünglich im Jazz Podium vom Mai 2019 (allerdings natürlich ohne die hier ergänzten YouTube-Audioclips).

Zwischen 1913 und 1919 machte James Reese Europe knapp 40 Aufnahmen, die die Jazzgeschichtsschreibung meist als „Vorformen“ des Jazz oder als „Proto-Jazz“ einstuft. Sie lohnen eingehenderes Hinhören, und zwar bewusst mit einem Verständnis dafür, dass das alles weder nach ODJB noch nach King Oliver oder anderen Aufnahmen klingt, die wir zumeist als Maßstab für den frühen Jazz benutzen. Zugleich aber kann man an ihnen bereits recht deutlich ablesen, welche Faszination die in ihnen spürbare afro-amerikanische Spielhaltung auf ihre Hörer gehabt haben mag.

James Reese Europe’s Society Orchestra: „Down Home Rag“ (Dezember 1913)

Vom Dezember 1913 etwa stammt der „Down Home Rag “ aus der Feder Wilbur Sweatmans. In beiden jeweils 48taktigen Themen des Titels hören wir vor allem den etwa sechsköpfigen Geigensatz, der die Melodie über dem stetigen Rhythmus von fünf Banjos und Mandolinen vorträgt. Hinter diesen klar komponierten, in unbändigem Tempo und deutlich zum Tanzen animierenden Melodien stechen vor allem die antreibenden Rufe heraus, die so etwas wie eine jazzmäßige Gegenbewegung zum Ragtime-typischen Hauptteil des Stücks darstellen.

James Reese Europe’s Society Orchestra: „Too Much Mustard“ (Dezember 1913)

In „Too Much Mustard“ von derselben Aufnahmesitzung muss man genau hinhören, um die Einsätze von Klarinetten und Kornett sowie die auch hier antreibenden Zwischenrufe wahrzunehmen.

James Reese Europe’s Society Orchestra: „Castle House Rag“ (Februar 1914)

Im „Castle House Rag“ vom Februar 1914 fehlt der Banjo/Mandolinensatz, dafür kommen Posaune und Flöte hinzu und scheinen Klavier und Schlagzeug klarer durch, wobei der Schlagzeuger auch gleich noch das Glockenspiel bedienen und zum Schluss der Aufnahme Solobreaks füllen darf.

James Reese Europe’s Society Orchestra: „Castle Walk“ (Februar 1914)

Im Arrangement über „Castle Walk“ von derselben Aufnahmesitzung stehen nicht allein die rhythmische Wirkung im Vordergrund, sondern daneben auch Harmonik, Form und Klangwechsel sowie einzelne kurze Solopartien. Und bei „You’re Here and I’m Here“, einer Broadway-Komposition von Jerome Kern, sollte man sich vor allem auf die verschiedenen Schlagzeugtechniken fokussieren, die das Ganze begleiten. 

Was bei all diesen frühen Aufnahmen Europe fehlt ist: Improvisation – zumindest eine, wie wir sie kennen. Es gibt einzelne Breakpartien und kurze, aber scheinbar vorgeplante, wenn nicht gar ausgeschriebene solistische Ideen, dagegen weder Soli noch Kollektivimprovisationen im Sinne des späteren Jazz. Nun sind diese frühen Tondokumente keine Liveperformances, sind an ein zeitliches Limit von zweieinhalb bis drei Minuten gebunden und erlauben damit all die Interpretationsmöglichkeiten nicht, die der Band – wie wir aus Berichten über ihre Konzerte wissen – bei Auftritten durchaus möglich war. 

Im Herbst 1916 wurde James Reese Europe damit beauftragt, für das 15te Infanterieregiment der US-Armee eine Kapelle aufzubauen. Es folgte ein landesweiter Aufruf, und als die 2.000 Soldaten des Regiments am Neujahrstag 1918 den Fuß auf französischen Boden setzten, waren unter ihnen auch die Musiksoldaten, die bereits am 12. Februar 1918, an Lincolns Geburtstag, in Nantes ein öffentliches Konzert gaben. Der Sänger Noble Sissle, der auch als Geiger und Tambourmajor mit dabei war, beschreibt für einen Artikel im St. Louis Post-Dispatch vom 10. Juni 1918, wie dieses Konzert das französische Publikum nicht nur mit ihrer Interpretation der „Marseillaise“ in den Bann zog. Der zweite Konzertteil, erinnert er sich, begann mit John Philip Sousas „Stars and Stripes Forever“, dann kam ein Arrangement mit „Plantagenmelodien“, schließlich der mitreißende „Memphis Blues“. Er beschreibt ganz konkret die improvisatorische Atmosphäre, in der die Musiker bald dem Vorbild ihres Dirigenten folgten, die militärische Haltung sein ließen, die Augen schlossen und spielten, was das Zeug hielt. „Cornet and clarinet players began to manipulate notes in that typical rhythm (that rhythm which no artist has ever been able to put down on paper), as the drummers struck their stride their shoulders began shaking in time to their syncopation. Then, it seemed, the whole audience began to sway, dignified French officers began to pat their feet, along with the American General, who, temporarily, had lost his style and grace. (…) The audience could stand it no more, the ‚jazz germ‘ hit them and it seemed to find the vital spot loosening all muscles and causing what is known in America as an ‚eagle rocking it‘. (…) All through France the same thing happened. Troop trains carrying allied soldiers from everywhere passed us en route, and every head came out of the window when we struck a good old Dixie tune. Even German prisoners forgot they were prisoners, dropped their work to listen and pat their feet to the stirring American tunes.“ (zit. nach Kimball/Bolcom 1973: 68)

Europes Musiker waren zusammen mit ihrem Bandleader auch im Kampfeinsatz. Im September nahm das 369ste Regiment (wie es jetzt hieß) an der Maas-Argonnen-Offensive teil, bei der mehr als 150 seiner Soldaten fielen. Im November gelangte Europes Band zusammen mit der 15ten Infanterie an den Rhein und spielte in den nächsten Monaten in ganz Frankreich, vor amerikanischen, britischen, französischen, belgischen oder italienischen Verwundeten genauso wie vor der französischen Bevölkerung auf Plätzen und in Parks. Die Begeisterung war ihnen überall gewiss. Mit ihnen war der Jazz als eine afro-amerikanische Spielhaltung in Europa angelangt, nicht auf Schallplatte, sondern so, wie er idealerweise gehört werden sollte: als Liveperformance, als eine geradezu körperliche Erfahrung, die sich dem Intellekt zu entziehen schien, der die westeuropäische Kultur damals prägte. 

Lieut. Jim Europe’s 369th U.S. Infantry Band (Hell Fighters). „On Patrol in No Man’s Land“ (März 1919)

Nach der Rückkehr nach New York ging Europe im März 1919 mit einer auf 20 Musiker reduzierten Besetzung seiner Hellfighters ins Studio. Diese Aufnahmen erlauben uns zumindest eine vage Vorstellung dessen, was in Frankreich so begeistert hatte. Da gibt es Stücke wie „On Patrol in No Man’s Land“, zu dem Europe, wie er erzählt, die Idee im Schützengraben gekommen sei und dessen von Noble Sissle gesungener Text den Kriegseinsatz beschreibt. Man hört aus dem Orchester heraus erzeugte Klänge, die an Sirenen, Bombenexplosionen, Handgranaten, Maschinengewehrfeuer, schreiende Männer erinnern, eine effektvolle Kriegsgeräuschkulisse, über die sich die Band in exaktem Zusammenspiel setzt und der Sissles Broadway-Tenor einen tröstend-versöhnlichen Klang entgegenhält.

Lieut. Jim Europe’s 369th U.S. Infantry Band (Hell Fighters). „All of No Man’s Land Is Ours“ (März 1919)

„All of No Man’s Land Is Ours“ handelt von der Rückkehr des Soldaten aus dem Krieg zu seiner Liebsten und ist ein weiteres Beispiel dafür, wie sehr die Band an einer afro-amerikanisch geprägten Version des Broadway-Schlagers beteiligt war. Es sind die Inflektionen, nicht nur in Sissles Gesang, sondern auch in den begleitenden Posaunen und Klarinetten, die klar machen, dass alle Musiker aus derselben Tradition stammen, aus der sich zur gleichen Zeit auch der Jazz speiste.

Lieut. Jim Europe’s 369th U.S. Infantry Band (Hell Fighters). „Memphis Blues“ (März 1919)

Noch stärker ist dies in den Nummern aus der Feder W.C. Handys zu spüren. „Memphis Blues“ ist dafür vielleicht das beste Beispiel. Auch hier gibt es zwar kaum Improvisation, dafür aber enorm effektvoll ineinandergreifende Satzpassagen von Posaunen, Klarinetten und Trompeten sowie kurze Breaks. 

Heute hört man solche Passagen kaum mehr als Solo, doch war das Solo in dieser Art von Musik bis in die Mitt-1920er Jahre hinein ja noch keinesfalls der Höhepunkt der Performance. Es ging im Jazz der Original Dixieland Jazz Band genauso wie anderer früher Ensembles um die Energie, die aus dem Zusammenspiel der verschiedenen Leadstimmen entstand, aus der Abwechslung von Kollektiv und kurzen Soli, aus der Wiederholung eingängiger Passagen, aus dem antreibenden und zum Tanzen animierenden Rhythmus, der dem Ganzen zugrunde lag. Wenn wir den „Memphis Blues“ und viele der anderen Aufnahmen von 1919 mit Europes Aufnahmen von 1913/14 vergleichen, so fällt auf, dass die Arrangements komplexer geworden sind, mit ineinandergreifenden Stimmen, die in der Faktur durchaus an das erinnern, was die Original Dixieland Jazz Band zur selben Zeit spielte, auch wenn es bei dieser, weil einfach besetzt, „improvisierter“ wirkt als hier. Es zahlte sich aus, dass es Europe gelungen war, für die einzelnen Instrumentalsätze der Kapelle professionelle Satzführer zu verdingen, die dafür sorgten, dass alle Stimmen präzise gespielt wurden, ohne dass dadurch die rhythmische Energie und das Gefühl von Spontaneität verloren gingen. 

Lieut. Jim Europe’s 369th U.S. Infantry Band (Hell Fighters). „Plantation Echoes“ (März 1919)

Im Repertoire finden sich fast schon programmatisch intendierte Stücke wie „Plantation Echoes“, das verschiedene Stimmungen des Landlebens im Süden musikalisch überhöht und in Stephen Fosters operettenhaft gesungenen „Swanee River“ sowie einem meisterlich genommen Arrangement von „I Wish I Were in Dixie“ gipfelt.

Lieut. Jim Europe’s 369th U.S. Infantry Band (Hell Fighters). „Jazz Baby“ (März 1919)

Für die Aufnahmesitzung vom 14. März hatte Eubie Blake einige Stücke beigesteuert, „Jazz Baby“ etwa, das sich textlich über die neue musikalische Mode auslässt, oder „Mirandy“, das den Erfolg vorausahnen lässt, den Sissle and Blakes Show  „Shuffle Along“ zwei Jahre später am Broadway haben würde.

Lieut. Jim Europe’s 369th U.S. Infantry Band (Hell Fighters). „Miranda“ (März 1919)
Lieut. Jim Europe’s 369th U.S. Infantry Band (Hell Fighters). „That Moaning Trombone“ (März 1919)

Und „That Moaning Trombone“ stellt die Posaunengruppe mit virtuosen Glissandobreaks heraus, eine insbesondere in afro-amerikanischen Blechkapellen des frühen 20sten Jahrhunderts beliebte Klangfarbe, die hier aber nicht etwa solistisch, sondern gleich im Chor des ganzen Posaunensatzes getätigt wird.

Lieut. Jim Europe’s 369th U.S. Infantry Band (Hell Fighters). „Broadway Hit Medley“ (März 1919)

Das „Broadway Hit Medley“ zeigt, welch unterschiedliches Repertoire zwischen Marsch, Walzer, Ballade und Blues die Band zu spielen hatte, und wie wichtig Europe typische Intonationsformen des frühen Jazz waren, etwa in den Growls der Blechbläser.

Lieut. Jim Europe’s 369th U.S. Infantry Band (Hell Fighters). „Ja-Da“ (März 1919)
Lieut. Jim Europe’s 369th U.S. Infantry Band (Hell Fighters). „The Darktown Strutters‘ Ball“ (März 1919)

Spätere Jazzstandards wie „Ja-Da“ oder „The Darktown Strutters‘ Ball“ belegen die musikalische Disziplin in der Band, geben aber auch eine Vorstellung davon, dass insbesondere in einer Musik, die von Wiederholung lebt, klangliche Kontraste wichtig sind, sowohl im Arrangement wie auch in der Spielweise. Und schließlich finden sich hier erste Passagen, die nun deutlich als Soli erkennbar sind. 

Lieut. Jim Europe’s 369th U.S. Infantry Band (Hell Fighters). „That’s Got ‚em“ (März 1919)

Noch zwei Tage vor Europes Tod ging die Band ins Studio, um einige ihrer aus heutiger Sicht vielleicht jazz-haltigsten Titel einzuspielen. In „That’s Got ‚em“ von Wilbur Sweatman hört man einerseits noch die Haltung der Militärkapelle durch, ahnt andererseits aber bereits, was jemand wie Fletcher Henderson wenig später aus solchem Material machen würde.

Lieut. Jim Europe’s 369th U.S. Infantry Band (Hell Fighters). „Clarinet Marmelade“ (Mai 1919)

Vor allem nimmt sich die Band mit Larry Shields und Henry Ragas‘ „Clarinet Marmelade“ eines Klassikers an, der einerseits den Vergleich mit der Original Dixieland Jazz Band aufdrängt, an deren Aufnahme sich Europes Ensemble deutlich abarbeitet, andererseits vorausahnen lässt, wie dieses Stück in den 1920er Jahren interpretiert werden würde. Insbesondere der Klarinettensatz lässt einen unweigerlich an Hendersons oder Don Redmans Klarinettentrios denken.

James Reese Europe war von dem Erfolg seiner Band in Europa selbst erstaunt und erkannte, dass es nicht so sehr das Repertoire war, von dem das Publikum begeistert war, als vielmehr jener grundlegende Unterschied zwischen einer europäischen und einer afro-amerikanischen Art musikalischer Artikulation. Die Phrasierung, die gebeugten Töne, der Umgang mit Harmonik, rhythmische Aspekte, Dynamik, das Einflechten von Breaks und das Zulassen von Improvisation – all das unterschied sich deutlich von der strengen Interpretation insbesondere europäischer Militärkapellen. Europe war stolz darauf, dass seine Band die Musik so spielte, wie sie geschrieben stand, aber er war nicht weniger stolz auf die neuen Klangnuancen, das Spiel mit Dämpfern etwa, auf den anderen Ansatz, auf eine musikalische Identität, von der er sagte: “ It is natural for us to do this; it is, indeed, a racial musical characteristic.“

Das Wort „Jazz“ war damals noch ganz neu und noch lange nicht einzig mit jener Musik verbunden, mit der wir es heute identifizieren. Bereits 1919 aber attestierte der Journalist Charles Welton der 369th Regiment Band, sie habe „Frankreich mit Jazz gefüllt“. James Reese Europes Auftritte jedenfalls waren wie eine Art Public Relations-Maßnahme für ein neues Genre: Ihr Erfolg machte afro-amerikanische Musik in Europa populär. Die Mitglieder seiner Band beeinflussten Musiker vielleicht nicht auf dieselbe Art und Weise wie die Schallplatten aus den frühen 1920er Jahren oder Tourneen afro-amerikanischer Künstler wie Sam Wooding und Arthur Briggs. Aber sie ebneten den Weg für die Popularität, die der Jazz in den 1920er Jahren erfahren sollte. James Reese Europes Erfolg brachte Schlagzeilen hervor wie jene in der New York Age vom 8. Februar 1919: „French Now Want Colored Musicians From the United States“, und war ein Grund dafür, dass einige seiner Bandmitgliederm unter ihnen eben jener Arthur Briggs (der wegen seines jungen Alters nicht mit nach Frankreich gekommen war), der Posaunist Herb Flemming oder der Schlagzeuger Buddy Gilmore in den 1920er Jahren nach Europa zurückkehrten. 

Die Begeisterung für die Hellfighters Band wurde in Frankreich immer mit der Befreiung des Landes assoziiert. Die Würde und die Ernsthaftigkeit, mit der James Reese Europe und seine Männer ihre Aufgabe der Truppenunterhaltung mit ihrer eigenen Art von Musik wahrnahmen, stellte daneben aber auch ein wichtiges Statement an die eigene Community dar. Die Musiker seiner Band machten ja nicht nur Eindruck auf die europäischen Zuhörer, sondern beeinflussten genauso das ästhetische Selbstbewusstsein Afro-Amerikas. Nach seiner Rückkehr jedenfalls fasste James Reese Europe dies geradezu programmatisch zusammen: „We won France by playing music which was not a pale imitation of others, and if we are to develop in America we must develop along our own lines…“

Wolfram Knauer (April 2019)


Wem biographische Details fehlen: Im Jazz Podium vom Mai 2019 wurde James Reese Europes Biographie von Gabriel Anion erzählt. Europes Musik wurde in den vergangenen Jahren insbesondere durch ein Projekt des Pianisten Jason Moran wiederentdeckt: „From the Dancehall to the Battlefield“.

Literatur:

Reid Badger: A Life in Ragtime. A Biography of James Reese Europe, New York 1995 (Oxford University Press)

Robert Kimball & William Bolcom: Reminiscing with Sissle and Blake, New York 1973 (The Viking Press)

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1968 – Bremen – Brötzmann

Eine Reflektion über das ungewollt Revolutionäre eines Jazzalbums

Dieser Vortrag entstand aus Anlass der Veranstaltungsreihe "50 Jahre Peter Brötzmann Machine Gun" im Mai 2018 in Bremen. Am Abend nach dem Vortrag spielte Brötzmann im Trio mit Alexander von Schlippenbach und Han Bennink in der Lila Eule. Eine Schriftfassung dieses Vortrags findet sich im Buch "Jazzforschung heute. Themen, Methoden, Perspektiven", herausgegeben von Martin Pfleiderer und Wolf-Georg Zaddach (2019), Download hier.

Der amerikanische Präsident Bill Clinton wurde während seiner Amtszeit vom Oxford American, einer renommierten amerikanischen Kulturzeitschrift, gefragt, welchen Musiker er schätzt, der die Leser des Interviews wohl überraschen würde. Seine Antwort war: „Peter Brötzmann“. Bill Clinton, muss man dazu wissen, war Hobbysaxophonist – sein Saxophon ist heute im American Jazz Museum in Kansas City zu sehen. Brötzmann dagegen ist ein deutscher Saxophonist, der seit den Mitt-1960er Jahren auf der Szene unterwegs ist und gern zu den kompromisslosesten Musikern des Jazz gezählt wird. Er ist einer der Protagonisten des Free Jazz, der ja für sich bereits vielfach auf Unverständnis stößt, weil er eine Auflösung der Strukturraster zu implizieren scheint, an denen sich auch Jazz-unvorbelastete Hörer orientieren können. Brötzmanns Art des Free Jazz scheint allerdings selbst all das, was die amerikanischen Musiker der 1960er Jahre vorgemacht hatten, ins Extrem zu treiben. Man spricht oft – insbesondere in Bezug auf ihn – von der Kapputtspielphase des deutschen Jazz. 

Im Mai 1968 nahm Brötzmann zusammen mit sieben Musikerkollegen in Bremen ein Album auf, das Musikgeschichte schrieb. Es trägt den Titel „Machine Gun“ und ist zu einem der einflussreichsten europäischen Jazzalben geworden. Diesem Album verdankt Brötzmann einen Teil seines Rufs als authentisch-kompromissloser Künstler, von dem er bis heute – und zwar völlig zu Recht – zehrt: Mit seiner sperrigen, scheinbar schwer-zugänglichen Musik ist Peter Brötzmann bis heute der international vielleicht bekannteste und erfolgreichste Jazzmusiker Deutschlands.

Vor einem Jahr jährte sich die Aufnahme dieses Albums zum 50sten Mal. Aus Anlass des Jubiläums organisierte der Veranstalter und Soziologe Thomas Hartmann ein Konzert in der Lila Eule in Bremen, bei dem Brötzmann und Han Bennink von der Originalbesetzung von „Machine Gun“ mit von der Partie waren, außerdem ein weiteres deutsches Free-Jazz-Urgestein, der Pianist Alexander von Schlippenbach. Ich war am Abend zuvor eingeladen, das epochale Album, das oft als Musterbeispiel „politischer Musik“ gewertet wird, ein wenig in die ästhetische und gesellschaftspolitische Diskussion der Zeit einzuordnen. Was ich Ihnen heute erzähle, basiert auf diesem Bremer Vortrag, ist außerdem ein etwas ausführlicher formulierter Ausschnitt aus meinem Buch „Play yourself, man! Die Geschichte des Jazz in Deutschland“, das im September beim Reclam-Verlag erscheinen wird.

In Bremen lautete die Einladung ursprünglich, ich möge doch das Album „Machine Gun“ einmal aus musikwissenschaftlicher Perspektive beleuchten. Das habe ich getan und werde dies auch hier in den nächsten 50 Minuten ein wenig versuchen einzulösen, hoffe, dass Ihnen das nicht zu trocken gerät, werde dabei über musikalisches Material berichten und darüber, wie die Herangehensweise der am Album beteiligten Musiker sich von konventionellen Spielweisen des Jazz unterscheidet – oder auch nicht. Dann frage ich danach, wieweit Jazz überhaupt politisch sein kann, in den USA im Kontext der Bürgerrechtsbewegung oder wie in Europa im Kontext von Vietnamkriegs-Protesten und Studentenrevolten. Und schließlich will ich am Rande auch der Frage nachgehen, inwieweit sich der europäische Free Jazz in diesen Jahren von den amerikanischen Vorbildern loslöste, wie er eigene Traditionen entwickelte, die bis in die Gegenwart hinein nachwirken – nicht zuletzt durch Musiker wie Brötzmann, Evan Parker und Han Bennink, die 1968 in der Lila Eule mit von der Partie waren.

v.l.n.r.:  Sven-Åke Johansson, Han Bennink, Buschi Niebergall, Fred Van Hove, Peter Brötzmann,   Willem Breuker, Peter Kowald, Evan Parker

MUSIK 01: „Machine Gun“ Thema (ca. 0:30)

Fangen wir also mit der Analyse an – und ich werde vor allem das Titelstück des Albums heranziehen, „Machine Gun“. Das ist in zwei Takes vorhanden, der eine knapp 15 Minuten, der zweite gut 17 Minuten lang. Die Wiederveröffentlichung des Albums, die beide Takes enthält, verrät, dass es sich dabei um die Takes 2 und 3 handelt. Ein erster Take scheint also auch aufgenommen worden zu sein, ist allerdings – auch in der 2007 bei Atavistic erschienenen Edition „The Complete Machine Gun“ – nie veröffentlicht worden. Dieses „Complete“-Album allerdings enthält eine frühere, ebenfalls im März 1968 aufgenommene Liveversion des Stücks vom Deutschen Jazz Festival in Frankfurt. Sie sehen, es gibt noch zwei weitere Versionen, über die ich später kurz berichten werde. Auch die Frankfurter Fassung jedenfalls dauert etwa 17 Minuten und unterscheidet sich rein strukturell von den Bremer Versionen zum einen durch die Anwesenheit eines vierten Holzbläsers – nämlich Gerd Dudek –, zum zweiten dadurch, dass Willem Breuker hier kein Bassklarinettensolo spielt, sondern stattdessen eine weitere Saxophonpartie zu hören ist, und zum dritten dadurch, dass der in Bremen ausgeprägte Klavier-Bass-Schlagzeug-Trialog hier durch ein weiteres Saxophonsolo über intensiver Grundierung ersetzt wird, dafür am Ende, vor dem Kontrabassduett, aber noch ein klares Klavier-Schlagzeug-Duett eingepasst wird.

So! Schön gesprochen – aber mit solcher Information können Sie eigentlich nur etwas anfangen, wenn Sie alle Versionen selbst gehört, vor allem aber immer noch im Kopf haben. Was ich Ihnen eigentlich sagen will mit solch halb-detaillierten Hinweisen ist, dass „Machine Gun“ eine ziemlich klare und nachvollziehbare Struktur besitzt, die die Musiker in allen drei Aufnahmen „abfeiern“, einen Rahmen mit beschreibbaren Haltepunkten, mit Freiflächen, mit Räumen für solistische Aktion genauso wie für Interaktion zweier, dreier oder gleich aller Instrumente auf der Bühne. 

Das werden wir uns gleich ein wenig näher betrachten, vorerst aber ein kurzer Einschub zur Zeit, in der dieses Album aufgenommen wurde.

1968 also. Am 3. Mai hatten Studierende der Sorbonne in Paris die Universität besetzt, um Verbesserungen der Studienbedingungen zu fordern. Es war eine Mischung aus politischen Gründen, die zu den Studentenrevolten führten: der globale Protest gegen den Vietnamkrieg einerseits, Diskussionen über sexuelle Revolution und Selbstverwirklichung andererseits, die sich dann beispielsweise in Forderungen nach Aufhebung der Geschlechtertrennung in Studentenheimen niederschlugen. In der Folge der Proteste kam es zu Straßenschlachten und Wasserwerfer-Einsätzen der Polizei, in der Folge solidarisierten sich Gewerkschaften, aber auch ein Großteil der Bevölkerung mit den Studenten. Mitte Mai gab es Solidaritätsstreiks in Betrieben der Metall- und Chemieindustrie, in denen die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem sozialen System in Frankreich deutlich wurde. 

In Prag hatte Alexander Dubcek im Februar 1968 die Pressezensur aufgehoben und den Prager Frühling eingeleitet, der im August durch den Einmarsch sowjetischer Panzer nach Prag gewaltsam beendet wurde. 

Und in Berlin hatte ebenfalls im Februar 1968 der Vietnamkongress vor mehreren tausend Studenten stattgefunden. Am 11. April wurde Rudi Dutschke auf der Straße niedergeschossen und überlebte nur knapp. Am 30. Mai erließ die Bundesregierung die Notstandsgesetze, durch die die Handlungsfähigkeit des Staates in Krisensituationen sichergestellt werden sollte, die aber insbesondere auch Einschränkungen von Grundrechten enthielten. Im Vorfeld der Proteste gegen diese Notstandsgesetze gab es am 11. Mai einen Sternmarsch auf Bonn, an dem sich zehntausende Demonstranten beteiligten. 

MUSIK 02: Maschinengewehrsalven [0:40]

Gleich vorneweg: Den sehr realen Eindruck eines Maschinengewehrs zu Beginn meines letzten Beispiels haben Sie meiner Manipulation zu verdanken. Ich habe einfach mal den Sound einer solchen Waffe vor den Ausschnitt aus den abschließenden Instrumentalsalven der Musiker geschnitten. Ich spiele mit dieser Manipulation auf die häufig gelesenen Verweise an, die rasanten Tonrepetitionen und perkussiv wirkenden Klangsalven, die „Machine Gun“ beginnen, beenden und auch mittendrin immer wieder bestimmen, seien als geräuschhafte Annäherungen an den Titel der Platte gedacht gewesen, seien also maschinengewehrhafte Salven, herausgetrötet von Brötzmann, Evan Parker und Willem Breuker, denen Fred van Hove am Klavier, die beiden Kontrabassisten Peter Kowald und Buschi Niebergall und die Schlagzeuger Sven-Åke Johansson und Han Bennink eine Art energetische Grundlage geben. Neben diesem Klischee zu „Machine Gun“ gibt es noch ein zweites, mit dem ich vielleicht zuerst aufräumen möchte. Es wird nämlich genauso gern darauf hingewiesen, dass diese Musik, diese kollektiven Energiekurven dem Augenblick entsprungen seien. Tatsächlich aber liegt dem Stück ein klarer Ablauf zugrunde, in allen drei Aufnahmen identisch, wenn auch die improvisatorische Ausführung unterschiedlich ist. 

Das ist eigentlich, legt man die Größe des Ensembles zugrunde – also acht, in der Ursprungsfassung sogar neun Musiker – gar nicht erstaunlich: Zu dritt – wie auf der 1967 eingespielten ersten LP Brötzmanns, „For Adolphe Sax“ – lässt sich aus der Improvisation heraus leichter eine Form finden als im großen Ensemble. Auch andere Ensembles des Free Jazz, die mehr als Small-Band-Größe hatten, bedienten sich ja Haltepunkten als Organisationsgerüsten der Musik, teils entweder in Noten oder graphisch notiert, teils durch Handgesten, quasi Dirigate getriggert, teils einfach vorher abgesprochen – und auch head arrangements sind ja Arrangements (vgl. Brötzmann in Jazz Podium, Nov.1984: 8).

Am besten sollte man das eigentlich in seiner Gesamtheit hören, aber das würde bei allen drei Aufnahmen mehr als 45 Minuten dauern, also zeige ich es Ihnen einfach mal. Sie sehen hier Spektogramme der drei Aufnahmen, und die Formteile habe ich Ihnen auch eingezeichnet. Die Originalaufnahme, aus der ich auch die Ausschnitte für heute Abend zusammengeschnitten habe, finden Sie in der Mitte.

Es beginnt (Buchstabe A) mit dem klangmalerischen Machine Gun-Thema, Tonrepetitionen, nein, Klangsalven der drei Bläser, die diese auch zum Schluss des Stücks wieder aufnehmen (Buchstabe H) und so fast schon eine klassische Rahmung schaffen. 

Den zweiten Teil (Buchstabe B) könnte man in klassischer und sehr europäisch geprägter Terminologie als Saxophonsolo mit Bläserritornellen beschreiben (Sie sehen diese Einwürfe insbesondere im 2. Take sehr deutlich). Die ausbrechende Improvisation Brötzmanns findet über einer wilden und kollektiv mit ihm kommunizierenden Bass- und Schlagzeuggrundierung statt. 

Hören Sie einfach mal selbst, drei dieser „Ritornelle“, herausgegriffen aus dem veröffentlichten Bremer Take 3:

MUSIK 03: „Machine Gun“, Ritornelle [01:00]

Diese Bläsereinschübe sind klangliche, ja sogar tonale Akzente, irgendwo angesiedelt zwischen As und B – und tatsächlich hört man in der Klanggestalt dieser Akzente durch die Bläser genügend andere Töne heraus, um sie sogar harmonisch deuten zu können, als einen F-Dur-Akkord ohne Grundton etwa oder als einen B-Dur-Akkord. Es wäre allerdings völlig falsch, solche Tonzentren harmonisch zu deuten, sie sind viel eher eine Sache der Klangfarbe. Es macht eben einen Unterschied, ob ein Klang clusterartig zusammengesetzt wird, ob sich ein Tonzentrum langsam herausschält oder ob ein klares vorhandenes Tonzentrum sich durch zusätzliche Stimmen entwickelt. Wir haben alle drei Varianten in diesen Aufnahmen, und Frankfurt spielt am stärksten mit der Unterschiedlichkeit der ritornellhaften Einwürfe. Und schließlich will ich noch betonen, dass das alles eher für die Hörerwartung des Rezipienten Sinn macht, nicht aber für die Funktion dieser Einwürfe im improvisatorischen Ablauf. Da nämlich fungieren sie vor allem als dramaturgische Strukturpunkte, als ein Gerüst, in dem sich das Solo entwickeln kann, oder besser, in dem Brötzmann im Zusammenspiel mit den anderen Musikern die dramatische Steigerung der musikalischen Energie entwickeln kann.

Lassen Sie mich einen zweiten Einschub machen, diesmal zur Vorgeschichte des Albums.

Am 24. März 1968 hatte Peter Brötzmann also auf dem von Horst Lippmann und Fritz Rau mit-veranstalteten Deutschen Jazz Festival in Frankfurt gespielt. Dort war der letzte Abend dem Free Jazz gewidmet, spielten neben Brötzmann Manfred Schoof und Gunter Hampel; und Wolfgang Dauner hatte einen legendären Auftritt, bei dem der Schlagzeuger Fred Braceful „nackt über die Bühne sprang und Dauner selbst eine Geige zertrümmerte“ (Schwab: Frankfurt Sound: 179). Jede Ausgabe des Jazz Podiums dieser Zeit hatte mindestens einen Beitrag, der sich ernsthaft mit der Situation und der Zukunft des Jazz auseinandersetzte. Und Joe Viera tat dies erklärend in seiner Serie „Zur Terminologie des Free Jazz“, die etwa im April unter der Überschrift stand „Was bedeutet in der Musik Form?“ 

Lippmann und Rau hatten also im Auftrag der Deutschen Jazz Föderation Radio Bremen kontaktiert und beim dortigen Redakteur Siegfried Schmidt-Joos angefragt, ob sein Sender nicht ein Konzert mit Blues und Soul beim Deutschen Jazz Festival präsentieren könnte, das damit quasi zwei Extreme des aktuellen Jazzdiskurses präsentieren wollte: die Auseinandersetzung mit der populären Seite der Musik auf der einen, die Avantgarde des Free Jazz auf der anderen Seite. 

Dieter Zimmerle, der fürs Jazz Podium über das Frankfurter Festival berichtete, zeigte sich am überzeugtesten vom Auftritt des Brötzmann-Nonetts und gipfelte in der Einschätzung: „Das Tenorsaxophon-Quartett Evan Parker, Wim Breuker, Gerd Dudek und Peter Brötzmann machte einen geschlossenen Eindruck, die Musiker konzentrierten sich deutlich aufeinander und man korrespondierte auch mit Klavier (…), den Bässen (…) und den Schlagzeugen (…). Das ‚Machine Gun‘ hatte keine Ladehemmung, was es verschoß, zeigte Wirkung – keine tödliche, sondern eine recht belebende.“ (Jazz Podium, Mai 1968: 155). 

Eine Woche später war „Machine Gun“ beim Jazz Ost-West in der Meistersingerhalle in Nürnberg zu hören;­ hier ersetzte Manfred School Gerd Dudek –, und der Rezensent (ein gewisser „N.W.“) streicht im Jazz Podium heraus, dass das Nürnberger Konzert zeitlich nicht so eingeschränkt gewesen sei und die Musiker sich daher „richtig austoben“ konnten, um dann zu ergänzen: „Aber es zeigte sich, daß seine Musik eben kein reines Austoben mehr ist, als das sie am Anfang gelegentlich wirken mochte. Ohne von ihrer platzenden Vitalität eingebüßt zu haben, hat sie an Farbe, Abwechslung und erkennbaren Motivgestalten gewonnen. Sie ist auch zum Teil satirisch geworden, und ob der vielzitierte Zorn noch so eine große Rolle spielt, ist sehr die Frage. Künstlerischer Spieltrieb ist in Brötzmanns Musik mindestens genauso wichtig geworden.“ (Jazz Podium, Mai 1968: 156) 

Sie sehen aus diesen Rezensionen – alle aus dem Liveerlebnis heraus geschrieben –, dass die Kritik vielleicht die Schwierigkeit im Zugang zu dieser Musik bemerkte, zugleich aber die Konsequenz, mit der die Musiker das alles auf die Bühne brachten, anerkannte und versuchte, die offenbar ganz anderen Kriterien, nach denen solche eine Musik zu beschreiben ist, zu ergründen. 

Am weitesten war da Manfred Miller gegangen, der bereits 1966, noch vor dem Erscheinen von „For Adolphe Sax“, Brötzmanns erstem großem Plattenwurf, gefordert habe, man müsse diese Musik nach ihrer „inneren Stimmigkeit“ beurteilen. Miller betonte, dass dieser neue Klang als die Suche nach einer neuen Sprache mit einer ganz eigenen Grammatik zu verstehen sei, und: „Material dieser neuen Sprache ist grundsätzlich jeder Klang, jede Klangverbindung – Klang in seinem weitesten Sinne als akustisches Phänomen verstanden.“ (Jazz Echo, Sep.1966: 40). Und er weist darauf hin, dass man sich als Hörer nicht so sehr an den konventionellen Haltemarken orientieren solle, Melodik, Harmonik, Rhythmik, swing, klare Form, sondern stattdessen genießen möge, wie bei Brötzmann die Form „erst im freien Zusammenspiel als die Geschichte der Materialverarbeitung“ entstünde (Jazz Echo, Sep.1966: 41). Und er nimmt die Frage auf, die seinerzeit – und übrigens bis heute immer wieder – gestellt wurde, ob das alles denn noch Jazz sei. Seine Antwort: „Doch bleibt hier erhalten, was zum Besten im Jazz gehört: die gewaltige rhythmische Spannung; die unbedingte Emotionalität, das Blueserbe des Jazz; und die Improvisation, die hier erst in den ganzen Bereich ihrer Möglichkeiten eintritt.“ (Jazz Echo, Sep.1966: 42)

Der dritte Teil von „Machine Gun“ (Buchstabe C) ist eine Art Klavier-Bass-Schlagzeug-Impro mit späteren Bläserakzenten, kurzen, nach oben gerichteten melodischen Bögen, die dann vom Klavier aufgenommen und in die Improvisation eingebaut werden. In Frankfurt kommt hier übrigens noch Gerd Dudeks Saxophon hinzu, dafür gibt es anschließend eine Art Klaviersolo mit Schlagzeugakzenten. 

Es folgt als vierter Teil (Buchstabe D) ein Duett der beiden, mit dem Bogen gespielten, Kontrabässe, im längeren Bremer dritten Take deutlich klarer strukturiert, klarer aufeinander bezogen, deutlich mehr als Kommunikation denn nur als Kollektivimprovisation gedacht – und dieser Take nimmt dabei Momente auf, die auch in Frankfurt zu hören gewesen waren. Sie sehen selbst im Spektogramm, dass die Intensität der beiden Abschnitte dieses Teils sich deutlich unterscheidet, im ersten Teil eher Steigerung, im zweiten Teil gleichbleibende – kommunizierende – Energie.

MUSIK 04: Bassduett (ca. 1:00)

Zwei fest gebuchte Festivalauftritte also sowie ein für den 28. März angekündigtes Konzert in der Lila Eule, und danach, „in der Nacht“ die Aufnahme des Albums. Die beiden Festivals hatten die Finanzen gesichert, die es brauchte, um dieses Projekt auf Platte aufzunehmen. 

Seine erste Platte hatte Brötzmann ja im Juni 1967 zusammen mit Peter Kowald und Sven-Åke Johansson noch selbst produziert. Das Trio war mehrmals in der Lila Eule aufgetreten, einem Club, der aktuelle Musik genauso zur Diskussion stellte wir aktuelle Politik. Rudi Dutschke hatte im November 1967 hier gesprochen, und die Bremer CDU-Fraktion wertete den Spielort als linken Versammlungsort, der „die Jugend für die Revolution sensibilisiert“ (Der Spiegel, 23.Sep.1968: 195; zit. nach Kisiedu: 69). Anders als oft angenommen war die Aufnahme allerdings kein Livemitschnitt eines Konzerts, sondern das Ergebnis einer Studiositzung, für die Brötzmann den Club benutzte, und dazu einen Toningenieur von Radio Bremen engagierte, um die Band unter schwierigen akustischen Bedingungen aufzunehmen. 

Manfred Miller, der damals die Jazzredaktion bei Radio Bremen leitete und mit technischem Beistand bei der Produktion half – wie er später schrieb „ein wenig  außerhalb der von seinen Arbeitgebern vorgesehenen Modalitäten“ –, Manfred Miller also beschreibt im Sounds vom September 1968 die Aufnahmesituation. Ich will Ihnen seine launige Beschreibung der Aufnahme nicht vorenthalten: „Die erste Nacht wurde ein Desaster. Doch das betraf nicht die Musik: Morgens gegen fünf war nichts gewonnen als die Erkenntnis, daß eine einzige Whiskyflasche acht Musikern, einem Techniker und ein paar Freunden nicht standzuhalten vermag, und daß es zwischen den hallenden Betonwänden des Kellers fast aussichtslos war, einen auch nur halbwegs klaren Klang auf ein semiprofessionales Stereo-Tonband zu bannen. Selbst zwei Polizisten, die mit einer fröhlichen Einlage und der Bemerkung, hier sei die hanseatische Polizeistunde gesetzwidrig überschritten worden, ihr Bestes gaben, konnten die Stimmung nicht wesentlich bessern. Trotzdem wurde es an nächsten Abend noch einmal versucht, wurden Tische und Bänke zu reichlich labilen Trennwänden aufeinandergetürmt, wurden aus zwei großen Bodentüchern des Bremer Theaters Verschläge für die beiden Schlagzeuger gebastelt.“ (Sounds, Sep.1968: 16)

Aber, ergänzt Miller hier genauso wie in seiner nicht-gezeichneten Rezension im Jazz-Echo einen Monat später, aber „vielleicht ist es gut, daß diese Musik nicht vom trockenen, sterilen Studio-Klang ermordet wurde, daß der fantastische Sound des Saxophone-Ensembles (das klingt wie ein avantgardistischer Super-Roland-Kirk) nicht säuberlich von den Mikrofonen seziert wird: So bleibt auch auf der Platte jene intensive Spontaneität erhalten, die zum Besten gehört, das der Free Jazz zu bieten hat; so wird auch auf der Platte akustisch die Spannung jener Momente deutlich, in denen eine Stimme sich aus dem Ensemble löst, die anderen zum Schweigen zwingend.“ (Jazz Echo, Oct.1968: 35)

MUSIK 5: Bassklarinettensolo (ca. 0:35)

Teil 5 (also Buchstabe E) ist eine Art Bassklarinettensolo Willem Breukers, zum Teil unbegleitet, zum Teil über einer Art „Maschinengewehr“-Salven der Perkussionisten, eine Passage, die dann in eine klare, wiederholte Rifffigur der Bläser mündet (Buchstabe F) und gleich darauf in ein Armageddon aller Beteiligten übergeht, eine kollektive Phase des Brüllens und des Schreiens. In Frankfurt war dieser Teil übrigens ein klares Saxophonsolo, das sich insbesondere über dem Schlagzeug entwickelte.

Hören Sie diese Rifffigur, die übrigens in allen Aufnahmen genauso vorhanden ist, und wir werden gleich noch ein zweites ungewöhnliches Zitat hören, das genauso in allen Fassungen vorkommt:

MUSIK 6: Riffigur 

Wenn uns solche Rifffiguren an etwas erinnern, dann an die Rhythm ’n‘ and Blues-Saxophonisten, die mit ihrem archaischen Ansatz in den USA Musiker der 1960er Jahre beeinflussten, die ganz besonders die Blackness ihres Sounds herausstreichen wollten: Coltranes Saxophonpredigten genauso wie die von New-Orleans-Märschen und Blues-Shouts durchzogenen Gottesdienste eines Albert Ayler. Und an letzteren erinnert noch mehr der jetzt folgende Teil 6 (also Buchstabe G), bei dem sich aus der Wucht der röhrenden Saxophone eine Art swingendes Rhythm ’n‘ Blues-Thema herausschält, das immer intensiver wird, bis es in kollektiver Improvisation endet, aus der heraus schließlich die Tonrepetitionen des Machine-Gun-Themas ertönen (Buchstabe H), die die Aufnahme beenden.

MUSIK 7: RnB-Thema bis Schluss [02:10]

Ich finde, dass diese beiden Teile – die Rifffigur also und das Rhythm ’n‘ Blues-Thema – sehr viel über die Musik aussagen, aber auch über Brötzmanns – und ich nehme seine Mitmusiker dabei nicht aus – … Selbstverständnis dessen, was sie da machen. Ja, dies ist eine unbedingt andere Art freier Improvisation als das, was in den USA zur selben Zeit stattfindet. Aber: Die immer wieder behauptete totale Emanzipation vom amerikanischen Jazz ist es eben nicht, sondern zugleich eine Entwicklung aus der Sprache tiefster afro-amerikanischer Emotionalität heraus, ein bewusster Bezug auf die Wurzeln dieser Musik, auf den Blues, auf Call and Response, auf Intensität, auf eine fast spirituell erlebbare Feier der Community. Diese Momente stehen dem scheinbar Destruktiven im Klangeindruck der restlichen Aufnahme fast schon konträr gegenüber, tatsächlich aber erklären sie zugleich die Haltung des ganzen Stücks: Die Betonung von Individualität, das Aufbrechen konventioneller Formmodelle, das Beharren auf neuen ästhetischen Auffassungen, bei denen etwa Intensität und emotionaler Ausdruck Vorrang vor vordergründiger „Schönheit“ haben… das alles ist zugleich Zeichen einer gemeinsam erlebten, nein, gemeinsam geschaffenen Solidarität, die erstens nur in der Gruppe möglich ist, und die zweitens mit der Tradition nicht bricht, sondern diese im Gegenteil beim Worte nimmt. 

Womit wir jetzt endgültig bei der Deutung der Aufnahme wären, mit der Brötzmann seit 1968 immer wieder konfrontiert wurde. Ein Weg zur Deutung der Aufnahmen hat mit der Musik herzlich wenig zu tun und ist vor allem ikonographisch:

Das Maschinengewehr, das auch auf Brötzmanns Cover zu sehen ist, war in der damaligen Zeit bereits zu einem Symbol mit sehr unterschiedlichen inhaltlichen Verweisen geworden. In den 1960er Jahren ließ sich beispielsweise Fidel Castro gern mit Maschinengewehr abbilden. 1968 wurde Monk’s „Underground“-Album veröffentlicht, dessen Cover einerseits mit dem Verweis auf die Resistance während des II. Weltkriegs spielt, andererseits mit der tagesaktuellen Forderung der Black Panthers nach dem Recht auf Bewaffnung auch für schwarze Amerikaner.

Von 1968 dann stammt Brötzmanns Cover für „Machine Gun“, das einen amerikanischen GI mit Maschinengewehr zeigt. Es ist ein Bild, wie es zu der Zeit aus etlichen Illustriertenabbildungen zum Vietnamkrieg bekannt ist.

1971 schließlich entwarf ein Bekannter von Ulrike Meinhoff das RAF-Logo mit einer Maschinenpistole (eigentlich wollte er eine Kalaschnikoff zeichnen) über einem fünfzackigen roten Stern, und gab damit der Waffe, die hierzulande ja eher als Verweis auf Geschehnisse anderswo wahrgenommen wurde, einen sehr präsenten, plötzlich die Alltagswirklichkeit Westdeutschlands betreffenden Bezug. 

In all diesen Bildern – und ich hätte noch Hunderte weitere finden können – werden der Waffe also Konnotationen beigeordnet. Mal ahnt man Heldenhaftigkeit, mal die Verteidigung der westlichen Welt, mal die Wehr gegen Unrecht und Kapitalismus, mal Terror und Gewalt. Mal aber auch die Abkehr von allen inhaltlichen Verweisen, wenn etwa 2011 Brötzmanns Albumcover von einem italienischen Fan als bedrucktes T-Shirt angeboten wurde. 

Vom Albumcover ganz abgesehen wurde das Album jedenfalls, sicher vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussionen sofort als politisches Statement wahrgenommen. Es gab auch andere Stimmen, die der Musik im Nachhinein diesen Status etwa mit dem Hinweis darauf wieder absprachen, dass der Albumtitel ja keineswegs als Verweis auf Krieg und Rebellion gedacht war, sondern schlicht und einfach der Spitzname war, den Don Cherry dem Saxophonisten wegen seines energetischen, Stakkato-geladenen Spiels verpasst hatte: „Hey, Machine Gun!“. 

In den Deutungsgeschichten von „Machine Gun“ gibt es diese beiden Extreme: die eine Interpretation des Albums als eines hochpolitischen Statements und die andere als einer rein ästhetisch-künstlerischen Aussage. Die Wahrheit liegt wahrscheinlich, wie so oft, in der Mitte. Brötzmann selbst hatte im Mai 1967 an einer Fernsehsendung teilgenommen, bei der Musiker und Experten über die beiden scheinbar gegensätzlichen Pole der aktuellen Jazzentwicklung diskutierten, den Pop-Jazz Klaus Doldingers auf der einen und den Free Jazz Peter Brötzmanns auf der anderen Seite. 

Hören Sie einen längeren Interviewausschnitt mit Brötzmann, der sich den Fragen von Schmidt-Joos, Werner Burkhardt, Uli Olshausen und Felix Schmidt stellt.

MUSIK 08: Broetzmann-Interview (03:00)

Schmidt-Joos: Kritische Einwände, wer möchte sich hier zu Wort melden? Herr Schmidt…

Felix Schmidt: Ja, ich möchte gern einmal wissen: Haben Sie irgendetwas wie ein System, das Sie Ihrer Musik zugrunde legen?

Peter Brötzmann: Das System, das der Musik zugrunde liegt, das bin ich. Sonst gibt es nichts. 

Schmidt: Sie notieren die Musik auch nicht? Es gibt keine graphische Partitur?

Brötzmann: Das ist überhaupt nicht mehr möglich. Man kann natürlich graphische Partituren machen, das haben wir auch zum Teil gemacht, aber wenn man sich lange genug kennt, und das ist das Wichtigste bei der Musik, fallen diese Dinge fort, sind einfach nicht notwendig. 

Schmidt-Joos: Nun ist der Einwand ja oft erhoben worden, dass Musiker des Free Jazz, die eine solche wilde Klangorgie, wie Sie sie produzieren beim Spielen, hervorbringen, nicht in der Lage seien, auch normal ihr Instrument in Jazzvariationen über, sagen wir, „Summertime“ oder „St. Louis Blues“ zum Sprechen zu bringen. 

Brötzmann: Wenn ich wollte, könnte ich Ihnen was vorspielen. Ich tue es nicht, weil’s einfach nicht meine Sache ist. Diese Frage kommt immer zurück auf die Technik, und dann werden immer die Stimmen laut: Ja, der Mann, der kann nicht spielen, der hat keine Technik, der hat überhaupt nichts. Das sind dann die Leute, die nur von sich selbst oder von irgendeinem alten Klischee ausgehen, die sich nicht mal die Mühe machen, einfach sich hinzusetzen einen Abend lang und mal zuzuhören und alles andere, was vorher und hinterher und daneben ist, abzuschalten, einfach mal dasitzen und hören. Das ist das Wichtigste, vorerst.

Werner Burkhardt: Herr Brötzmann, ich bin gern bereit mir die Mühe zu machen. Ich habe eben diese Drei-Minuten-Stücke etwa mit viel größerem Vergnügen, auch ästhetischem Genuss gehört als gelegentlich Dinge, die ich von Ihnen in der gelösteren Atmosphäre des Kellers gehört habe, denn da habe ich oft das Gefühl, dass Sie dann, wenn Sie über 20, 25 oder gar 30 Minuten improvisierend musizieren, auch gelegentlich in jene Dinge verfallen, die Sie anders und traditioneller gebundenen Formen des Jazz als Klischee vorwerfen. 

Brötzmann: Natürlich. Die Gefahr besteht bei jedem. Da schließe ich mich absolut nicht aus, natürlich. 

Siegfried Loch: Sind Sie der Meinung, dass Sie mit den normalen Möglichkeiten, die Ihnen der Jazz bietet als Musiker, nicht auskommen und deswegen ausgebrochen sind in den Free Jazz?

Brötzmann: Das ist tatsächlich zwischen Doldinger und mir doch eine Generationsfrage; die paar Jahre dazwischen spielen keine Rolle. Aber die Leute sind groß geworden mit irgendwelchen Vorbildern und sind sich nie der Aufgabe bewusst geworden, die man hat, sich selbst und der Gesellschaft gegenüber. Und da ist überhaupt der grundlegende Unterschied des Free Jazz zum herkömmlichen Jazz. Und das ist der hauptsächliche Punkt an dem ganzen Wechsel und an der ganzen Umformung. 

Ulrich Olshausen: Herr Brötzmann, die modernen Musiker, die so ähnlich spielen wie Sie, sind im Allgemeinen sehr stolz darauf, dass Sie einen sehr intensiven Dialog pflegen in ihrer Musik. Worin besteht Ihrer Ansicht nach in Ihrer Musik das Gemeinsame, das Verbindende zwischen Ihnen und den anderen Musikern, die mit Ihnen spielen?

Brötzmann: Das Feeling. Immer noch dasselbe Feeling, das man hat zusammen.

Olshausen: Ein thematisches Miteinander gibt es nicht mehr?

Brötzmann: Nee, Nee.

Ich habe Ihnen diesen Ausschnitt zusammenhängend vorgespielt, auch, weil eine Aussage, die Brötzmann machte, von den Mit-Diskutanten nicht aufgenommen, vielleicht nicht einmal wahrgenommen wurde. Lassen Sie mich diese Aussage noch einmal vorspielen: 

MUSIK 09: Brötzmann-Interview (0:40)

Gesellschaftliche Verantwortung der Künstler also. Ein Thema, das 1968 in der Luft lag, aber sicher nicht erst 1968. Brötzmann hatte 1963 für die Ausstellung „Exposition of Music – Electronic Television“ in der Wuppertaler Galerie Parnass ja eng mit Nam June Paik zusammengearbeitet, dessen Kunst ein „permanentes Experiment“ war, „das gesellschaftliche, politische, technologische und ökonomische Prozesse hinterfragte“ (http://www.hatjecantz.de/nam-june-paik-2561-0.html). Siegfried Schmidt-Joos, der die eben gehörte Sendung moderierte, führte für das Aprilheft des Jazz Podiums ein Gespräch mit Brötzmann, während dessen er ihn auch nach dem Schock befragt, den seine Musik bei Zuhörern auslösen möge. Brötzmanns Antwort: „[D]ie Musik kommt aus uns selbst wie sie ist, und wir beabsichtigen in keiner Weise irgendwen zu schockieren. Daß sie natürlich bei gewissen Leuten einen Schock hervorruft, ist klar. Andererseits muß man wissen, in welcher Zeit man lebt, man muß wissen, daß viele Dinge geändert werden müssen. Und aus diesem Grunde spielt man natürlich nicht so vor sich hin, man überlegt viele Dinge und man muß sicher sein, mit dem, was man machen will.“ (Jazz Podium, April 1968: 129)

Zurück zu „Machine Gun“: Sie haben also eine klare Ablaufstruktur: Thema, fünf bis sechs Teile und eine Reprise. Es gibt Absprachen darüber, wer solistisch im Vordergrund steht und wann, wo, und wie eine Zunahme der Intensität stattfinden soll. Es gibt klare thematische Vorgaben, sowohl für das Anfangsthema wie auch für die Einwürfe oder die beiden Riffs. Es gibt Absprachen über das Kontrabassduo – und da dies ein Part ist, der sich in den beiden Bremer Takes am meisten unterscheidet, mag man darüber spekulieren, ob Kowald und Niebergall zwischen den Takes kurz darüber gesprochen haben, sich gegenseitig mehr Luft zu lassen, vielleicht so wie in Frankfurt, stärker dialoghaft statt übereinander zu agieren. Es gibt eine klare Vorstellung von der Intensitätssteigerung des Gesamtablaufes. Ansonsten ist alles Improvisation, „emotionale Hitze“, „geradezu atemberaubende Energie“, wie Ekkehard Jost das gemeinsame Powerplay des Oktetts beschreibt (Europas Jazz: 118). Brötzmanns eigene, bereits in den Jahren zuvor ausgebildete Spieltechniken, seine „hochlagigen Klangflächen“ und „Bewegungscluster“, wie Jost diese in Bezug auf „For Adolphe Sax“ identifiziert (Jost: Europas Jazz: 92), werden hier quasi auf den ganzen Saxophonsatz übertragen. Hinzu kommen klarere solistische Partien einzelner Bläser, die auch die Unterschiedlichkeit des musikalischen Ansatzes deutlich machen (am extremsten vielleicht in der Frankfurter Aufnahme, in der mit Gerd Dudek ein Vertreter einer früheren Generation mit von der Partie ist). Das Anfangssolo ist im zweiten Take ein wenig „eingänglicher“,  formuliert quasi „geatmete“ Satzphrasen, im veröffentlichten dritten Take dann konzentriert es sich stärker auf die Phrasengestalt, die es als solche – also als Gestalt, nicht als motivisches Element – wiederholt oder fortführt. Die Übergänge gelingen im dritten, also dem letztlich veröffentlichten Take aus dem Spiel heraus, während die Anschlüsse im zweiten Take manchmal abrupter passieren. Dieser dritte Take wirkt also, alles in allem, organischer. Alle Phasen des improvisatorischen Ablaufs entwickeln sich fast schon stringent auseinander heraus. 

Aber eigentlich will ich es bei diesen wenigen analytischen Anmerkungen belassen. Sie sollen einzig ein Schlaglicht darauf werfen, dass auch frei improvisierte Musik Strukturen hat, einige, denen wir beim Entstehen zuhören können, andere, die offenbar abgesprochen sind, dabei aber immer wieder Veränderungen zulassen. Und sie zeigen, dass auch in frei improvisierter Musik das nähere Kennenlernen des musikalischen Materials – und auch lose Absprachen über den Improvisationsverlauf gehören zum musikalischen Material – Einfluss haben auf das klangliche Ergebnis. So stark und heftig insbesondere das spontane und energiegeladene Moment in „Machine Gun“ wirkt, so basiert es auf den improvisatorischen Erfahrungen aller daran beteiligten Musiker, auf dem Sich-Verlassen-Können auf die Reaktionen der jeweils anderen, auf der gemeinsamen Vorstellung davon, wie sich Energie, oder sagen wir lieber Intensität, erzielen lässt, nicht zuletzt aber eben auch auf der kurzfristigen Erfahrung, den abgesprochenen Ablauf nämlich schon einmal durchgespielt zu haben. Hier unterscheidet sich „Machine Gun“ dann in nichts von den genauso improvisierten Aufnahmen Charlie Parkers etwa über „Parker’s Mood“.  


Zu Recht stellt sich also die Frage, inwieweit das Politische in die Musik hineininterpretiert wurde, inwieweit Musikmachen (gerade zu jener Zeit, aber eigentlich immer) wie selbstverständlich Stellung bezieht in aktuellen politischen Diskursen, oder inwieweit die Musik denn irgendwie auch politisch „gemeint“ ist. Der britische Kritiker Barry Miles beschreibt in seiner Rezension des Albums den Unterschied zur Musik etwa eines Albert Ayler: „Die Musik basiert auf musikalischen Wurzeln, die tief in uralten Felsen Europas verankert sind. Machine-gun handelt von Maschinengewehren, die Amerika noch nicht einmal kennt. Europa mit seinen Bombentrichtern, mit den Konzentrationslager-Museen, mit kriegsvernarbten Menschen und Gebäuden, mit seiner Berliner Mauer und dem besetzten Prag.“ (Barry Miles, in: International Times, 6.-19.Sep.1968: 8; zit. nach Kisiedu: 71) [Diese Rezension stammt vom September, also nach der Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Sowjets.)

Wie war das denn mit den politisch-musikalischen Vorbildern in den USA? Dort hatte die Bürgerrechtsbewegung ja bereits seit Mitte der 1950er Jahre auch auf die Kultur übergeschwappt. Musiker wie Charles Mingus, Sonny Rollins oder Max Roach sahen ihre Kunst als einen auch politischen Ausdruck und machten das in Interviews wie auch auf der Bühne deutlich. Diejenigen allerdings, die ab 1960 als Revolutionäre des Jazz bezeichnet wurden, die Vertreter des frühen amerikanischen Free Jazz, Ornette Coleman, Cecil Taylor und John Coltrane, blieben allen politischen Interpretationen ihrer Musik gegenüber eher skeptisch. In einem legendären Interview mit dem Kritiker Frank Kofsky antwortet Coltrane beispielsweise auf die Frage nach dem politischen Gehalt bzw. Input seiner Musik wiederholt, Musik spiegele für ihn vor allem die reale Umwelt wider und damit natürlich auch politische Strömungen, er sähe darüber hinaus allerdings keinen konkreten Einfluss von Politik auf seine Musik.

Brötzmann klingt ganz ähnlich, als Bert Noglik ihn 1981 auf die politische Bedeutung seiner Musik 1968 anspricht: „Gegen die Konstruktion eines direkten Zusammenhanges würde ich mich wehren. Daß aber die politischen Bewegungen und Stimmungen dieser Jahre auch unsere musikalische Entwicklung in gewisser Weise beeinflußt haben, kann man schwerlich bestreiten.“ 2012 ergänzt er im Gespräch mit Christoph Bauer, „Free Jazz“ sei ja vor allem eine amerikanische Errungenschaft, die immer im Zusammenhang mit den verschiedenen Ausprägungen der Bürgerrechtsbewegung gesehen werden müsse (Bauer: Brötzmann Gespräche, 2012: 47). Provozierend, insistiert er gleichzeitig, sei seine Musik gar nicht gemeint gewesen: „Das war nicht so geplant – dass es natürlich Provokation war, das ist klar … aber für uns war das ganz ernst gemeinte, ehrliche Arbeit.“ (Bauer 2012: 64) 

Daneben aber weiß auch Brötzmann, dass Musik, und insbesondere seine Musik, immer auch politisch ist. 1987 etwa weist er im Gespräch mit dem amerikanischen Journalisten Bill Shoemaker auf die spezielle Situation in Westdeutschland in den 1960er Jahren hin, „eine politische und gesellschaftliche Situation, die mich mehr ins radikale Denken drängte“ (Down Beat, Jan.1987: 25). Natürlich also habe seine Musik gesellschaftliche Bezüge, und die seien  ganz persönlich bedingt. Ohne ein Bewusstsein für Politik sei das alles für sie doch undenkbar gewesen, insbesondere in den 1960er Jahren, sagt er im Gespräch mit Gérard Rouy (Rouy: Conversations: 60). Klar hätten sie mit der Musik auch die Gesellschaft verändern wollen, die Menschen, die Art des Zusammenlebens. 

In Frankfurt habe ihn Daniel Cohn-Bendit Ende 1968 davon abhalten wollen, einen Gig mit großem Ensemble an der Goethe-Uni zu spielen, weil sie dort doch fürs Establishment auftreten würden. Er habe Cohn-Bendit dann überzeugt, indem er ihm gesagt habe, hört Euch doch erst mal an, was wir spielen, dann reden wir nach dem Konzert. Aber nach dem Konzert sei von denen keiner mehr da gewesen. 

An der FU Berlin gab es Diskussionen darüber, ob das denn überhaupt Musik fürs Volk sei, das sei doch zu sehr Avantgarde, zu elitär, keiner würde das verstehen. „Wir prügelten uns fast, das waren alles politische Avantgardisten, sehr links, aber sie mochten Joan Baez, diese ganze amerikanische Scheiße, softe Gitarrenmusik.“ (Rouy: Conversations: 60-61) Politik und Politik sind also zwei verschiedene Paar Schuhe. Und natürlich war Brötzmanns Mitwirkung an der Gründung des FMP-Labels oder an der Etablierung des Total Music Meetings als Alternativfestival zu den Berliner Jazztagen, ebenfalls 1968, eine deutliche politische Aktion. 

Es gibt da also – übrigens hüben wie drüben – einen Unterschied zwischen Intention und Rezeption. Und das ist dann ein Thema, das ich zum Schluss noch kurz ausführen und ein paar Fragen für die Gegenwart anschließen möchte. 

Die Intention mag also gar nicht zuvorderst politisch gewesen sein, nicht bei Coltrane, nicht bei Brötzmann. Aber das Ergebnis, die Art und Weise, wie ihre Musik in jenen Jahren auf- und wahrgenommen wurde, war politisch, weil Musik nun mal nicht im leeren Raum erklingt, weil Musik immer eine Perspektive auf die Gegenwart bietet. Es gibt sie ja nicht in der Alltagswirklichkeit, die absolute Musik, die nur sich selbst genug ist, in der alles benutzte Material nur auf sich selbst verweist und auch nur so rezipiert werden sollte. Unser aller Konzerterlebnis ist immer eine Reflexion darüber, was die erlebte Musik uns in dem Augenblick, in der Situation, in der wir uns gerade befinden, als Individuen, als Gruppe, als Gesellschaft, sagt. Im simpelsten Fall bietet uns Musik einen Rückzugsort der unbewussten Reflexion; im besten Fall die Chance der Perspektivverschiebung. 

Hat Musik, oder fragen wir konkreter: Hat Jazz also eine Botschaft? Durchaus: Gerade der Jazz als eine improvisierte Musik entsteht schließlich als Reaktion auf kulturelle, ästhetische und politische Diskurse, die uns alle umtreiben. Musik nimmt Stellung, sie bezieht Position, allerdings sollten wir nicht erwarten, dass diese Positionsbestimmung sich in politische Parolen übersetzen ließe. Sie nimmt Stellung, indem sie uns dazu bringt, unsere emotionale Haltung zu aktuellen Fragen zu reflektieren, und uns damit im Ringen um eine eigene Position bestärkt. 

Nur weil wir die Wirkung von Musik also schwer in Worte fassen, zumindest nicht eins zu eins übersetzen können, heißt das noch lange nicht, dass Musik unpolitisch sei oder dass Musik höchstens als Soundtrack des „realen Lebens“ fungiere. Ich höre immer wieder, meist von älteren Jazzfans, die Musik sei heute ja nicht mehr politisch wie damals, als sie noch für etwas stand, als sie noch gesellschaftliche Relevanz besessen hätte. Nun, auch wenn man oft denkt, Geschichte wiederhole sich immer: Nein, wir sollten nicht erwarten, dass unsere Sicht auf Musik, unsere Vorstellung, was an ihr gut oder schlecht sei, unsere Erwartung an ihre gesellschaftliche Einbindung, das Maß der Dinge seien. 

Nicht die Musik war politisch 1968, sondern die Menschen waren politisch, und wenn wir die Musik damals oder heute als politischen Kommentar hören, so tun wir das im Wissen um die realen Ereignisse jener Zeit. Und heute ist die Musik weder politischer noch unpolitischer. Wir leben ja insgesamt nicht gerade in revolutionären Zeiten. Jazz, Musik, Kunst im allgemeinen ist heute wie damals ein Spiegel der aktuellen Situation. Wenn in den USA auch die Musiker protestieren, und zwar nicht nur privat, sondern auch auf ihren Alben oder bei Bühnenauftritten, so spiegelt das die Realität von #BlackLivesMatter oder #MeToo oder #BoycottNRA in den USA wider, Protestformen, die weiter reichen als das, was wir hierzulande auf die Straße bringen. Wer also die mangelnde politische Haltung von Musikern beklagt, sollte auf die Art des Diskurses blicken, den wir zurzeit hierzulande führen, und der bei allen extremen Entwicklungen, die wir ja auch sehen, eher auf Ausgleich ausgerichtet ist als auf Krawall.

PS: Machine Gun wurde im Sommer des Jahres 1968 noch ein paar Mal gespielt, am 11. Mai 1968 etwa im Concertgebouw in Amsterdam, wo ebenfalls Manfred Schoof zum Oktett stieß oder im September des Jahres bei den Internationalen Essener Songtagen (WAZ 24.1.2018). In Diskographien ist immer wieder der Mai 1968 als Aufnahmedatum zu lesen, aber Thomas Hartmann hat bei seinen Recherchen zum Album Hinweise auf das frühere Datum gefunden.

Wenn Sie also morgen Abend in der Lila Eule Peter Brötzmann, Han Bennink und Alexander von Schlippenbach hören, wird die Musik wieder ihre ganz eigene Energie entfalten. Was Sie dann hören, was die Musik in Ihnen auslöst, für wie politisch oder auch für wie aktuell Sie das alles empfinden werden, ist Ihrer eigenen Hörbiographie geschuldet. Im Idealfall erleben Sie, was viele Hörer auch mit „Machine Gun“ erlebt haben: ein Ohren öffnendes Manifest musikalischer Energie, verankert in den Traditionen Afro-Amerikas, und gespielt mit der Haltung erfahrener europäischer Musiker, die über Jahrzehnte ihre eigene Stimme immer weiter entwickelt haben. Es ist die Kraft des Jazz, die genau das möglich macht, und dass es uns nach wie vor berührt, ist politisch genug!

Vielen Dank!


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Transformations and Further Passages

The Clarinet Trio

liner notes für das Album "Transformations and Further Passages" von The Clarinet Trio mit Gebhard Ullmann, Michael Thiele, Jürgen Kupke (2021; Bandcamp-Seite des Albums hier). Plattentext auf dem Album in englischer Sprache.

Was, wenn man ein deutsches Real Book zusammenstellen würde? Welche Stücke würden wohl darin landen? Gebhard Ullmann, Michael Thieke und Jürgen Kupke haben genau dies getan, sich nämlich aus dem großen Repertoire des deutschen Nachkriegsjazz (1950er, 1960er Jahre) Titel herausgesucht und sie sich anverwandelt. Das tun Jazzer ja immer, sich die Musik anverwandeln, ob es nun amerikanische Standards sind oder Kompositionen von Kollegen. Im Fall des Clarinet Trio aber kommt die ungewöhnliche Besetzung hinzu: Kein Schlagzeug, kein Kontrabass, kein Klavier, keine weitere Bläserstimme. Drei Klarinetten höchstens unterschiedlicher Bauart von der B-Klarinette (Kupke) über die Altklarinette (Thieke) bis zur Bassklarinette (Ullmann); dazu individuelle stilistische Klangfarben, bei Jürgen Kupke etwa das häufige Anschleifen von Tönen, wie es auch typisch für Klezmer oder balkanische Spielweisen ist, bei Thieke experimentelle Ausflüge, bei Ullmann mal der Blues, mal die Vierteltönigkeit. Wobei schon diese Zuschreibungen in die Irre führen: Alle drei haben ihre Wurzeln im Jazz, alle drei experimentieren im Bereich zwischen Jazz und klassischer Musik, alle drei brechen die Genres auf, alle drei können swingen und frei improvisieren, alle drei sind sich der verschiedenen Klangmöglichkeiten ihres Instruments bewusst und wissen diese gezielt einzusetzen.

Die Idee zum Album sei ihnen bei der Rückfahrt von einem Gig gekommen, erzählt Thieke. Auf den fünf vorhergegangenen Platten des Clarinet Trio seien vor allem Eigenkompositionen zu hören gewesen sowie vereinzelte Rückgriffe auf Standards und Stücke von Kollegen wie Ornette Coleman und Hermann Keller. Und so diskutierten sie für das neue Album, ob es vielleicht Sinn machen würde, einen Gast hinzuzuladen oder eine Live-CD einzuspielen. Und dann kam ihnen die Idee, sich mit der deutschen Nachkriegs-Jazzgeschichte auseinanderzusetzen, mit Musiker:innen der 1950er und 1960er Jahre. Sie begannen zu recherchieren, nicht systematisch, sondern eher zufällig, schickten sich gegenseitig Stücke zu, machten erste Notizen über mögliche Arrangements, darüber, wie die Themen in der Spielhaltung des Clarinet Trio funktionieren könnten. Die Themen mussten so stark sein, dass sie auch in der Bearbeitung noch wiedererkennbar blieben. Es sollte mehr sein als „nur der Blues“, sagt Ullmann, es sollten Stücke sein, die einerseits eine klare Spielhaltung widerspiegelten, andererseits ohne Rhythmusgruppe funktionieren würden. Jeder brachte Vorschläge ein, mit dem einen oder anderen älteren Kollegen nahmen sie direkt Kontakt auf, hörten jeder für sich oder gemeinsam die diversen Aufnahmen und erhielten in Einzelfällen (Karl Berger und Manfred Schoof) sogar Originalnoten der Stücke.

Dann fingen sie einfach an Dinge auszuprobieren. Sie schauten, was die Themen hergaben, ob es beispielsweise motivische Ideen gab, mit denen sich arbeiten ließ, wie man eine formale Gestalt schaffen konnte, die keine Aneinanderreihung von Soli darstellte. Nun kann das Clarinet Trio auf eine bald 20jährige Erfahrung zurückblicken. Die drei Musiker sind zu einer Art Team zusammengewachsen, bei dem jeder die musikalischen Eigenheiten des anderen kennt. Und so haben sie zusammen eine Klangästhetik entwickelt, die mit den Möglichkeiten der Instrumente spielt – mit der gemeinsamen Klanggestalt also, aber eben auch mit den sehr unterschiedlichen Herangehensweisen der drei Klarinettisten an Technik, Sound und Melodieerfindung. Insofern sind die Unterschiede zu früheren CDs nur graduell, meint Ullmann: ästhetisch sei das gar nicht so verschieden, von den Kompositionen her allerdings schon. 

Jürgen Kupke erinnert sich an die Aufnahme im Kleinen Sendesaal des RBB in der Masurenallee, einem Saal mit einer legendären Akustik. Wer das Clarinet Trio je live erlebt hat, weiß, wie schnell die drei die Raumakustik als vierten Mitspieler in die Band aufnehmen, wie sie sich auf die unterschiedlichen Bedingungen einstellen, mit dem Hall des Raums arbeiten, sich einander zu- oder voneinander abwenden, um die Schallwellen ihrer Klarinetten in unterschiedliche Richtungen zu schicken. Es ist ein Raumerlebnis, das das Publikum genauso erlebt wie die Musiker selbst. 

Ein solches Ausloten des Klangs hört man gleich im ersten Track des Albums, „Collective“, einer freien Improvisation, die auch bei der Aufnahmesitzung am Anfang stand. Sie wirkt wie eine Positionsbestimmung der drei Klarinettisten: Einklänge, Dreiklänge, Vielklänge, Stimmen, die für sich stehen, die ineinander fließen oder auseinander hervorgehen, Töne, die perfekt und rein klingen und solche, in denen mit Flatterzunge, Atemvibrato und anderen Mitteln verfremdende Obertöne hinzukommen. Es ist eine passende Einleitung, die in knapp zweieinhalb Minuten quasi die Klangmöglichkeiten des Instruments vorstellt. 

Nomen est Omen: Jutta Hipp war Mitte der 1950er Jahre nun wirklich eine der hippsten Musiker:innen des deutschen Jazz. Gebürtig in Leipzig prägte sie die westdeutsche Jazzszene der frühen 1950er Jahre, bevor sie sich ab 1955 in New York einen Namen machte. Mit ihrer eigenen Combo spielte sie eine Musik, die sich am Vorbild des amerikanischen Cool Jazz um Lennie Tristano und Lee Konitz orientierte: „lines“, also Einzelstimmen, in den Themen und Improvisationen polyphon übereinandergesetzt, schnell, virtuos, in einem unterkühlt wirkenden Klangideal, das auf die im Jazz sonst oft so gern benutzten wärmenden Effekte des Vibrato weitgehend verzichtete. „Cleopatra“ ist ein gutes Beispiel: In dem 1954 von Hipps Quintett aufgenommenen Stück geht das melodische Thema unvermittelt in Improvisation über. Die wiederum spielt mit Motiven aus dem Thema, zum Beispiel einer Dreierfigur, die in der Wiederholung den Viervierteltakt so lange aufbricht, bis sie wieder in den Takt passt. Beim Clarinet Trio ist der Cool-Jazz-Ursprung des Titels deutlich zu hören, dann überschlagen sich die Stimmen regelrecht in der scheinbar endlosen Schleife des schon im Originalarrangement von Joki Freund so geschickt gesetzten Dreiermotivs. Alles löst sich auf in Klang, der durch die Überlagerungen der Stimmen bald zu wabern beginnt, Tiefe erahnen lässt, bevor ein fast schon klassischer Satz der drei Instrumente zum letztmaligen Thema führt. Man mache sich den Spaß, die beiden Titel übereinander zu blenden (was tempotechnisch durchaus machbar ist), und irgendwie wirkt der Klarinettenloop wie eine kongeniale Begleitung der Cool-Jazz-Solisten. Michael Thieke, der für das Klarinettenarrangement verantwortlich ist, erkannte das Potential der Motivik in diesem Stück, wollte die Cool-Jazz-Atmosphäre mit abstrakter Improvisation einfangen und dabei doch organisch weiterbewegen. Jürgen Kupke urteilt: Es klingt wie eine kleine Bigband, und am Ende klingt’s wie heute!

1958 reiste Albert Mangelsdorff mit dem Newport Youth Orchestra in die USA, hing während der Probenphase in New York jeden Abend in den Clubs der Stadt ab und hörte seine Heroen live. Er kehrte mit der Erkenntnis zurück, dass es überhaupt nichts brächte, so zu spielen wie die afro-amerikanischen Musiker in New York oder Chicago, dass man sich von den Vorbildern lösen müsse. Er begriff, dass der Jazz mehr war als Genre oder Stil, dass er eine Haltung besaß, eine musikalische Praxis anbot, die sich auf jedwedes Material anwenden ließ. Das Album „Tension“ von 1963 war das erste Beispiel des eigenen Wegs, den Albert Mangelsdorff ab dann nahm, oder wie er selbst sich damals ausdrückte: „Für mich war es der Beginn dessen, von dem ich sagen kann: ab hier gilt’s.“ Michael Thieke war von „Tension“ so fasziniert, dass er anfangs aus der ganzen Platte eine Suite machen wollte. Dann befand er, dass zwei der Stücke – das thematisch vielschichtige „Varié“ und das fast schon boppige Titelstück – reichhaltig genug seien. Schon die flirrende Eröffnungslinie des Themas, das sich beim Clarinet Trio anhört, als sei es aus der Improvisation heraus geboren, stellt das Spielerische des Stücks heraus, mündet dann in ein Themenarrangement, das gleich wieder in fleißiges Geschnatter zerfällt. Wo Albert ein kontemplatives Solo beisteuerte, versuchen die drei Klarinetten eine Art bewegten Klang zu erzeugen, in dem immer wieder kleine thematische Versatzstücke durchscheinen. Es folgt das chorische Thema zu „Varié“ einschließlich der so einprägsamen Basslinie des Originals, die jetzt von Ullmanns Bassklarinette übernommen und zur Begleitung für Jürgen Kupkes Solo wird. 

Joachim Kühn hatte bereits Mitte der 1960er Jahre einen pianistisch völlig eigenständigen Personalstil entwickelt. Von „Golem“ gibt es zwei bemerkenswerte Einspielungen, eine Ende 1965 im Trio live in Dresden aufgenommen, die andere zwei Monate später in Ost-Berlin mit einem Quartett, dem auch sein Bruder, der Klarinettist Rolf Kühn angehörte. Gebhard Ullmann lässt die Basslinie des Klaviers gegen Ende seines Arrangements in eine Art Choral/Kanon einfließen. Wenn kurz danach alles auseinanderzufransen scheint, fühlt man sich an Joachim Kühns Klanggirlanden erinnert, flirrend-schnelle Figuren auf dem Klavier, die sich einerseits zu Klangflächen verdichten, während in ihnen andererseits jeder einzelne Ton durchzuhören bleibt. Ullmanns Arrangement lebt vom spielerischen Zuwerfen der Bälle, mal Solo, dann Begleitung, mal thematischer Bezug, dann freie Improvisation. 

Die drei kurzen, über das Album verteilten unbegleiteten Soli hatten keinerlei Vorgaben und fangen aus unterschiedlicher Perspektive die Stimmung der Aufnahmetage ein. Michael Thiekes Beitrag spielt vom ersten Moment an mit den Obertönen seines Instruments, während er sich zugleich durch die eindringlichen Atemgeräusche selbst zu begleiten scheint. 

Manfred Schoof schickte dem Clarinet Trio die Originalpartitur von „Virtue“ – ursprünglich 1966 auf seiner LP „Voices“ erschienen –, die Gebhard Ullman nur in den Lagen und in Details des Kontrapunktes leicht veränderte. Hier wird besonders deutlich, was alle drei Klarinettisten als ihr Ziel herausstreichen: Das Original klingt durch, obwohl sich der Charakter, die Klangbreite bei Schoof zwischen gestrichenem Kontrabass, Trompete, Saxophon und Becken, durch die Stimmcharaktere der Klarinetten erheblich verändert. Michael Thieke steht auf der Altklarinette im solistischen Mittelpunkt dieses Tracks. 

Auch Karl Berger hatte Noten zur Verfügung gestellt für seine beiden Titel „From Now On“ und „Get Up“, erstmals eingespielt 1967 bzw. 1969. „Get Up“ steht in der Version des Clarinet Trio im Vordergrund, „From Now On“ wird hier zum Schlussthema. Im Groove, den Gebhard Ullmann auf der Bassklarinette vorgibt, der aber schnell von den versetzten Klarinetten aufgenommen, konterkariert, überspielt und wieder aufgenommen wird, hört man deutlich die rhythmische Energie, auf die es Berger in seiner Musik immer ankam. Und selbst wenn Ullmann für eine Weile aussetzt und seinen beiden Kollegen das Feld überlässt, bleibt der Groove erhalten, inzwischen im Ohr der Hörer:innen.

„Set ‚Em Up“ ist ein fast schon ikonisches Thema Albert Mangelsdorffs, ursprünglich geschrieben für das Album „Animal Dance“, das der Posaunist 1962 mit John Lewis einspielte, dann aber auch auf der ein Jahr später aufgenommenen LP „Tensions“ zu hören. Mangelsdorff hatte bereits eine eigenständige Posaunenstimme entwickelt, sich von Vorbildern wie J.J. Johnson gelöst, aber noch nicht die solistische Mehrstimmigkeit entwickelt, die später insbesondere seine unbegleiteten Soloprogramme bestimmen sollten. Und doch denkt man bei den drei Klarinetten unweigerlich an den Raumklang, den Albert ab den 1970er Jahren einzig und allein auf seinem eigenen Instrument erzeugen konnte. Die Idee zum Ablauf der Clarinet-Trio-Version, erinnert sich Jürgen Kupke, sei während der Proben entstanden. Und so stehen nun Pausen, Akzente, Klänge statt herkömmlichen Soli, immer getrennt durch klare thematische Passagen. Es gibt kollektive Phasen, und irgendwie übernehmen die kurzen Soloteile das Verschachtelte des Themas, daneben aber auch dessen deutlich durchscheinenden Humor. 

Karl Bergers „Tune In“ von 1969 ist eine fast schon elegische Ballade. Die drei Klarinetten spielen die Themenmotivik leicht versetzt, übernehmen dabei fast fließend voneinander, arbeiten mit Kanon, Krebs und Spiegelungen, was im Übereinander der Stimmen zu immer neuen Akkordstrukturen führt, die aber alle ihren Ursprung in der Melodie haben. Ein flotterer und deutlich tänzerischer Part bringt im zweiten Teil der Aufnahme eine in den angeschliffenen Tönen Kupkes balkanisch anmutende spielerische Note hinzu. 

Gebhard Ullmanns kurzes Solo spielt mit dem Atem hinter den Tönen, mit knallenden Slap-Tongue-Akzenten und mit Vierteltönigkeit.

Rolf Kühns „Don’t Run“ von 1966 ist die einzige Komposition des Albums, die von einem Klarinettisten stammt. Das kantige Thema spiegelt in Intervallik, Melodik und den ins Thema eingepassten Improvisationsfreiräumen Kühns Auseinandersetzung mit dem New Yorker Free Jazz jener Jahre wieder, insbesondere mit Ornette Coleman. Er habe da gar nicht viel arrangieren müssen, erinnert sich Gebhard Ullmann. Schon in der Aufnahme mit den Kühn-Brüdern ging das Thema ja fließend in freie, sich an der Themenmotivik orientierende Improvisationspartien über. Zwischen den Themenfragmenten, ergänzt Michael Thieke, war nichts festgelegt, was dazu führte, dass die verschiedenen Takes sich erheblich voneinander unterschieden. Jürgen Kupke betont, wie wenig antiquiert dieses Stück noch heute klingt, eine Qualität, die im Jazz nicht weniger selten ist als beispielsweise in der Neuen Musik: etwas Nachhaltiges zu schaffen. 

Für „Der Blues ist König“ hörte sich Michael Thieke durch einen Sampler mit Jazz aus der DDR und suchte gleich drei Stücke heraus, die mit Bluesverbindungen arbeiten, Klaus Lenz‘ „Der Blues ist der König“ von 1962, Joachim Kühns „Grog“ vom Januar 1963 und Ernst-Ludwig Petrowskys „Erinnerungen an Richard“ vom Dezember 1963. Die Fassung des Clarinet Trio ist eine Art Exkurs in Blues und Groove. Thematische Fragmente tauchen in der Improvisation auf und die verschiedenen Ideen überlagern sich. Ursprünglich, erinnert sich Thieke, gab es da noch ein Schlussthema, das aber rausfiel, weil die Auflösung der Stimmung in hörbares Atmen so viel angemessener schien.  

1964 war das Albert Mangelsdorff Quintett vom Goethe-Institut zu einer Tournee durch Südostasien eingeladen worden. Sie nahmen je eine Volksweise aus den Gastländern in ihr Repertoire auf, unter anderem das „Theme from Vietnam“, ein Stück, dessen ausdrucksvolle Kadenz, wie sich Joachim Ernst Berendt erinnert, der die Reise begleitete, Mangelsdorff so beeindruckte, „dass er sie ohne Änderungen oder Ergänzungen einfach so spielte, nur die wenigen Takte der Kadenz in all ihrer Einfachheit, Schönheit und Reinheit.“ In der Fassung des Clarinet Trio verleihen die drei Instrumente dem Ganzen eine klangliche Tiefe, lassen das Thema ganz ähnlich wie Mangelsdorff stehen, überlagern es aber mit Echos, spielen mit der Motivik, setzen Linien übereinander, verlassen für eine Weile die klare Rhythmik, um gleich darauf im Ineinandergreifen der Stimmen zu einem neuen, nach vorne treibenden Rhythmus zu gelangen. 

Jürgen Kupkes unbegleitetes Solo schließt sich an, ein einfaches Thema, unverschnörkelt dargeboten und damit ein wenig so, wie Albert das mit dem Volkslied aus Vietnam gemacht hatte.

Es ist ganz passend, dass das „Theme from Vietnam“ das Album beendet, handelt es doch von genau jenen Transformationen, die alle drei Musiker in ihrer Auseinandersetzung mit dem deutschen Nachkriegsjazz so faszinieren. Ein deutsches Ensemble reist Anfang der 1960er Jahre nach Südostasien, um mit einer damals etwa ein halbes Jahrhundert alten afro-amerikanischen musikalischen Praxis ein einheimisches Volkslied zu interpretieren, das auf Umwegen schließlich im 21sten Jahrhundert von drei Musikern in Berlin aufgenommen wird, die den Bezug auf die eigenen musikalischen Vorfahren feiern wollen. 

Es seien solche Wege, die sie interessiert hätten, erläutert Michael Thieke. Künstler, deren Musik auch die geschichtlichen und musikalischen Wandlungen ihrer Zeit wiederspiegelten, ihren Weg von Ost nach West, von Europa in die USA und zurück, wobei der Jazz als eine transnationale Musik ihnen immer wieder Anknüpfungspunkte gegeben habe. Passagen, geographisch und zeitlich – und als Gebhard Ullmann darüber nachdenkt, fällt ihm auf, dass er heute nur drei Häuser von dem Haus entfernt wohnt, in dem der Blue-Note-Gründer Alfred Lion vor seiner Emigration lebte. Der Kreis schließt sich: Transformations … and further passages.

Wolfram Knauer (2021)

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Was wäre denn politischer als die Utopie erschaffen?

Jazz als musikalische Praxis der Gegenwart

Dieser Essay erschien in Musik und Ästhetik, Jg. 22, Heft 86, April 2018: 80-84 (Link zur Zeitschrift hier)

Es war kurz nach der Jahrtausendwende, dass ich empfand, vielleicht sei es ja gar nicht so falsch, den Jazz als Musik des 20sten Jahrhunderts zu begreifen, in der Vergangenheitsform also, wo doch seine Zukunft eher im Zusammenfließen mit anderen Genres und Kunstformen zu liegen schien, in klanglichen Explorationen, die mit dem wenig gemein haben würden, was wir bis dahin als „Jazz“ verstanden. Überall gab es Diskussionen über den Begriff. In Deutschland wollte man lieber von „aktueller“ Musik sprechen und darunter alle musikalischen Diskurse subsumieren, die sich kreativ mit der gesellschaftlichen und ästhetischen Gegenwart auseinandersetzten. In den USA wollten Musiker den Begriff Jazz durch jenen einer Black American Music (oder kurz: BAM) austauschen, der dann auch alle anderen Formen kreativer afro-amerikanischer Musik beinhalten könnte, ohne dass man sich groß zu rechtfertigen habe. Die Diskussion um den Jazz, der spätestens seit den 1960er Jahren zu einer globalen Kunst geworden war, begann jener zu ähneln, die sich auch im politischen Alltag abspielte: Globalität beinhaltet einerseits, dass Andere Inhalte zumindest mit-definieren, die auch das persönliche Umfeld betreffen, andererseits aber auch, dass kulturelle Ursprünge in Vergessenheit geraten. In Bezug auf unser Thema akzeptieren beide Argumente dabei eine Position, die wir dem Jazz schon lange nicht mehr zugestanden: dass er nämlich zutiefst politisch sei, dass demnach auch seine Definition oder das Sprechen über ihn Haltungen wiedergebe und beeinflusse. 

Mit „Black Lives Matter“ wurde zumindest in den USA Musik ganz allgemein wieder politischer. Die ersten Reaktionen auf die Übergriffe der Staatsgewalt insbesondere auf Afro-Amerikaner, fanden in der text-besetzten populären Musik statt, und da insbesondere in weithin sichtbaren Statements: Princes Video „Baltimore“ von 2015 etwa[1], Kendrick Lamars Auftritt anlässlich der Grammy-Verleihung von 2016[2] oder Beyonces Salut an die Black Panthers in der Pause des Super Bowl im selben Jahr[3]. Der Jazz als eine instrumentale Musik schien es da weit schwerer zu haben, ein Statement zu setzen. Und doch waren es gerade die Musiker an der vordersten Front der amerikanischen Jazzentwicklung, die ihre Musik immer auch politisch deuteten. Der Pianist Vijay Iyer etwa, der 2013 in seinem „Veterans‘ Dreams Project“ verstörende Berichte von Kriegsveteranen aus Afghanistan über die Träume verarbeitete, die sie nicht mehr loslassen[4]; der Trompeter Terence Blanchard, der sein letztes Album „Breathless“ nannte, in Anspielung auf Eric Garners verzweifelte Rufe „I can’t breathe“, während er im Schwitzkasten der New Yorker Polizei ums Leben kam[5]; der Trompeter Christian Scott aus New Orleans, der in seinen Konzerten keinen Hehl daraus macht, dass er als Musiker auch eine politische Verantwortung verspürt[6]; oder der Saxophonist Kamasi Washington, der sich in der Musik eines Konzerts, das er am 25. Juli 2015 in Los Angeles zusammen mit Jazz- und Hip-Hop-Musikern gab, auf die Unruhen im schwarzen Stadtteil Watts von 1965 und 1992 bezog und das alles wie selbstverständlich in Bezug zur Gegenwart von „Black Lives Matters“ stellte[7]. In den USA kann auch der instrumentale Jazz dabei immer noch auf die Botschaft seiner Entstehung aus der afro-amerikanischen Kultur heraus zurückgreifen. Wie aber sieht es in Deutschland aus?

Bis in die 1970er Jahre hinein war der politische Kontext von Jazz und improvisierter Musik auch hierzulande durchaus greifbar. Die Musik war ja von den Amerikanern durchaus als ein politisches Instrument eingesetzt worden, um in den Zeiten des Kalten Kriegs durch die Improvisation und die Individualitätsästhetik des Jazz quasi ein Beispiel zu geben, wie sich in demokratischen Prozessen Dinge aushandeln lassen, an denen alle beteiligt sind, in denen sich vor allem aber auch alle wiederfinden. In den späten 1960er Jahren passten freiere Improvisationsformen durchaus in die Diskurse der Studentenbewegung, und noch in den 1970er und 1980er Jahren war, gestützt durch soziologische Studien klar[8], dass der Jazzhörer eher links und gesellschaftskritisch als rechts und gesellschaftlich etabliert sei. Die Distinktion, die man sich selbst als Jazzhörer zuschrieb, war auf jeden Fall eine der Individualität, des „Anders-Sein“ vom Mainstream. Die Misere des „Anders-Seins“ ist allerdings, dass auch dieses über die Jahre einen Konnotationswandel durchmacht und dass das, was in den 1960er Jahren als revolutionär angesehen wurde, bald ein wenig verstaubt und altbacken wirkte – zumal die Revolutionäre von damals inzwischen selbst gealtert waren und für die Schnelligkeit der digitalisierten und globalisierten Welt oft wenig Verständnis aufbrachten. 

In den 1990er Jahren erhielt der Jazz hierzulande immer stärkeren Kunstmusikstatus, was sich auch in seiner Förderung niederschlug. Jazz, so war der allgemeine Konsens in den über Fördergelder entscheidenden Gremien, sei ein wichtiger Beitrag zum Kulturdiskurs unserer Zeit, ein bisschen vielleicht die Forschungsabteilung der heutigen Musik, die im Idealfall in die Zukunft gerichtet sei statt vor allem zurückzublicken. Und tatsächlich verbindet sich mit dem Jazz als einer aktuellen Musik in Europa und ganz speziell in Deutschland der Richtungsfokus aufs musikalische und künstlerische Experiment – anders als etwa in den Vereinigten Staaten, wo diese Bereiche – experimentell, konventionell – weit weniger getrennt sind und sich die Akteure beider Welten der Notwendigkeit der jeweils anderen meist bewusst sind. 

Wie also bezieht der Jazz im Deutschland des Jahres 2018 Stellung? Wenn sich Anna Lena Schnabel für die Freiheit ihrer Kunst und gegen Repertoire-Dreinreden der Veranstalter beim ECHO Jazz wendet[9], oder wenn Christopher Dell die Praktiken der Improvisation in seiner Musik als Technologien gesellschaftlichen Zusammenwirkens versteht[10], ist dies natürlich auch jeweils eine politische Haltung. Wenn Gunter Hampel, ein Urgestein des deutschen Jazz, noch heute den Jazz und die mit ihm verbundene Improvisation als wichtiges Bildungsideal gerade auch für Kinder und Jugendliche versteht (und dies durch Schulworkshops auch eigenständig weiter betreibt)[11], ist dies ein klares Statement. Wenn Musiker sich in allgemeine Kulturdiskussionen wie etwa zum House of Jazz einmischen[12] oder in den Bundesländern genauso wie im Bund für die eigene Sache und damit auch für die der experimentellen Kunst streiten[13], so ist dies insbesondere dann ein politischer Akt, wenn sie immer mehr gehört werden. 

Man kann meinen, dass Jazzmusiker genug damit zu tun haben, ihr Überleben durch Musik zu organisieren, dass also die Reaktion auf Gesellschaft, Politik, Umwelt, Fremdenhass und anderes, was die Diskurse der Zeit umtreibt, zurückstehen müsse hinter dem Organisieren von Gigs, Tourneen, Aufnahmen oder einfach nur von Geld. Man mag meinen, dass der Jazz durch seine Verortung innerhalb der Zeitgenössischen Musik (mit großem „Z“, also ein wenig näher der Neuen Musik als anderen Formen experimenteller Sparten) zu sehr zu einer „Kunst“musik geworden sei, die sich – l’art pour l’art – selbst genug ist und auf nichts anderes mehr verweist als eben auf sich selbst. Man mag meinen, dass Jazz all das gesellschaftlich nach vorne Schauende immer schon vorgelebt habe, den Dialog zwischen den Kulturen, die Freiheit und Individualität der Improvisation, die Rebellion gegen gefestigte Strukturen, den Willen auszubrechen, neu zu mischen, Risiken einzugehen. Wenn also Musik für sich ein Statement des Wagnis ist, wieso muss dies dann an konkreten Beispielen aus dem Gegenwartsalltag noch exemplifiziert werden?

Sprich: So einfach wie in den USA scheint es hierzulande nicht zu sein, politisch zu werden mit Musik – und sei es nur in den Titeln der Stücke oder den Ansagen, die die Musiker auf der Bühne machen. Und doch wird gerade Jazz, wird gerade die Improvisation nach wie vor als etwas ungemein Politisches wahrgenommen – von denen, die sie machen genauso wie von seinen Hörern und selbst von denjenigen, denen diese Musik ein Buch mit sieben Siegeln bleibt. Joachim Ernst Berendt hat vom inhärent Widerständigen des Jazz gesprochen[14], und bei aller romantischer Sichtweise des deutschen Jazzpapstes, dem diese Musik ja tatsächlich geholfen hatte, ein Statement des Anti-Nazismus zu befördern, ist bis heute etwas daran. Wenn Christian Lillinger mit seinem Septett Grund freie Improvisation und ausgetüftelte Komposition in energetisch geladene Abläufe lenkt[15]; wenn das Trio DRA mit Christopher Dell, Christian Ramond und Felix Astor komplexeste Kompositionen so mit Improvisationen zu verweben in der Lage ist und dabei im Verlauf des Sets unabgesprochen und doch wie aus einer Hand die Richtung zu wechseln vermag[16]; wenn Julia Hülsmann in ihrem Projekt „songs for double trio and three voices“  vordergründig die „Lieblingssongs“ der Bandmitglieder spielt, dabei aber auf lange Musiziertraditionen Europas zwischen Folklore und Experiment zurückgreift[17] – und neben diesen ließen sich etliche ähnliche Beispiele anführen –, dann ist all das zuvorderst musikalisch. Weil es aber im Musikalischen Grenzen sprengt, zwischen individuellen Aussagen, zwischen Komposition und Improvisation, zwischen Genres, zwischen Traditionen, führt es vor, was wir uns vielleicht ja auch für die Gesellschaft erhoffen. Was wäre denn politischer als die Utopie erschaffen – und sei es mit musikalischen Mitteln?!

Der Jazz schien mir, schrieb ich zu Beginn dieses Textes, zur Jahrtausendwende eine Musik des vergangenen Jahrhunderts. Als Stil und Genre schien er damals an einem Endpunkt  angekommen. Der Denkfehler aber war – und ist –, diese Musik überhaupt als einen Stil, als ein Genre zu begreifen. Tatsächlich ist Jazz bis heute – und das lässt einen neugierig in die Zukunft dieser Musik blicken – eine musikalische und damit automatisch auch eine gesellschaftliche Praxis, in der das kreative Miteinander-Auskommen in immer neuen Konstellationen erprobt wird und in dem die Beteiligten (und das sind eben immer auch die Hörer) erleben, dass aus dem Experiment Neues genauso entstehen kann wie scheinbar Bekanntes, aber aus einer neuen Perspektive Erlebtes. 

Wolfram Knauer (Januar 2018)


[1] Prince: „Baltimore“, Juli 2015; https://youtu.be/cieZB0Ab7xk

[2] Kendrick Lamar: „The Blacker The Berry“ and „Alright“; Grammy-Show, Februar 2016; https://www.theverge.com/2016/2/15/11004624/grammys-2016-watch-kendrick-lamar-perform-alright-the-blacker-the-berry

[3] Beyoncé: „Formation“, Super Bowl 50 Halftime Show, 2016; https://youtu.be/c9cUytejf1k (ab 7:00)

[4] Vijay Iyer: „Holding It Down: The Veterans‘ Dreams Project“. Performance aus dem Metropolitan Museum of Art, New York, November 2015; https://www.metmuseum.org/metmedia/video/concerts/holding-it-down-veterans-dreams-project-vijay-iyer

[5] Terence Blanchard & The E-Collective: „Breathless“ | Live Studio Session, 2015; https://youtu.be/y9pl1XakxJ8

[6] Z.B. „The Coronation of X aTunde Adjuah“, aus der „Ruler Rebel“-Trilogie, 2017; https://soundcloud.com/ropeadope/the-coronation-of-x-atunde-adjuah-feat-elena-pinderhughes

[7] Kamasi Washington, August 2015; http://www.laweekly.com/video/kamasi-washington-unites-jazz-and-hip-hop-musicians-in-honor-of-the-watts-rebellion-65-and-la-uprising-92-wb95c2sd

[8] Z.B.: Rainer Dollase & Michael Rüsenberg & Hans J. Stollenwerk: Das Jazzpublikum. Zur Sozialpsychologie einer kulturellen Minderheit, Mainz 1978; Peter Köhler & Konrad Schacht: Die Jazzmusiker. Zur Soziologie einer kreativen Randgruppe, Freiburg 1983; Fritz Schmücker: Das Jazzkonzertpublikum. Das Profil einer kulturellen Minderheit im Zeitvergleich, Münster 1993

[9] Vgl. Video „Der Preis der Anna-Lena Schnabel“, ausgestrahlt am 21. Oktober 2017 auf 3sat; http://www.3sat.de/page/?source=/musik/194584/index.html

[10] Vgl. http://www.christopher-dell.de

[11] Vgl. http://gunterhampelmusic.de/?page_id=206

[12] Z.B. die IG Jazz Berlin, vgl. http://www.ig-jazz-berlin.de/house-of-jazz/

[13] Z.B. die Bundeskonferenz Jazz, vgl. http://www.bk-jazz.de/ oder die Union Deutscher Jazzmusiker, vgl. http://www.u-d-j.de/

[14] Vgl. z.B. Joachim Ernst Berendt: Wandel und Widerstand, in: Wolfram Knauer (Hg.): Jazz in Deutschland, Hofheim 1996, S. 261-279

[15] Christian Lillingers Grund, Bremen 2014; https://youtu.be/2TpWZIbqVmM

[16] DRA: „Truth Study“2012; https://youtu.be/PWF2Kn0g58Y

[17] Julia Hülsmann Oktett: „Sleep“, 2015; https://youtu.be/agcX1rStCVM

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Jazz and architecture

I gave this lecture as part of the Jazz Studies Groupo at Columbia University, New York, in April 2018. The topic of that year's group was "Planning the city – learning from jazz"
Jazz Hot, Feb.1965: 6

I will be talking not so much about similarities between architecture and jazz, but about how architecture and jazz intersect on different levels. In most of the examples I will provide, „architecture“ is meant to be „buildings“, built for a purpose that somehow may or may not overlap with music. I will not be talking about architecture theory or about the process of architecture. I will not be talking about similarities in the creative or structural approach to architecture and jazz. And I will try to stay away from trying to find groundplans, foundations, and scaffolding in music, or to find rhythm, harmony, and improvisation in architecture. 

Mathildenhöhe Darmstadt

I come from a city of music and architecture. Both have to do with each other in unexpected ways. In the early 20th century, Darmstadt became one of the major centers of Art Nouveau in Europe with some of the most important architects and designers living there and building samples of the most modern architecture at the city’s Mathildenhöhe. 

Darmstadt after the bombing of 11 September 1944

On September 11, 1944, British bombers destroyed the city within one night, throwing fire bombs as a test for Dresden. The bombing started at 11:55pm and lasted for half an hour. More than 11,000 people died; and more than 100,000 people lost their homes. During the 1930s, Darmstadt, then still the capital of the state of Hesse, had been a Nazi stronghold. 

After the war our first mayor, a social democrat, supported the head of the cultural department in establishing the Darmstadt International Summer School for New Music for two reasons, (a) because the city, which now was home to less than 100,000 inhabitants, always had compared itself to the big cultural centers of the world, and (b) to effectively counterbalance the 12 years of Nazi reign which had banned any contemporary artistic expression. The first summer school took place in 1946, in the midst of the rubble of a destroyed city. Soon, Darmstadt became the center for the discourse on contemporary composition with everybody, from Luigi Nono to Karlheinz Stockhausen, from Iannis Xenakis to John Cage, from Milton Babbitt to Morton Feldman or Theodor W. Adorno arguing about the best way to compose in a time that sought to overcome the dark past. 

Out of the rubble comes the music. And, of course, the architecture, because people have to live. 1950s Darmstadt had two major topics: At the Darmstädter Gespräche, the Darmstadt Talks, a series of public lectures and panel discussions, philosophers, architects, sociologists, urban planners, politicians and scholars from many other fields tried to identify what might be considered a livable city. And at the Kranichstein New Music Courses composers, musicians, musicologists and music philosophers tried to identify the best possible way how to re-frame the current political and social situation into music. 

Seat of the Punjab and Haryana High Courts in Chandigarh, India

Comparisons between architecture and jazz are manifold, and not new. Le Corboisier’s oeuvre was compared to jazz. This is the Punjab and Haryana High Court in Chandigarh, a city established in 1952 and planned by Le Corbusier. Around the same time, other French architects, Jacques de Lacretelle among them, member of the French Academy, compared modern architecture to a jazz orchestra, explaining it had „the same intense trumpet shouts, the same syncopated rhythm“. [„Et voyez comme elle s’applique bien à notre temps. L’architecture moderne pourrait être comparée à un orchestre de jazz. Mêmes coups de trompette stridents, même rythme boiteux et syncopé.“, zit. nach Jacques de Lacretelles: Journal de bord, Paris 1974 (B. Grasset)] In 1965, another, unnamed, French architect designed an apartment building for jazz musicians which would include a club, after having undertook interviews with musicians. Art Blakey, Johnny Griffin, Sam Jones, Ron Carter, Ran Blake, Pepper Adams, Jaki Byard and Elvin Jones were supportive, only Miles Davis told him he would never want to live where he worked. Apart from being lived in by musicians, the architecture, the unnamed architect explained, should also resemble the idea of jazz, using something like repetitive choruses, individual improvisation. (Pierre Lattes: „Mon rêve“. Jazz et architecture, in: Jazz Hot, #206 (Feb.1965): 6; see picture on the top of this page)

I live in the city center of Darmstadt, and besides my house there is a big construction site. The other day I went to the website of the architects in order to find out how close everything might be getting to my house, and discovered that only a few years ago they had developed a series of row houses in Frankfurt which sold under the name of „Jazz“, „Swing“ and „Bebop“. I talked to the investor whose idea this was and found out that the names had nothing whatever to do with the architecture, but were based on the location, the west wing of a development area which when they thought about it morphed from west wing into swing after which they decided to give the whole area a musical theme. 

Lechner Group, advertisement for „Swing“, „Jazz“, „Bebop“

They printed brochures in LP cover formats and are continuing with more houses of this kind, among them a project called Blue Note and another called Bossa Nova. While most of these were done with German architects (actually a company based in Darmstadt), a project entitled „Verve“ was planned but has so far not been realized together with the New York architect Daniel Libeskind. Which all goes to show that the connection between architecture and jazz sometimes is just a public relations gimmick. All houses were sold, but then, the real estate market in and around Frankfurt is quite busy (see the website of Swingin‘ Riedberg).

Lechner Group, advertisement for „Verve“

Whenever I think of architecture and jazz, I think of urban planning more than of the actual buildings. Only two weeks ago I was in Israel, and, knowing I would prepare a talk for this Jazz Studies Group meeting, I looked specifically at the Bauhaus architecture to be found everywhere in Tel-Aviv. 

Tel Aviv, 1930s

A lot of the buildings in the White City reflect the Bauhaus‘ original idea of order and structure, others a certain playfulness (like the Hechal Yehuda Synagogue, built in 1979), others a rhythmic urgency like Arieh Sharon’s Convalescent Home from 1965. 

Convalescent Home by Ariel Sharon (photo: Ariel Alony)

That building, by the way, brings up memories of my own. When I moved to Darmstadt in 1990, my first apartment, a small studio which I lived in for about half a year before I found something bigger, was in one of my favorite buildings in the city. It was built in the early 1950s by Ernst Neufert as a dorm for single males, and I liked both the open brick facade and the rhythm of its balconies. Neufert was one of the first to use an underfloor heating system (only in this case it really was an overhead heating system), and while this was a brilliant idea, it was also a paradise for creatures I usually connect with New York: cockroaches. 

Ernst Neufert: Ledigenwohnheim, Darmstadt

Urban planning, then. There is the example of the late Dutch composer and sound sculptor Paul Panhuysen who saw a connection between experimental art and social engagement and eventually not only made sound installations but became interested in the space of the street as a potential space for living. If there is anything „jazz“ about this, apart from the fact that Panhuysen was also an improvising experimental musician, it’s about filling seemingly fixed structures with life. 

I have another example of Urban planning. When the University of Bremen was founded in 1971 and built their campus shortly thereafter, not in the city, but on the outskirts of town, the urban planners decided to just plant a green lawn between the different buildings. They waited a year or two, and when they recognized which paths the students took to get from where they were to where they wanted to go, they finally paved those footpaths in the grass into bricked sidewalks. I would call that audience participation of sorts, an improvisatory process of planning which involves the actual users of the planned object. 

And finally a third example connecting urban planning and sound: When the Austrian city of Linz in 2009 became Cultural Capital of Europe, an honor bestowed to cities all over the European Union for a year each, it published the Linz Charta as a guideline for urban planning in an acoustic environment. The idea behind all of this was to „promote a conscious design of our audible environment in keeping with human dignity and […] based on the conviction that people are touched and influenced to the core by what they hear.“ The architects, urban planners and acousticians discussed the problem of acoustic littering in public buildings, but also in public spaces. They discussed the knowledge of architects in Venice or Florence in the 17thand 18th century to not only build representative houses but make sure that the protrusions, the balconies, the scratch coat, the planning of houses not parallel to each other would ensure that the noise level on the streets be kept to a minimum. Since Vitruvius, all of this had been part of the expert knowledge of architects, but apparently was lost over the last 100 years. 

If there is one parallel between architecture and music, and thus also between architecture and jazz, it is that both create and embrace community, and that both have a direct impact on our emotional state – I was going to say, on our emotional space, which would have been true as well. So, let’s move into the spaces, created by architects, in which music is being created. This, by the way, is what you get when you enter „architecture“ and „jazz“ into Google pictures, and you will see one or two of these photos again in a moment.

Music needs the artists who create it. It needs an audience to support and be moved by it. And it needs a space to resound in. It’s the most simple connection between music and architecture: You can make music anywhere, however in order to project it to your audience you need a room best equipped for the perfect aesthetic experience. This holds true from the ancient Greeks who created the best open-air acoustics in their amphitheaters, through the churches of Gabrieli and Heinrich Schütz which these composers made sure to use theatrically as well, the opera houses in Venice or Bayreuth to the jazz clubs of New York or the caves where jazz was listened to in Paris. You need space to have the music resound in, and you need space that enhances the specific sounds of the music. 

Architects have been thinking about music mainly as another task, and often their thought was more directed at how well the audience saw the stage than at how well it could hear the music. Concert halls of all sorts eventually got competition by hi-fi equipment which accustomed the listeners to a sound experience they did not want to drop behind on in live events. By the mid-1950s and with more and more traveling artists who could identify and compare the different sound effects of the halls they performed in, you had reference concert halls or clubs all over the world. Not every hall fit every style of music, though. There might be ideal situations for acoustic trio music and others for loud fusion acts, there might be just the right room for a symphony orchestra and others which fit a string quartet. Their might be good rooms for vocal or choir music that would not work for a big band. There are dry rooms and resounding rooms, and often a room will sound different empty or filled with an audience. 

Some architects see themselves as service providers, others as creative artists. The spectrum in between these two can be quite big, and the consideration of their customers‘ needs quite varied as well. Let me look at a few selected examples and point out how architecture – planned, found and imagined architecture – is often if not always part of the musical and creative discourse. One of the extremes, when it comes to musical buildings, may be a project by Karlheinz Stockhausen for the 1970 World Expo in Osaka, Japan. Stockhausen and the architect Fritz Bornemann built what they called „Gardens of Music“ a spherical concert hall based on plans which Stockhausen and one of his colleagues from the Electronic Studio at the Technical University in Berlin had conceived. „The audience sat on a sound-permeable grid just below the centre of the sphere, 50 groups of loudspeakers arranged all around reproduced, fully in three dimensions, electro-acoustic sound compositions that had been specially commissioned or adapted for this unique space.“ (http://www.medienkunstnetz.de/works/stockhausen-im-kugelauditorium/images/5/) The daily program included pieces by Bernd Alois Zimmermann, Boris Blacher, but also Bach and Beethoven, or live-concerts, including Stockhausen’s own „Spiral“ for soloist and short-wave receiver. 

There are other examples of this kind, most of them, of course, predating architects specifically thinking of what might be needed for a jazz venue. 

„Liquid architecture. It’s like jazz—you improvise, you work together, you play off each other, you make something, they make something. And I think it’s a way of trying to understand the city, and what might happen in the city.“ – Frank Gehry

Disney Hall, Los Angeles (photo: Wolfram Knauer)

Frank Gehry changed the image of downtown Los Angeles when he finished the Walt Disney Concert Hall which opened in 2003. Nine years later Gehry agreed to work pro bono on a new home for the Jazz Bakery in Culver City. The idea was Gehry’s who offered his service and thus turned up the pressure to actually raise the funds for the whole thing. Gehry designed a space next to the Kirk Douglas Theatre with additional space for an outdoor dining room, bakery and café. His design was first shown at the Frank Gehry Retrospective at the Los Angeles County Museum of Art in 2015. 

We live in a time when acoustically nearly everything is possible because acousticians will be able to adapt the sound situation in ways that „perfect sound“ can be found at every seat in the hall. However, that proved to be the strongest criticism which the Elbphilharmonie in Hamburg met after it opened in 2016: that the average listener was not accustomed to be sitting „within the orchestra“, at that special listener’s seat which Toyota Yasuhisa, the hall’s famous acoustician, had prepared for him. That criticism also called to mind that our ear is able to connect the acoustic phenomenon of sound with the spacial experience of the room, that we actually are quite adept at bending our ear according to the acoustic reality. Less than perfect acoustics, then, do not necessarily make for a bad concert experience. 

Space, after all, is also a structural element in music. And while you might think of Gabrieli or Sun Ra or the Dutch saxophonist Willem Breuker and his Kollektief when I say that, I will give you another example: At the Jazzinstitut we organize regular concerts in a performance space underneath the archive, an old barrel vault, an open-brick cellar like out of a movie, cozy, with warm earthy colors and a wonderful atmosphere. At one point, during a concert with highly complex music, I realized how the space around me was able to help me find structure within the music, as well: Should you get lost – and that happens –, the order of the bricks in the barrel vault can help to find your way back into the spontaneous structures of the music, much easier than, to use the other extreme, a dark concert hall with black curtains all around you, for instance. 

Heinz Sauer and Uwe Oberg at the Jazzinstitut’s concert space (photo: Frank Schindelbeck)

That other extreme, if you will, was quite custom in Germany in the 1970s (and elsewhere as well): Small concert halls with black walls and curtains and spots right on the music. The idea was to focus everything, the light, the ear, the audience’s concentration, directly on the music itself, no distraction whatsoever. That can be quite an experience, and I have enjoyed lots of concerts in halls like this, mostly small ensembles, chamber-music like settings, contemporary or experimental music. Oftentimes the idea of focusing by making the space disappear visually worked, but there were also times when I wished for distraction. Apart from everything else a concert venue, after all, is always a social space as well, in which the music happens between people, between the musicians, between them and their audience. I want to see the community I share the music with, I want to feel the atmosphere of the place completely, hear it, see it, feel it, smell it. While it sometimes can be quite nice to focus, to be forced to limit myself to just selected senses makes me not necessarily appreciate the performance in its whole glory. 

There is a reason, after all, why there is music of which one claims that it is better to hear it in live performance than just on a recording. It’s not just the sound aspect, but it is exactly this experience of space, of being included in the musical communication, of belonging, of being part of the creation of a musical process.

Bessunger Kavaliershaus, 1872 (Ernst August Schnittspahn)

The cellar underneath the Jazzinstitut, by the way, was not built for concerts. It was built around 1720 as a cold storage room for deer and small game. No architect thought about the acoustic qualities of it. And even when it was restored for our use as a concert space, it was pure luck that the architect involved decided not to whitewash or polish the walls which would have changed the resonance of the room. Sometimes, then, the acoustics and the atmosphere of a concert space are pure luck, and have nothing to do with architecture whatsoever. 

The Village Vanguard is a case in point. It did not start as the world’s best acoustic space for jazz; that was only discovered much later. 

Village Vanguard, view to stage

Let me have a very short look at the Vanguard, because it is such an „ideal space“: From a musicians‘ perspective the Vanguard lives mostly through its aura. That special atmosphere which you feel in it is partly based on the room itself, its design, the setting of the tables, the view of the stage, the acoustic qualities, the perception of intimacy. Sound engineers are mesmerized by the sound of the place which they like to define as „dead“ or „dry“, having no real „room sound“ of itself. However, this sound quality lets the musicians hear each other without a big monitoring setup, which again helps musical communication and creativity on stage. Finally, the Vanguard is also a spot where the musicians on stage will never know who might be in the audience – fellow musicians, journalists, or influential people from the music industry. [–> community]

The second perspective is that of the audience. If you come to the Village Vanguard for the first time you might be disappointed by its size which is so much smaller than its public image. Once the music starts you will realize that the Vanguard has one of the most extraordinary room acoustics in the world, that the musical balance seems so natural as you’ve rarely heard before. No matter where you sit in the club, the music seems to engulf you, be all around you. Whether it’s an all-acoustic set, whether the instruments are slightly amplified or whether it’s Monday night and the Vanguard Orchestra is blowing up a storm, huddled together on the small stage, the piano extended into the audience: No stereo can replicate the feeling of sitting in front of that stage at the Village Vanguard, that all-around experience in which you seem to be in the middle of the sound, seeing, hearing, smelling, and literally being part of the musical creation. 

If you’ve been there a couple of times, you will already be making up history for yourself – because in your mind you will recall all of the other concerts you’ve heard there. From now on, your personal narrative will be mixed with the club’s main narrative and benefit its status as a jazz legend.

Lorraine Gordon, owner of the Village Vanguard (photo: John Abbott)

The promoter’s perspective is a different one. After all, for any promoter the club is a business: They must be able to pay the rent, pay their staff, pay the suppliers, pay the musicians, and make a surplus. The Village Vanguard is a business, like an old-fashioned neighborhood store offering goods that the public likes, regularly trying out something new but never straining its audience’s patience. Or as Lorraine Gordon says, „Look, I have to keep finding new talent, but I’m not the only club in town. Sometimes I say, ‚Go play somewhere else, let them break you in. I’ll keep listening, and, when I hear that you’re ready, you can come here.'“ Lorraine and Max Gordon both let in musicians for free if the club was not sold out, thus supporting a sense of musicians‘ community, enabling meeting, communication, or even eventual musical exchange.

The Vanguard has grown over many years to what it is today. It has become a model by longevity, by not really having changed and yet feeling fresh upon each visit. That actually might be one of its secrets: that you hear new music there, but appreciate the old surroundings reminding you both of the roots and the long way the music has gone and has to go. If you think of it in architectural terms, the Vanguard is what might qualify as „found architecture“ in that triad I introduced at the beginning, of planned, found and imagined architecture.

The Stone, New York

In a paper which I gave at the last Darmstadt Jazzforum conference I have looked at different venues and how they influence both how jazz is being perceived and what function they have in defining a specific community. I looked at the Vanguard as the prototype of all jazz clubs, at Jazz at Lincoln Center and the attempt to re-define what jazz means in the 21st century, at the Stone (the old Stone, that is) and the need for open spaces to develop a future in improvised music, at SFJazz in San Francisco, at the BIMhuis in Amsterdam, at the Stadtgarten in Cologne and the plans for a House of Jazz in Berlin. Most of these venues are more than just „found objects“, existing halls adapted to the use by jazz musicians. Many have been planned as new „ideal spaces“, a bit like the Elbphilharmonie in Hamburg and other classical temples. They are statements beyond the music, and here, architecture plays an important role, because the architecture needs to fit the music, yet it has also the chance to brand the music’s role in whatever city, country or community the venue is situated in. 

Jason Moran: Staged. Three Deuces (2015, Luring Augustine)

At the end of that Darmstadt paper which goes into details about different approaches towards the idea of a jazz venue, I shortly focused on the installation produced by Jason Moran in 2015 for the Venice Biennale, based upon the small space of the historic Three Deuces on 52nd Street and upon the Savoy Ballroom in Harlem. While performances were possible (and done) in both, the installations mainly tried to capture the iconic memory of the places. Moran sees the backdrop of his music as part of the performance, arguing, „[Duke Ellington] had the tuxedo-bedecked band. He had ornate music stands, a beautiful curtain backdrop, and would come out with a dozen or more dancers. None of that was arbitrary. That’s what we’re working on now, thinking about our presentation. Performances where, elaborate framing or not, nothing in our presentation is ever arbitrary.“ When you stood in front of Moran’s installations while there was no live music you heard the speakers at the Savoy mixing „clanking sounds layered with recordings made by folk music collector Alan Lomax“, while the Steinway Spirio placed on the stage of the Three Deuces self-played a twelve-minute cycle composed by Moran. It’s an eerie feeling standing between these two stages, the sounds of which intertwine, iconic memory and personal memory of similar places mixing, and it all being part of a museum experience of sorts. It felt like filtering the iconic element out of the memory of a venue, making one realize how much that personal experience of space, sound and memory makes us react to the music, no matter where and when we hear it.

I started by pointing out how Darmstadt, destroyed during the war, needed to rebuild both in a literal sense, by providing space for people to live in, but also in the artistic field, providing spaces to think in, to creatively produce in, to debate about the past, the present and most of all the future. We in the arts are in need for such spaces. Spaces can be provided by politicians who support funding structures, by a network of philanthropy, by universities and other institutions that participate in the cultural discourse. As always, architects will provide the walls, however the space needs to be filled by the people, by artists and audiences alike; it will only re-sound if musicians adopt it for their musical projects. And there, we learn from some of the examples I listed, it’s a mix of the acoustics of a room with the atmosphere, with history and with a community that calls this room home, no matter how ideal it „really“ is.

Thank you very much!