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Medieval Blues 

Anmerkungen zu Projekten mit Jazz und mittelalterlicher Musik

Dieser 1998 geschriebene Beitrag erschien im von Wolfgang Gratzer und Hartmut Möller herausgegebenen Band Übersetzte Zeit. Das Mittelalter und die Musik der Gegenwart, Hofheim 2001 (Wolke).

In den letzten Jahren sind auf dem CD-Markt etliche Produktionen erschienen, in denen Jazzmusiker entweder mit Ensembles mittelalterlicher Musik zusammenarbeiteten oder durch die Verwendung mittelalterlicher Instrumente und musikalischer topoi einen inhaltlichen Bezug zwischen den beiden vordergründig sehr unterschiedlichen Traditionen herzustellen versuchten. Die Gründe für die Zunahme solcher Projekte können auf verschiedenen Ebenen gesucht werden: 

  • in der zunehmenden Popularität einer Auseinandersetzung mit dem Mittelalter nicht erst seit Umberto Ecos „Name der Rose“; 
  • im Erfolg von New-Age-Projekten, die sich auf alte europäische Kulturentwicklungen berufen; 
  • in der zunehmenden Offenheit von Musikern aus beiden Lagern anderen musikalischen Traditionen gegenüber und in ihrer Bereitschaft, bei solchen Kooperationen nicht steif auf die Regeln des eigenen Genres zu pochen; 
  • in der Auseinandersetzung vor allem europäischer Jazzmusiker mit alten Spieltraditionen von Volks- bis Kunstmusik; 
  • nicht zuletzt in der Tatsache, dass ein immer größeres Publikum von stilübergreifenden Projekten begeistert ist – hier greift die Event-Ästhetik auch auf den Plattenmarkt über.

Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit einigen für die Rezeption mittelalterlicher Musik durch Jazzmusiker wichtigen Aspekten. Es geht dabei um vordergründige Parallelen zwischen der Vervollkommnung einer musikalischen Schriftlichkeit und der Markteinführung der Schallplatte, um gemeinsame Projekte von Jazzmusikern mit Ensembles mittelalterlicher Musik sowie um die Auseinandersetzung zeitgenössischer Musiker mit europäischer Folklore und deren Auswirkungen auf die Beschäftigung mit mittelalterlichen topoi. Die beiden Fragen, die im Rahmen dieses Beitrags im Vordergrund stehen, sind dabei: Aus welchen Gründen wenden sich Jazzinstrumentalisten dieser weit zurückliegenden Entwicklungsstufe europäischer Musik zu? Wie nehmen die Beteiligten auf die Besonderheiten der beiden Welten Rücksicht, und inwieweit werden musikalische Belange des Jazz und der alten Musik miteinander vermittelt? Der Schwerpunkt analytischer Betrachtungen liegt dabei auf den Projekten des Hilliard Ensembles mit Jan Garbarek, des Orlando Consort mit der Gruppe Perfect Houseplant sowie und vor allem des Klarinettisten und Komponisten Michael Riessler. 

1. Der „melting pot“ des Jazz, oder: „Play yourself, man!“

Jazzmusiker haben sich im Verlauf der Geschichte ihrer Musik vieler Quellen bedient: als Reservoir musikalischen Materials, als Inspiration, als Möglichkeit zum Finden neuer Wege. Der Jazz selbst entspringt der Begegnung mehrerer Kulturen. Wenn in Geschichtsbüchern gern vom „melting pot“ New Orleans die Rede ist, in dem sich Menschen und Kulturen sehr viel freier mischen konnten als in anderen Städten der Vereinigten Staaten, so ist dies durchaus ein realistisches Bild für die Entstehung dieser Musik. Noch heute kann man im French Quarter der Mississippi-Stadt jene aufregend-weittragende Akustik des subtropischen Klimas erleben und sich vorstellen, wie das tägliche Leben dort vor Erfindung der Klimaanlage meist bei offenem Fenster stattfand, wie Gespräche in den vielen Sprachen, die in der Hafenstadt zu hören waren, wie Gelächter, Streits und vor allem Musik von Hof zu Hof, von einem schmiedeeisernen Balkon zum nächsten getragen wurden. Dabei wird man verstehen lernen, dass es höchstens eine Übertreibung ist, wenn vom legendären Buddy Bolden behauptet wird, man habe ihn auf der anderen Seite des Lake Pontchatrain hören können.

Das Bild des „melting pot“ aber gilt nicht nur für die Entstehung des Jazz. Jazz als improvisierte Musik hat sich spätestens mit seiner Dokumentation auf dem damals neuen Medium der Schallplatte zu einer Kunstmusik entwickelt, die bald eigene, wenn auch ungeschriebene ästhetische Regeln besaß. Eine solche Regel war und ist noch heute die Antwort, die gestandene Jazzer ihren Schülern gern auf die Frage geben, was einen guten Musiker ausmache: „Play yourself, man!“. Individualität als erster Grundsatz des Jazz: Spiel dich selbst, finde deine eigene Stimme, nehme andere höchstens zum Vorbild, ohne sie zu imitieren. Diese Regel besagt nicht (wie dies oft und gern missverstanden wird), dass Jazzmusiker grundsätzlich etwas „Neues“ zu spielen hätten. Sie besagt einzig, dass der einzelne Musiker, um seine Gefühle musikalisch ausdrücken zu können, nicht nur die Technik seines Instruments vollkommen beherrschen muss, sondern sich außerdem eines eigenen, d.h. selbst gewählten Vokabulars bedienen sollte. Menschen sind nicht nur an ihrer Stimme, sondern auch am Gebrauch der Sprache als Individuen erkennbar, am Gebrauch von Worten, Sätzen, Satzstellungen. Sie bedienen sich eines gemeinsamen Wortschatzes und gemeinsamer grammatikalischer Regeln, um mit diesen ihre eigenen Belange auszudrücken. Nichts anderes verlangt die zitierte erste Jazz-Regel: Nimm dein Instrument, beherrsche es. Lausche deinen Kollegen und all den Einflüssen, die dich als Mensch und Musiker prägten. Nutze dieses musikalische Vokabular sowie die musikalischen Regeln, die du daraus ableitest, kreativ zum Ausdruck deiner selbst. 

Die Auswirkungen dieser Ästhetik werden besonders dort deutlich, wo der Jazz seine angestammte Heimat verlässt und in Länder vordringt, denen die Tradition afro-amerikanischer Kultur eigentlich fremd ist. In Europa begann der Jazz als rein imitatorische (und dabei eher schlecht imitierte) Musik, die im Vergleich nicht besser klang als ein in der nur ansatzweise beherrschten Fremdsprache radebrechender Schüler. In den 50er Jahren aber fanden mehr und mehr europäische Jazzmusiker Interesse an einer Auseinandersetzung mit ihren eigenen musikalischen Traditionen. Das war in vielen Fällen die Volksmusik des Landes oder eher noch der Region, aus der sie stammten und mit der sie verbunden waren. Das war in anderen Fällen die Kompositionstradition von Kirchenmusik bis klassische Musik. Und neben den direkt-musikalischen Momenten spielten bei der musikalischen Sozialisation immer auch außermusikalische Traditionen des Musikmachens, der Musikvermittlung, der Einbindung von Musik ins gesellschaftliche und Gemeindeleben eine wichtige Rolle. In den letzten Jahren nun finden sich im zeitgenössischen Jazz einige Musiker, die sich mit mittelalterlicher europäischer Musik auseinandersetzen – teils in Zusammenarbeit mit Ensembles, die sich auf die Interpretation solcher Musik spezialisiert haben, teils in ganz eigenen stil- und zeitübergreifenden Projekten.

2. Parallelen zwischen Jazz und mittelalterlicher Musik

Es wäre vermessen, an dieser Stelle konkrete Bezüge zwischen Jazz und mittelalterlicher Musik postulieren zu wollen. Doch gibt es zumindest im Ansatz Entwicklungsparallelen, die weniger im Musikalischen selbst als vielmehr im Umgang mit der Musik liegen, in der Musikvermittlung, der Tradition und Geschichtlichkeit. Frühe Mehrstimmigkeit und Jazz nämlich haben eines gemein: Sie entstanden zu einer Zeit, als sich Dokumentations- und Überlieferungsmethoden der Musik änderten. Im einen Fall ist dies die exaktere und damit auf verschiedenen Ebenen besser nachvollziehbare Notation, im anderen Fall der kommerzielle Erfolg und die technische Verbesserung der Schallaufzeichnung. Dass Vermittlungsmedien Kultur- und Kunst-Geschichte beeinflussen, ist nicht neu. Gerade die frühe Mehrstimmigkeit und der Jazz aber stehen an den Wegscheiden wichtiger Entwicklungen und wären ohne die Einführung und Durchsetzung neuer, ihrer speziellen Ästhetik angemessener Aufzeichnungsmethoden nicht so erfolgreich, nicht so einflussreich gewesen, als wie sie sich mittlerweile erwiesen haben. 

Eine zweite Parallele hängt eng mit der ersten zusammen. Mit der Aufzeichnung mehrstimmiger Kompositionen trat genauso wie mit den ersten Schallplattenaufnahmen der kreative Künstler als Individuum in den Vordergrund, wurde die Musik, die zuvor Allgemeingut war, deren Ursprung nicht bei einzelnen Personen, sondern in langen, weit zurückliegenden Traditionen lag, zu einer Kunst, der einzelne Komponisten oder Musiker im Hier und Jetzt ihren Stempel aufdrückten. Leonin und Perotin sind damit in der Personalisierung der Musik vergleichbar mit Sidney Bechet und Louis Armstrong: Sie sind Urheber einer Musik, deren Wurzeln, Regeln und Gesetze weit in der Vergangenheit liegen, der sie aber durch eigene Kreativität individuelle Seiten abgewinnen, so dass die Ergebnisse ihrerseits für die Zukunft stilbildend sind.[1]

Die Geschichte des Jazz wäre ohne das Medium der Schallplatte genauso anders verlaufen wie die Geschichte der westlichen Musik ohne die Entwicklung einer exakten Notation. Auf den grundlegenden, diese Parallelen sogleich relativierenden Unterschied sei allerdings sofort verwiesen: Die Entwicklung der Notation im Mittelalter folgte dem Bedarf einer komplexer werdenden und eine genauere Notation erfordernden Musiktheorie; der Jazz nutzte ein gleichzeitiges, aber von seiner Entwicklung im Prinzip unabhängiges Medium.

Lassen wir uns dennoch auf einen Vergleich ein: Die Entwicklung der Musikpraxis im Mittelalter erforderte also eine exaktere Notation. Diese wiederum veränderte die Musikgeschichte, weil sie ihre Überlieferungstraditionen veränderte. Sie veränderte die Musikgeschichte, weil beispielhafte „Werke“ nun nicht mehr nur in Legenden lebten, sondern immer genauer nachvollziehbar, wiederholbar, für die Lehre beispielhaft wurden und zum konkreten Vergleich herangezogen werden konnten: sowohl im Hören als auch und vor allem im Lesen. Ähnliches gilt für den Jazz. Erst durch die Einführung der Schallplatte ergab sich für Musiker wie Hörer die Möglichkeit, frühere Stufen seiner Geschichte nachzuvollziehen, zu vergleichen, ja sogar zu notieren. 

Die Geschichte der westlichen Musik führt mit Hilfe der exakten Notation hin zur Kunst- und Werkästhetik, in deren theoretischer Rezeption das Medium – das Notenbild – oft mehr gilt als die Sache selbst, nämlich die klingende Musik. Die Geschichte des Jazz produziert ganz ähnlich ab Mitte der 20er Jahre Aufnahmen, die als „Meisterwerke“ angesehen werden und fortan als stilistischer Maßstab gelten[2].

3. Mittelalterlicher „Third Stream“: Jan Garbarek & Hilliard Ensemble, Orlando Consort & Perfect Houseplant

Als die Plattenfirma ECM 1993 die CD Officium mit Jan Garbarek und dem Hilliard Ensemble herausbrachte, war die Kritik begeistert. Zu ungewöhnlich schien das Projekt, zu disparat die musikalischen Welten, die da aufeinandertrafen: die kunstvoll geformte, für moderne Ohren dennoch irgendwie exotisch klingende Mehrstimmigkeit des Mittelalters in der Interpretation des Hilliard Ensembles und die afro-amerikanischen Musiziertraditionen verpflichteten Saxophonimprovisationen des norwegischen Jazzstars. Jazzer waren so etwas gewohnt, für sie war das neueste Projekt Jan Garbareks nur bedingt eine Überraschung: Der europäische Jazz hatte sich seit den 60er Jahren diversesten Formen für moderne Ohren „exotischer“ Musiktraditionen angenommen. Ob baskische Volkstänze, italienische Banda, indische Ragas, Schweizer Jodelrufe, sibirischer Obertongesang… alle möglichen, zum Teil uralten Genres volksverbundener Musik fanden ihren Widerhall in der Arbeit zeitgenössischer Jazz-Instrumentalisten.

Viele Jazzmusiker beschäftigten sich mit volksverbundenen Genres dabei nicht nur, weil sie darin ihre eigene Identität gespiegelt sahen oder weil sie sich von fremden Kulturen beflügeln lassen wollten, sondern aus einer Faszination mit jahrhundertealten, meist oral überlieferten und zum Teil noch heute lebendigen Traditionen. Auch Jan Garbarek hatte in seiner Karriere vielfach an solchen Experimenten teilgehabt: in der Verwendung der Windharfe („Dis“, ECM 1983 vom Dezember 1976), in Improvisationen über norwegische Volksmusik oder, ganz generell, in jener Art „nordischem Ton“, der im 19. Jahrhundert für einen Teil der skandinavischen Kompositionsentwicklung postuliert wurde und den man – allerdings auf ganz anderer Ebene – auch im Sound des norwegischen Tenorsaxophonisten wiederzufinden meint.[3]

Jan Garbarek + Hilliard Ensemble: Officium (1993)

Die CD Officium[4] von Jan Garbarek und dem Hilliard Ensemble entsprach der Offenheit beider Partner, neue Wege einzuschlagen: Das Hilliard Ensemble war keineswegs nur für seine Interpretationen mittelalterlicher Vokalmusik berühmt.[5] Ihm wurden auch von zeitgenössischen Komponisten Werke auf den Leib geschrieben. Jan Garbarek wiederum hatte sich seit den frühen 70er Jahren intensiv mit Grenzbereichen des Jazz auseinandergesetzt, mit norwegischer Volksmusik genauso wie mit Kirchenmusik. Für die Realisation des Projekts war es durchaus förderlich, dass sowohl Hilliard als auch Garbarek bei der Plattenfirma ECM unter Vertrag standen. Tatsächlich ist ECM’s Produzent Manfred Eicher entscheidend für die Idee der CD mitverantwortlich. Er hatte den Anstoß mit der Bemerkung gegeben, er könne sich gut vorstellen, dass sich Jan Garbareks Saxophon ins Stimmgerüst von Perotins „Beata viscera“ weben lasse. Officium wurde im Mai 1993 im österreichischen Kloster St. Gerold aufgenommen. Die Mitglieder des Hilliard Ensemble erklären verschmitzt: „We’re singing various medieval and renaissance numbers, and Jan’s adding the sax parts that the composers didn’t get around to writing at the time.“[6]

Die Auseinandersetzung der beteiligten Musiker mit der mittelalterlichen Tradition geschah in Officium auf drei Ebenen: „a notional pre-Gregorian chant, experimenting with ideas that might have been current before things were standardised (…); early polyphony, where it was possible to have many versions of the same piece; and renaissance polyphony that might provide chordal structures familiar to a jazz musician.“[7] Ausgangspunkt des Albums waren also konkrete Kompositionen, Ausgangspunkt war auch – jedenfalls von Seiten der Hilliard-Mitglieder – eine Art Werk- oder zumindest Genre-Treue: das Experimentieren mit Ideen, die vielleicht vor einer Standardisierung des Gregorianischen Repertoires existiert haben könnten; die Benutzung früher Polyphonie, in der schon ursprünglich die Möglichkeit bestanden hatte, ein Stück in mehreren Versionen erklingen zu lassen; die Verwendung harmonischer Gerüste, die als Changes für Jazz-Improvisationen umgedeutet werden konnten. Die Experimentierfreudigkeit der Hilliard-Mitglieder kam dem Projekt zugute: Ensembles mittelalterlicher Musik müssen sich grundsätzlich mit aufführungspraktischen Problemen auseinandersetzen, die Quellen hinterfragen, dabei letztlich aber doch immer sehr persönliche Entscheidungen über Artikulation, Rhythmik, Tempi etc. treffen, da auch die zeitgenössischen Musiktraktate, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in diesen Bereichen kaum konkrete Hinweise geben können. 

Orlando Consort + Perfect Houseplants: Extempore (1997)

Im Juni 1997 ging das Vokalensemble Orlando Consort mit Jazzmusikern ins Studio. Das gemeinsame Projekt war unabhängig von und bereits vor dem Officium-Album geplant worden. Ihre Zusammenarbeit mit dem Jazzquartett Perfect Houseplant mischt die Welten mittelalterlicher Vokalmusik und afro-amerikanischer Improvisation allerdings auf ganz andere Art und Weise. Auf der CD Extempore[8] tritt nicht wie in Officium ein Saxophonist quasi als fünfter „Sänger“ zum Vokalquartett, sondern steht den Sängern ein mit Saxophon, Klavier, Kontrabass und Schlagzeug konventionell besetztes Jazzquartett gegenüber. Auf ihrer Internet-Seite erklärt das Orlando Consort: „This music mainly explores, develops and improvises around and upon C.12th and C.13th music. Based on the premise that the original performers were all improvisers and that the links between contemporary and original singers have all but eroded, this project aims to recover a new spirit of authenticity in the foregrounding of improvisation and re-composition.“[9] Mittelalterlicher Ausgangspunkt sind einstimmige Hymnen („Entering and Leaving“), frühe Notre-Dame-Monophonie („South Wind“) oder Montagen französischer Conductus („Preceding“). In „South Wind“ beginnt Saxophonist Mark Lockhart mit dem straightgespielten Thema. Die solistische Tenorstimme singt daraufhin die erste Textstrophe über zurückhaltend-jazziger Begleitung. In der zweiten Strophe kommt das jazzig intonierte Sopransaxophon im Unisono hinzu. Ein swingendes Klaviersolo führt den Hörer in die Welt des modernen Mainstreams, bevor eine Themenreprise das Stück beschließt. „St. Martial“ besitzt begrenzt rhythmisch-improvisatorische Momente bereits im Vokalthema. Hier wechseln sich zweistimmige Gesangspartien und Bariton-Saxophon-Duette ab; darunter legen Perkussion und Kontrabass eine rhythmisch intensive Begleitung. In „Modus II, III, IV, VI“ und „Quasi“ wagen sich auch die Sänger an eine Improvisation, die allerdings den modalen und rhythmischen Prinzipien mittelalterlicher Musiktheorie mehr entspricht als den Regeln des Jazz. Das lyrische „Sanctus Fontorum“ dagegen wirkt in der Überlagerung der Vokalstimmen durch die Instrumentalisten bald wie eine originäre Jazzballade.

Trotz der verschiedenen stilistischen Herkunft der beteiligten Ensembles klingt Extempore doch wie aus einem Guss. Wie bei Garbarek aber – und übrigens auch wie bei frühen Beispielen des Third Stream aus den späten 50er und frühen 60er Jahren – stehen sich die Welten zwar versöhnlich, aber doch immer klar erkennbar als unterschiedliche musikalische Traditionen gegenüber. Für einen anderen Ansatz steht Michael Riessler. In seinen Projekten seit den frühen 90er Jahren nähert sich der Klarinettist und Komponist diversen Traditionslinien europäischer Musik mit dem Ziel, aus den Wurzeln der europäischen Kunst- und Volksmusik eine neue Musik zu schaffen, die auf spielerische Weise Komposition und Improvisation miteinander verbindet.[10]

4. Folklore imaginaire und imaginäres Mittelalter: Michael Riessler

Michael Riessler gehört zu den Musikern der jüngeren Generation, die – länderübergreifend – eine Vermählung ihrer musikalischen Identitäten versuchen: als Jazzmusiker und Europäer. Als der europäische Jazz in den 60er Jahren begann, ein eigenes, von den Entwicklungen in den USA unterscheidbares Gesicht zu entwickeln, stellte gerade dieses unterscheidbare Moment sich schnell in Bezug auf die individuellen, persönlichen und nationalen Musikkulturen und Musiktraditionen dar. Verkürzt gesagt: Im Saxophon-, Klarinetten- und Akkordeonspiel Michel Portals schwang genauso viel französische Volksmusiktradition mit wie im Trompetenspiel Enrico Ravas italienische Sanglichkeit. Anders als in romanischen und osteuropäischen Ländern fanden westdeutsche Musiker ihre Identität oft genug höchstens in der Kompositionstradition ihres Landes. Die Auseinandersetzung mit Volksmusik war deutschen Musikern nach den Bemühungen des Dritten Reiches, jede Art von „Volksbräuchen“ für seine Zwecke zu missbrauchen, schwer bis unmöglich geworden. Sie beschäftigten sich stattdessen intensiv mit Komposition aus dem Bereich der Neuen Musik – manchmal vielleicht auch nur deshalb, weil Komponisten Neuer Musik anfingen, die Klangfarben improvisierender Jazzmusiker für ihre Werke zu nutzen. 

Michael Riessler ist im Leben wie in der Musik französischen und deutschen Traditionen verbunden. Er lebt zwischen Köln und Paris, arbeitet in der zeitgenössischen E-Musik wie im Jazz, ist Dozent der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik genauso wie Musiker beim Darmstädter Jazzforum. Daneben steht Riessler auch in einer sehr französischen Traditionslinie, die sich in der Musik der ARFI (der Association à la recherche d’un folklore imaginaire) am deutlichsten darstellt: einer bewussten Auseinandersetzung mit verschiedensten nationalen (oder folkloristischen) Traditionen, die allerdings weniger „benützt“ werden als vielmehr der Inspiration für die eigene improvisatorische Arbeit dienen sollen. Das Konzept der „folklore imaginaire“ ist grundlegend für das Verständnis der Projekte, in denen Michael Riesslers sich neben vielen anderen Genres auch der mittelalterlichen Musik nähert, und soll daher in einem Exkurs näher vorgestellt werden. 

Exkurs: ARFI und die folklore imaginaire

Französische Musiker wie Michel Portal, François Tusques, Bernard Lubat, Henri Texier und andere spielten immer wieder mit den folkloristischen Traditionen der Bretagne, der Provence oder anderer Gegenden ihres Landes. Instrumente wie Akkordeon und Klarinette spielten im französischen Jazz eine wichtigere Rolle als sonstwo in Europa, was vor allem darin begründet liegen mag, dass französische Musiker sich besonders früh ihrer nationalen musikalischen Identität bewusst wurden. Vielleicht lässt sich diese Tatsache durch die besondere Situation Frankreichs als eines kulturellen Zentralstaats erklären, dessen Kulturzentrum Paris es den Nebenzentren schwer machte, national wahrgenommene Identitäten zu entwickeln. Vielleicht hat die häufige Verwendung einer nationalen Folklore auch mit der Tatsache zu tun, dass der moderne Jazz in Frankreich mehr als in anderen europäischen Ländern in erster Linie eine Musik der Intellektuellen und damit auch eine politische Musik war. Französische Musiker jedenfalls verstanden den Jazz spätestens ab den 60er Jahren nicht nur als eine spannende, moderne amerikanische Musik, sondern sahen in ihm darüber hinaus auch die Möglichkeit, ihre eigene Identität auszudrücken, eigene Spieltraditionen einzubringen.

Die ARFI gründete sich Mitte der 70er Jahre in Lyon als Zusammenschluss mehrerer Musiker, die zuvor vor allem in zwei Bands aktiv waren: dem Free Jazz Workshop oder Workshop de Lyon sowie der Marvelous Band. Zum Kern dieser Szene zählten Bassist Jean Bolcano, Saxophonist Maurice Merle, Trompeter Jean Mereu, Schlagzeuger Christian Rollet, Pianist Patrick Vollat, Klarinettist Louis Sclavis – insgesamt etwa fünfzehn Musiker. Die ARFI war damit eine Musikerinitiative, wie sie sich zur selben Zeit auch anderswo in Europa gründeten. Ihr Ziel war das Ziel aller Musikerinitiativen: gemeinsamer Erfahrungsaustausch, das Schaffen von Spielmöglichkeiten und neuen Auftrittsorten, die Entwicklung von Unterrichtsprogrammen etc. Ekkehard Jost zitiert in seinem Buch Europas Jazz eine programmatische Verlautbarung der ARFI: „Die Improvisation ist die Tradition einer spielerischen Organisation der Klänge: ein Instrument spielen; mit dem Instrument spielen; mit der Erinnerung an Klänge spielen, die im Augenblick zuvor produziert werden; mit anderen Musikern spielen, in einer komplexen Verbindung mit dem Hörer, dem Zuschauer; mit der Stimme und mit dem Körper spielen; emotionale Zusammenhänge herstellen; eine neue Folklore schaffen – all dies sind die Entwicklungsstufen der musikalischen Improvisation. Das Spiel ist der Garant für die Vertrautheit mit der Musik, für die Unmittelbarkeit der Aktionen und für die gegenseitige Nähe.“[11] Wichtigste Vokabel in diesem Programm ist das Wort „spielen“, daneben wird vor allem das Moment der musikalischen Kommunikation beschrieben – zwischen Musiker und Musiker, zwischen Musiker und Publikum – sowie die Reaktion auf Vorhergegangenes, im weitesten Sinne also auf Tradition. Mit ihrer „imaginären Folklore“ hoffte die ARFI, eine vertraute Kommunikation mit dem Hörer schaffen zu können, einen „emotionalen Zusammenhang“. 

Nach außen wurde die ARFI vor allem durch den Workshop de Lyon vertreten, eine seit 1967 bestehende Quartett- bis Quintett-Besetzung. Ursprünglich hatte der Workshop de Lyon sich Free Jazz Workshop genannt. Ein programmatischer Text erklärt das Konzept: 

Free: libre. Les musiques de l’homme sont innombrables, mais bien peu sont actuellement libres. Une musique libre est une musique qui a chaque instant crée et invente sa propre réalité.

Jazz: Langage musical issu du peuple noir amÉricain et devenu universel. Musique chaude, sensuelle, musique de la vie.

Workshop: Atelier. La création musicale nÉcessite l’étroite connection entre la vision du monde et le travail. Particulier de l’instrumentiste

Le Free Jazz Workshop se particularise en ce sens que sa musique appartient à la tradition chaude, sensuelle et irrationelle du jazz. Plus que la force individuelle de ses 4 composants, il faut retenir l’Énergie collective du groupe, est-ce pour ces raisons que le F.J.W. arrive a rallier les publics les plus divers?[12]

In der weiteren Beschreibung der Gruppe und ihrer Mitglieder finden sich Begriffe wie „recherche“, „collectif“, „experience musicale“, mit denen die verschiedenen Punkte der zitierten musikalischen Eigencharakteristik unterstrichen werden: Suche = Experiment; kollektives Zusammenspiel = Kommunikation; musikalische Erfahrung = musikalische Tradition. 

Der Begriff „folklore imaginaire“ – so viel wird vielleicht deutlich – ist nicht so sehr Beschreibung als vielmehr Hinterfragen ebendieses Terminus‘. Man analysiert, was Folklore ausmacht – Kommunikation, gemeinsame Erfahrung, gemeinsame Traditionsbezüge –, und formt nach diesen Kategorien eine eigene, eine neue, aber eine nicht wirklich reale „Folklore“: eine imaginäre Folklore, die sich nicht etwa auf jahrhundertalte Traditionen bezieht, sondern auf die vielleicht gerade eben erst gehörte, gemeinsam gemachte musikalische Erfahrung. Wir haben es also mit einer eher philosophischen Auffassung des Begriffs zu tun. Und wir sollten bei allen Erklärungen den Humor nicht vergessen, der gerade im französischen Jazz seit den 60er Jahren immer eine wichtige Rolle spielte. Surrealismus war und ist in Frankreich nach wie vor ein wichtiges Mittel musikalischer Kommunikation, und auch die Theorie der „folklore imaginaire“ ist nur zu verstehen, wenn man neben dem musikalischen Ernst auch das Augenzwinkern der beteiligten Musiker bemerkt.

Der Workshop de Lyon bezog sich nirgends direkt auf die Anfänge der europäischen Kunst- und Volksmusik, so wie Michael Riessler dies in den 90er Jahren tat. Aber insbesondere in Kenntnis der späteren Aufnahmen Riesslers kommt man um die Feststellung von Parallelen schwer herum. 

Workshop de Lyon: La chasse de Shirah Sharibad (1975)

Ekkehard Jost konstatiert in der Musik des Workshop de Lyon zwei thematische Typen: melodisch orientierte (selten kantable) Themen sowie zirkuläre Themen, deren Entwicklung nicht so sehr aus der melodischen Veränderung als vielmehr aus der Änderung im Zusammenklang entsteht. Nehmen wir als Beispiel für die Musik des Workshop das Stück „Telie“[13], eingespielt im September 1975: Das zweiteilige Stück besteht im ersten Teil aus einer durchgehenden arco-Bassbegleitung mit darübergelegten improvisierten Saxophonpartien, im zweiten Teil aus einem hymnenhaften, sich dynamisch steigernden Thema über teils chromatisch, teils diatonisch ansteigender Begleitung mit improvisierten Zusammenklängen der beiden Saxophonisten. Das kommunikative Moment steht im Vordergrund vor der Zurschaustellung instrumentaler Virtuosität. Die Musik besitzt klare, durchsichtige Strukturen, die durch geänderte Spielhaltungen, neue Instrumentalkonstellationen gekennzeichnet sind. Der Ansatz ist vom kammermusikalisch-dialogischen Beginn über den gepressten, Schalmei-artigen Saxophonsound bis zu den improvisierten Zusammenklängen der beiden Saxophonisten vor allem klangorientiert.

Workshop de Lyon: Musique basalte (1981)

Im relativ kurzen „Moulin Noir“[14] vom Oktober 1981 folgt einem rahmenden, folkloristisch wirkenden Thema ein Klarinettensolo über rhythmisch irritierender, vollständig abgesprochener melodisch-rhythmischer Begleitung. Das Klarinettensolo scheint genauso Elemente aus Klezmer-Musik zu enthalten wie aus einer unbestimmten regionalen Volksmusik. Im „Chant Bien Fatal“[15], ebenfalls vom Oktober 1981, wird das sehr sangliche, deutlich strukturierte Thema vom Saxophon über gestrichenem Bass vorgestellt. Hier gibt vor allem die Parallelführung von Klarinette und gestrichenem Kontrabass dem Sound etwas seltsam Folkloristisches. Nach der Themenexposition steht in einer Art Klangimprovisation das Zusammenspiel im Vordergrund. Die relativ kurzen Stücke der gesamten LP Musique Basalt stellen nur selten einzelne Solisten in den Vordergrund. Selbst in freiesten Improvisationspassagen bewirken die deutlichen Reaktionen der Musiker aufeinander, bewirkt die Durchhörbarkeit der musikalischen Strukturen eine leichte Verfolgbarkeit des musikalischen Ablaufs. Ausgeprägt wilde Kollektivimprovisationen wie in „Trois pour Deux“[16] sind da die Ausnahme.

Aus dem Kreis der ARFI stammen einige Musiker, die heute zu den gefragtesten Jazzern Frankreichs gehören. An erster Stelle ist der Klarinettist Louis Sclavis zu nennen. Sein Trio de Clarinettes gehört zu den gefeierten kammermusikalischen Ensembles des zeitgenössischen Jazz. Sclavis machte sich für das Trio wie für andere seiner Projekte die Erfahrungen der ARFI zunutze: Auch in seiner Musik tritt die immer vorhandene und immer auch gezeigte Virtuosität der einzelnen Musiker hinter die kollektive Erfahrung, das kollektive Zusammenspiel zurück.

Michael Riessler lernte die Idee einer „folklore imaginaire“ 1978 kennen, als er Mitglied des Pariser Ensembles Musique Vivante wurde, dessen Musiker auch in der Welt des Jazz und der improvisierten Musik daheim waren. Von 1989 bis 1991 war Riessler Mitglied des französischen Orchestre National de Jazz, das damals vom Gitarristen Claude Barthelemy geleitet wurde. Seit 1991 macht Riessler mit eigenen Projekten von sich reden, an denen fast immer auch französische Musiker beteiligt sind: der Drehleierspieler Valentin Clastrier, der Tubaspieler Michel Godard, der Akkordeonist Jean-Louis Matinier, der Kontrabassist Renaud Garcia-Fons. 

Riesslers Bezug aufs Mittelalter hat vor allem drei Säulen: 

  1. die Benutzung alter, zum Teil mittelalterlicher, zum Teil an mittelalterlichen Vorbildern sich orientierender Instrumente, wie sie in heutiger Musik kaum Verwendung finden – Drehleier, Tambourin, Sackpfeife;
  2. die Verwendung mittelalterlicher musikalischer topoi (v.a. in Melodik und Rhythmik) oder Themen – nie allzu wortgetreu, eher interpretierend;
  3. der Bezug auf ein Philosophie- und Lebensverständnis, bei dem Experiment und der Aufbruch zu Neuem im Vordergrund steht.[17]

Riesslers Bezug aufs Mittelalter ist dabei weit weniger klar, als es die Besetzung oder programmatische Plattentexte vielleicht erwarten ließen. Allerdings ist natürlich auch die Dokumentationslage mittelalterlicher Instrumentalmusik weitaus schlechter als die zur Vokalmusik. Im Covertext zu Héloise, einer Auftragskomposition für das Donaueschinger Musikfestival 1992, merkt Riessler an: „Il s’agit d’un projet de ‚jazz‘ pour lequel le principe de l’improvisation ne se limite pas uniquement au thème et à l’harmonie mais intègre Également, et tout particulièrement, des styles historiques de la tradition musicale européenne remontant au Moyen-Age: un Moyen-Age dans lequel, par exemple, des influences arabes parvenaient à l’Europe et dans lequel dominait une complicité harmonieuse entre le jeu modal et la technique de basse générale.“[18]

Michael Riessler: Tentations d’Abélard (1995)

In den CDs Tentations d’Abélar[19] und Héloise[20] spielen Bezüge auf mittelalterliche Musik auf verschiedenen Ebenen eine Rolle. Da ist zum einen ganz vordergründig der Bezug im Titel, im Programm der jeweiligen Kompositionen. Die Stücke in Héloise beispielsweise heißen „Wilhelm von Champeaux“, „Lais“, „Quanta qualia“, jene in den Tentations d’Abélard „Sequentiae“, „St. Denis“, „Die Horen des Astrolabius“ oder „Cantus“ und beziehen sich sämtlich auf die bekannte Liebesgeschichte zwischen Abélard und Héloise. Da ist zum zweiten die Instrumentation mit Drehleier, Serpent und Tabourin, aber auch mit Oud, Akkordeon, Harfe und Zymbalon – also eine Vermischung mittelalterlicher Instrumente mit solchen aus unterschiedlichen europäisch-arabischen Musikkreisen. Da sind zum Dritten innermusikalische Verweise, die sich teils aus klanglichen, teils aus harmonischen, rhythmischen oder melodischen Klischees ergeben. Die Bezeichnung „Klischee“ ist dabei nur eine Umschreibung dessen, was Riessler selbst als „Spuren“ bezeichnet, die er dem Hörer anbiete, um ihn in bestimmte musikalische Welten zu führen. In den Abélard– und Héloise-Suiten bleiben die einzelnen Stücke zumeist in einem Idiom. Riessler schafft Vermittlungen zwischen den meisten Kontrasten, selbst dort, wo die Sätze der Komposition ohne Pause ineinander übergehen. 

Michael Riessler: Héloise (1993)

Die Komposition „Und“ aus Héloise beginnt mit einem jazz-gemäß intonierten Kontrabass-Ostinato von Renaud Garcia-Fons. Darüber folgt ein schnelles, fusion-artiges Thema, unisono gespielt von Tuba und Bassklarinette. Das Tuba-Solo über einem neuen, rhythmisch intensiven Ostinato von Akkordeon, Bassklarinette, Tambourin und Drehleier zentriert sich auf Improvisationen zu sich abwechselnden Klangflächen über Des-Dur und E-Dur. Eine darauffolgende polyphone Partie der Melodieinstrumente wird von einem balkanisch anmutenden Zymbalonteil abgelöst, über den sich abschließend nochmals fusion-artige Unisono-Phrasen von Bassklarinette und Tuba drängen. 

„Lais“ aus Héloise beginnt mit einem scheinbar mittelalterlichen Troubadour-Thema, vorgetragen im imitativen Dialog von Drehleier und den restlichen Melodieinstrumenten. Der Mittelteil enthält ein virtuoses, über weite Strecken in Zirkularatmung geblasenes Klarinettensolo über einer orgelpunkt-artigen Begleitung von Bass (Akzente jeweils auf den Zählzeiten 1, 4 und 3 zweier aufeinanderfolgender Takte), Zymbalon und Akkordeon. Ein leicht variiertes Themenstatement schließt dieses Klarinettenfeature ab.

„Quanta qualia“ aus Héloise ist ein ausgesprochen original klingendes klagendes Lied. Das (d-)dorische Thema wird von der Serpent zur gitarrenartig gespielten Oud und einem Bass-Orgelpunkt vorgetragen. Serpent und Oud stimmen ein zweites Thema an, das in einen imitativen Dialog verschiedener Instrumente übergeht. Das Thema wird schneller, dabei ein wenig jazziger intoniert und plötzlich durch eine dudelsackartige Improvisation der Drehleier über rhythmisch intensivem Vollklang von Bass und Perkussion abgelöst, die ihrerseits die Grundlage für eine hymnisch-langsame Serpent-Melodie abgibt. Eine Reprise des klagenden Anfangsthemas beschließt die Aufnahme.

Michael Riessler: Honig und Asche (1997)

In der Auftragskomposition für die Musik-Biennale Berlin 1997 Honig und Asche (Melisande = miel et cendre) arbeitet Rießler noch deutlicher als in anderen seiner Kompositionen mit dem Moment der Ironie. Das Rießler-Ensemble setzt sich für diese Komposition aus doppelt besetzten Instrumentengruppen zusammen: zwei Trompeten, zwei Posaunen, zwei Holzbläser, zwei Streicher, zwei Perkussionisten, Akkordeon, Bass und vor allem: zwei Sängerinnen. 

Mit dem Einsatz der Stimmen gelingt Riessler die Botschaft noch klarer: Zitate oder auch Annäherungen an Zitate sind selten ernst zu nehmen. Zur Erklärung: Die gesamte Komposition besteht aus Texten unterschiedlichster Quellen. Riessler selbst nennt: Raymond Quenneau, Raymond Federman, Oskar Pastior, Friedrich Achleitner und das Langenscheidt Handwörterbuch, Schulausgabe.[21] Da gibt es einen deklamierten Text in „zungen“, in dem die Sängerin die Probleme des Komponisten beim Niederschreiben seiner Komposition vorträgt. Im emotional äußerst intensiv gehaltenen „piccola cosmogonia portabile“ werden Worte in kürzeste Silben gehackt, die dann das Spiel des gesamten Ensembles bestimmen: eine kurz-nervöse Atemlosigkeit über rockigen Rhythmen. „en“ beginnt mit simplen, von den Streichern vorgetragenen Akkorden, über denen die Sängerin leise summt und flüstert. Ihr Lied über einem Orgelpunkt und vielen harmonischen oder auch harmonisch irritierenden Haltetönen nutzt melismatische Wendungen, die – sicher auch im Zusammenspiel mit dem Hall der Aufnahme – durchaus Erinnerungen an mittelalterlich-sakrale Sologesänge aufkommen lassen. Aber Rießler selbst sieht solche Verweise nur als „gelegte Spuren“: „Was mich interessiert, ist Spuren legen; permanent jemanden in eine Richtung bringen und dann plötzlich… ah, es geht hier weiter!; nichts Vorhersehbares zu machen. Das ist der Sinn dieser Überlagerungen.“[22] Und so wandelt sich die Stimme am Ende vom melismatischen Schönklang zu einem schmerzlichen Krächzen. Im sich anschließenden „rem(us)“ gelangen wir auch auf der textlichen Ebene zurück in ein Schein-Mittelalter: ufa ufo buffo femur pouis fi fa rocco mea culpa nubis volvo croco pubis flavus tratus orbis pictus rubens tangens male rhombus male lambus davos bimbam omis taklan vale nono ecco novens bis koblenz wie abus bis rhodos im turnus nemesis mähne lautet der surreale Text, und im Duo der beiden Sängerinnen Lucilla Galeazzi und Elise Caron meint man die früheste Art einer dichten, über lange Strecken parallel verlaufenden Zweistimmigkeit durchzuhören. Riessler kontrastiert diese immerhin über drei Minuten durchgehaltene musikalische Welt mit bluesig-rockigen Bläserakzenten, die erst ein virtuoses Akkordeonsolo Jean-Louis Matiniers, dann ein jazzige Dämpfertechniken benutzendes Duett der beiden Posaunisten Yves Fabre und Michael Svoboda begleiten. Ähnlich stellt das Schlussstück „otang“ den Tango in den Mittelpunkt – deutlich hörbar in den Akkordeonpassagen. Doch auch hier werden verschiedene Stilebenen kombiniert: Die Sängerinnen haben kurze Jodelrufe auszustoßen und danach über lange Strecken lateinische Blumennamen aufzuzählen. Riessler: Es geht mir um den Inhalt des Wortes, aber nicht, um eine Geschichte damit zu machen, eine Art von Dramaturgie zu erzeugen. Ich will den Inhalt des einzelnen Wortes, des einzelnen Satzes nehmen, genau wie er ist, genau wie er klingt. Die Buchstaben sind dasselbe wie Noten.[23] Und wie mit Texten, so geht Riessler auch mit den Versatzstücken aus der Musikgeschichte um. Anders als bei John Zorn aber ist Riesslers Spiel mit den Traditionen nicht das einer musikalischen Collage. Die Versatzstücke seiner Musik sind allein schon durch die durchgehende Instrumentation miteinander verbunden. Das Tambourin Carlo Rizzis, die Nickelarpa Marco Ambrosinis oder in anderen Aufnahmen die Drehleier Valentin Clastiers sind klangliche Konstanten, die mal als Verweis auf Musikgeschichte verstanden werden können, mal vor allem des Sounds wegen eingesetzt werden oder einfach nur der Virtuosität ihrer Musiker wegen.

Michael Riessler: Poliritmia (1995)

Das Trio mit Carlo Rizzi und Valentin Clastrier ist hierfür das beste Beispiel. Rizzis erstaunliches Spiel auf dem Tambourin in Poliritmia[24] mag – übrigens auch in der Virtuosität seines Instrumentalumgangs – an das Klischee mittelalterlicher Jahrmarktstrommler erinnern. Und auch Riesslers Instrumentaltechnik besitzt ja neben aller Musikalität ein Moment des Circensischen: Wenn seine rasenden Wechselnotenpartien im Soloklarinettenstück „Zanza“[25] so schnell gespielt an Sackpfeifen erinnern, hat man den Eindruck, eine Melodie über mindestens zwei Bordunpfeifen zu hören. Ziel dieses Trios sei es, so Riessler im Plattentext, „aus den Wurzeln der europäischen Kunst- und Volksmusik eine neue Musik zu schaffen, die auf spielerische Weise Komposition und Improvisation miteinander verbindet.“[26] Die Betonungen dieses Satzes müssten fast auf jedes Wort gelegt werden: „Europa“, „Kunstmusik“, „Volksmusik“, „spielerisch“, „Komposition“ und „Improvisation“. Es ist kein großes Problem, diese einzelnen Termini unterschiedlichen Welten zuzuordnen, aus denen Riessler eben auch stammt: das Spielerische und die Improvisation dem Jazz, Kunstmusik und Komposition der zeitgenössischen (europäischen) Musik, die Volksmusik vielleicht einigen französischen und italienischen Volksmusiktraditionen, deren sich Riessler und seine Mitmusiker verbunden zeigen. Im selben Plattentext allerdings formuliert Riessler auch seine Abneigung gegen die klischeehafte Verwendung musikgeschichtlicher Versatzstücke: „Die Traditionslinien der italienischen Tarantella, der französischen Folklore, des neuen Jazz und der zeitgenössischen Musik dienen dabei nicht als oberflächliche oder nostalgische Klischees, sondern sie sind das Fundament, von dem aus neue Entdeckungen möglich werden: In jedem Moment solistisch und gleichzeitig in den Gesamtklang integriert; europäisch, indem die eigene Identität mit der der anderen kommuniziert.“[27] Aber die „Klischees“ bleiben eben doch Klischees – nur eben als Spuren, die der Komponist legen will, die auch vom Publikum erkannt werden sollen, die bewusst eingesetzt werden als Vokabeln einer gemeinsamen Musiksprache.

Michael Riesslers musikalische Rezeption mittelalterlicher Musik folgt in vielem dem Vorbild der „folklore imaginaire“, wie sie die ARFI in ihrer Musik vorgemacht hatte. Es bleibt müßig zu spekulieren, ob sich Riessler mittelalterlicher topoi in Ermangelung eines möglichen deutschen Folklorebezugs bedient habe – Riessler selbst ist viel zu sehr Europäer, als dass solche nationalstaatlichen Gedanken da eine große Rolle gespielt haben dürften. Riessler traf in seinen ganz unterschiedlichen musikalischen Unternehmungen auf virtuose Musiker, die gleich ihm an Aspekten der europäischen Musikgeschichte interessiert waren, die fernab der üblichen Konzertliteratur lag. Sie alle interessierten sich besonders für die experimentellen Seiten jener scheinbar so dunklen Epochen. Sie waren fasziniert von einer Musik, in der das Spielerische wenigstens im weltlichen Bereich den Vorrang vor dem Streng-Kompositorischen hatte, in dem die instrumentale Virtuosität nicht nur blenden, sondern auch Kontakt zum Publikum herstellen sollte. Die virtuose Technik, die Riessler und seine Mitmusiker in den verschiedenen Projekten in den Mittelpunkt stellen, ist musikalisch begründet, aber immer auch Schau, so wie die Musik auf mittelalterlichen Jahrmärkten kunstvoll war und zugleich der öffentlichen Schau diente. 

Zusammenfassung:

Probleme und Chancen einer Auseinandersetzung des zeitgenössischen Jazz mit mittelalterlicher Musik ähneln in vielem den Problemen und Chancen des Third Stream in den späten 50er und frühen 60er Jahren. Bei einer Begegnung von zeitgenössischer E-Musik und Jazz-Avantgarde waren für beide Bereiche Musiker vonnöten, die über die Grenzen des eigenen Genres hinwegzublicken bereit waren und die sich auf die Besonderheiten der jeweils anderen Seite einlassen konnten. Der Third Stream wurde eigentlich erst in den späten 70er und 80er Jahren zu einer ästhetisch befriedigenden Musik, als durch eine stilistisch breitere Musikausbildung Instrumentalisten gefördert wurden, die in mehr als einem Stilbereich zu Hause waren. Kompositionen von Anthony Braxton, Franz Koglmann oder Anthony Davis fordern Musiker, die ausgesprochen komplexe komponierte Parts perfekt realisieren können und zugleich exzellente Improvisatoren sind. Die Auseinandersetzung mit mittelalterlicher Musik scheint ähnliches zu verlangen. Die Mitglieder des Hilliard Ensemble und des Orlando Consort haben sich nicht nur theoretisch mit der Bedeutung der Improvisation in mittelalterlicher Musik befasst, sondern müssen auch ganz praktisch für die Realisierung ihres eigenen Repertoires aufführungstechnische Entscheidungen treffen, die weit über das Interpretieren klassischer Kompositionen hinausgehen.[28] In ihren Jazz-Projekten allerdings bleibt das Ergebnis vor allem eines der klanglichen Begegnung, nicht der musikalischen Vermittlung: Die Gruppe Perfect Houseplant und das Orlando Consort nehmen zwar immer wieder aufeinander Bezug, musizieren aber eigentlich jeweils in ihrer eigenen Welt. Das Resultat ist dabei durchaus spannend und keineswegs banal. Der Versuch einer auch innermusikalischen Vermittlung wird von vornherein kaum angegangen. Jan Garbarek und das Hilliard Ensemble gehen anders vor. Hier kommen die klanglichen Eigenheiten des Saxophonisten einer Vermittlung entgegen – Garbareks Partie setzt sich zwar durchaus disparat über den Vokalsatz, wirkt dennoch gleichsam fast wie eine fünfte Vokalstimme. Allein der Einsatz der Sänger aber bindet beide Projekte an die sakral-klanglichen Klischees eines Vokalensembles für frühe Musik. 

Michael Riessler scheint da musikalisch gleichsam vor den Dom zu treten, stellt das spielerische Moment in den Vordergrund. Er versucht die Übersetzung einer frühen europäischen Klangästhetik in die heutige Zeit. Die wichtigste Rolle spielt dabei in seinen Stücken der Vorrang der Improvisation. Riessler versteht die Auseinandersetzung mit alter Musik nicht als bloße Gegenüberstellung oder kritikloses Zitieren, sondern als stilistische Erweiterung seines musikalischen Vokabulars. Dieses wiederum besteht nicht nur aus mittelalterlichen Versatzstücken, sondern benutzt genauso Material aus der Neuen Musik, aus dem Jazz, aus der Folklore verschiedener Länder und Kontinente. Riesslers Besetzungswahl fällt meist auf Musiker, die sich kultureller Eigenheiten der Länder und Gegenden, denen sie entstammen, bewusst sind. Er baut auf die Meisterschaft seiner Mitmusiker, führt verwendete Klischees sofort vom reinen, durchaus auch witzigen Verweischarakter fort, um sie in ein größeres, im Höreindruck weit weniger als in der Beschreibung beliebig wirkendes Konzept einzubringen. Wo die Projekte Garbarek/Hilliard und Perfect Houseplant/Orlando Consort eher an frühe Experimente des Third Stream erinnern, bei denen sich die Welten bei aller Sympathie eben doch blockhaft gegenüberstanden, gelingt Riessler eine überzeugende Vermittlung, eine spannende Neudefinition alter Musizierpraktiken. Bei alledem beruft er sich übrigens durchaus bewusst auf grenzüberschreitende, wahrhaft „europäische“ Traditionen. 

Letztlich sind alle hier diskutierten Projekte von Seiten des Jazz her gesehen exotische Versuche, mit einem für Jazzmusiker neuen Repertoire zu arbeiten. Sie sind Resultat der in den 80er Jahren begonnenen ästhetischen Maxime des „anything goes“. Sie werden weder einen neuen Stil des Jazz bilden noch die Interpretation früher Musik revolutionieren. Sie können aber helfen, Ohren zu öffnen und die oft viel zu streng gezogenen Grenzlinien zwischen den musikalischen wie ästhetischen Idealen zu überbrücken. Und das ist in beiden Sparten keine geringe Leistung.


[1] Natürlich fand die Personifizierung im hohen Mittelalter durchaus auch in anderen Kunstsparten statt und ist damit nicht bloß, aber eben auch im Zusammenhang mit der Verschriftlichung zuvor oral tradierter Musik zu sehen.

[2] Als die ersten bedeutenden Jazzmusiker (Armstrong, Ellington) in den 30er Jahren nach Europa kamen, wurde Ihnen von den Fans erstaunt vorgehalten, dass ihre Soli ganz anders klängen als die Schallplatteneinspielungen, die man als Maßstab für ihren Stil vor Ohren hatte. Und selbst heute kann man noch ähnliche Reaktionen beobachten, wenn man uneingeweihte, nur mit der klassischen Notationstradition vertraute Musikhörer mit Jazzimprovisationen konfrontiert.

[3] Vgl. Heinrich W. Schwab: Das Lyrische Klavierstück und der nordische Ton, in: Friedhelm Krummacher und Heinrich W. Schwab (Hgg.): Gattung und Werk in der Musikgeschichte Norddeutschlands und Skandinaviens, Kassel 1982 (Bärenreiter), S. 136-153. Zu Garbareks Saxophon-Sound vgl. Tor Dybo: Jan Garbarek – Det åpne roms estetikk, Oslo 1996 (Pax)

[4] Jan Garbarek & Hilliard Ensemble: Officium; ECM New Series 1525

[5] Einer der Sänger des Hilliard Ensemble, John Potter, hat gerade erst ein eigenes Buch über die Gesangsstilistik diversester Musiktraditionen veröffentlicht. Vgl. John Potter: Vocal Authority. Singing Style and Ideology, Cambridge 1998 (Cambridge University Press)

[6] NN: Saxophones into Ploughshares, in: The Hilliard Ensemble (Newsletter), early 1994: 1

[7] NN: Editorial, in: The Hilliard Ensemble (Newsletter), Autumn 1994: 1

[8] Orlando Consort & Perfect Houseplant: Extempore; Linn CKD 076

[9] Zit. nach Internet-Homepage des Orlando Consort, geladen am 29. Juli 1998: http://ourworld.compuserve.com/homepages/Donald_Greig/WIZZF.htm. NOTE: Diese Website ist nicht mehr online, aber über die Wayback Machine abrufbar unter https://web.archive.org/web/20000915091535/http://ourworld.compuserve.com/homepages/Donald_Greig/WIZZF.htm (aufgerufen am 28. April 2024)

[10] Michael Riessler, im Plattentext zu Clastrier/Riessler/Rizzo: Palude; Wergo 8010-2

[11] Ekkehard Jost: Europas Jazz 1960-80, Frankfurt/Main 1987 (Fischer): 428

[12] Werbeblatt des Free Jazz Workshop aus den frühen 70er Jahren (im Archiv des Jazzinstituts Darmstadt).

Deutsche Übersetzung:

„Free: frei. Die Musiken der Menschen sind unzählig, doch nur wenige sind tatsächlich frei. Eine freie Musik ist eine Musik, die in jedem Moment ihre eigene Realität kreiert und erfindet.         

Jazz: musikalische Sprache der schwarzen Amerikaner und seither eine universelle Musiksprache. Eine warme, gefühlvolle Musik, Musik des Lebens.

Workshop: Atelier. Die musikalische Kreation braucht die Verbindung einer Weltvision mit der ganz spezifischen Arbeit des Instrumentalisten.              

Der Free Jazz Workshop hat sich in seiner Musik jener warmen, gefühlvollen und irrationellen Tradition des Jazz verschrieben. Zusätzlich zu der individuellen Kraft seiner vier Musiker benutzt der Workshop die kollektive Energie der Gruppe.“

[13] auf der LP Workshop de Lyon: La Chasse de Shirah Sharibad, Move 123 No. 8

[14] auf der LP Workshop de Lyon: Musique Basalt; Move WDL 005

[15] auf der LP Workshop de Lyon: Musique Basalt; Move WDL 005

[16] auf der LP Workshop de Lyon: Musique Basalt; Move WDL 005

[17] Der einzige inhaltliche Teil des Plattentextes zu seiner CD Tentations d’Abélard lautet: „Versuche und Versuchungen: Der Begriff des experimentum gehört für Pierre Abélard (1079-1142) nicht in den Bereich der Wissenschaft, sondern der Lebenspraxis. Zeit ist für Abélard nicht linear. So sind es Augenblicke, nicht historische Ereignisse, die körperliche Versuchungen und geistige Konflikte bestimmen.“ Plattentext zu Michael Riessler: Tentations d’Abélard, Wergo WER 8009-2 (1994)

[18] Michael Riessler: Plattentext zu Héloise, Wergo WER 8008-2 [1992]. Deutsche Übersetzung: „Es handelt sich um ein Jazzprojekt, bei dem das Prinzip der Improvisation sich nicht auf Thema und Harmonik beschränkt, sondern genauso die Behandlung historischer Stile und europäischer musikalischer Traditionen seit dem Mittelalter betrifft; einem Mittelalter, in dem arabische Einflüsse in Europa weitverbreitet waren und in dem zwischen dem modalen Spiel und der Generalbasstechnik eine harmonische Verbindung bestand.“

[19] Michael Riessler: Tentations d’Abélard, Wergo WER 8009-2

[20] Michael Riessler: Héloise, Wergo WER 8008-2

[21] Plattentext zu Michael Riessler: Honig und Asche, Enja ENJ-9303-2

[22] Zitiert nach Marcus Gammel: Honig und Asche. Uraufführung von Michael Riessler bei der Berliner Musik-Biennale, in: Jazzthetik, 11/6 (Jun.1997): 10

[23] Riessler bezieht sich bei dieser Aussage mit Sicherheit nicht auf die Musica enchiriadis, in der es dennoch gleich zu Beginn ganz ähnlich und doch natürlich genau von der anderen Seite kommend heißt: „Sicut vocis articulatae elementariae atque individuae partes sunt litterae, ex quibus compositae syllabae rusus componunt verba et nomina eaque perfectae orationis textum, sic canorae vocis phthongi, qui Latine dicuntur soni, origines sunt et totius musicae continentia in eorum ultimam resolutionem desinit.“ [So wie die elementarischen und unteilbaren Bestandteile der Sprechstimme die Buchstaben sind, aus denen sich die Silben zusammensetzen, die ihrerseits die Wörter und Namen bilden, so sind der Ausgangspunkt der Gesangsstimme die phthongi, die lateinisch soni heißen; und der Inhalt der gesamten Musiklehre mündet letztlich in deren Erklärung.] Zit. nach Hans Heinrich Eggebrecht: Die Mehrstimmigkeitslehre von ihren Anfängen bis zum 12. Jahrhundert, in: Frieder Zaminer (Hg.): Geschichte der Musiktheorie, Bd. 5: Die mittelalterliche Lehre von der Mehrstimmigkeit, Darmstadt 1984 (Wissenschaftliche Buchgesellschaft): 17

[24] Trio Clastrier – Riessler – Rizzo: Palude; Wergo WER 8010-2

[25] Trio Clastrier – Riessler – Rizzo: Palude; Wergo WER 8010-2

[26] Trio Clastrier – Riessler – Rizzo: Palude; Wergo WER 8010-2

[27] Trio Clastrier – Riessler – Rizzo: Palude; Wergo WER 8010-2

[28] Vgl. Brian Marley: The Archaeology of the Improvisers. Interpreting Early Music, in: Avant, 5 (Winter 1998): 36-38

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Essays

„Dann spielen wir, was Sie dirigieren!“

Ein Überblick über die Tradition von Komposition und Dirigat im Jazz mit ein paar speziellen Fragen an die Dirigenten und Komponisten Dieter Glawischnig und Mathias Rüegg

Dieser Beitrag erschien ursprünglich im von Alexander Drčar und Wolfgang Gratzer herausgegebenen Band Komponieren & Dirigieren. Doppelbegabungen als Thema der Interpretationsgeschichte (Freiburg 2017: Rombach Verlag): 257-286

Im Zentrum dieses Kapitels steht die Doppeltätigkeit der beiden österreichischen Pianisten, Komponisten und Bandleader Dieter Glawischnig und Mathias Rüegg. Glawischnig arbeitete von 1973 bis 2008 mit der NDR Bigband, die er von einem Unterhaltungs- in ein klares Jazzorchester überführte. Rüegg gründete 1977 das Vienna Art Orchestra, mit dem er bis 2010 mehr als 35 Produktionen vorlegte. Die Zusammenhänge zwischen Komposition und Dirigat in ihrer Arbeit mit den jeweiligen Ensembles lässt sich am besten anhand zweier Gespräche skizzieren, in denen Glawischnig und Rüegg auf konkrete Fragen Antwort geben. Um diese Antworten in den Jazzkontext einordnen zu können, kommen wir um einen ausführlichen Rückblick in die Jazzgeschichte nicht herum, der auf die unterschiedlichen Rollen des Dirigats im Jazz genauso einzugehen hat wie er terminologische Klarheit zu schaffen hat in Bezug auf Begriffe wie ›Improvisation‹, ›Komposition‹, ›Arrangement‹, und ›Dirigat‹.

Der Begriff der Improvisation ist in der europäischen Musikgeschichte seit der Klassik als eine künstlerische Größe weitgehend vernachlässigt wurde und vor allem durch den Jazz neu besetzt worden. Improvisation wird oft als ›tabula rasa‹ missverstanden, während sie wohl eher mit der freien Rede verglichen werden sollte, dem Entwickeln musikalischer Gedanken mithilfe von Vokabeln, Grammatik und Satzstrukturen. Im Jazz gibt es eine Bandbreite improvisatorischen Musizierens, die von Verzierung und Umspielung über die an harmonischen, melodischen oder rhythmischen Strukturen sich orientierenden Chorussoli bis hin zur mehr oder weniger freien Improvisation reicht, in der die Formgestalt sich aus der spontanen Kommunikation der Künstler ergibt. 

Es gibt jede Menge an Absprachen, die der Improvisation zugrunde liegen und die einen mehr oder weniger geordneten musikalischen Ablauf garantieren sollen. Die üblichste Absprache ist die des Chorusmodells, bei der Musiker sich an der harmonischen Struktur des zugrundeliegenden Themas orientieren, über die sie eine bestimmte (oder auch unbestimmte, spontan sich ergebende) Anzahl an Chorussen spielen, meist als improvisierte Soli, ab und an im Duo oder gar im Kollektiv, eventuell mit vorgeplanten Begleitungen im Arrangement oder auch mit spontan hinzugesetzten Begleitriffs. 

Die Grundlage, auf der das alles passiert und auf der sich der Improvisator, egal welchen Instruments, relativ frei von den Vorgaben lösen kann, ist in der Regel die Rhythmusgruppe, die mehr oder weniger klar die Struktur markiert, harmonische Wechsel betont, an die Form erinnert, und dem Solisten dabei die Möglichkeit gibt, gerade auch im Kontrast zur bekannten Melodik, Rhythmik, Harmonik, Form des interpretierten Themas Spannung aufzubauen und zu entwickeln. Absprachen können rigider sein, etwa, wenn es sich um Improvisation innerhalb eines Orchesterarrangements handelt, die Musik also zu einer vorab bestimmten Zeit weitergehen und die Spontaneität damit eingeschränkt werden muss. Es gibt Beispiele sogenannter ›simulierter Improvisation‹, bei der ein Komponist scheinbar improvisierte Partien komplett ausnotiert hat (André Hodeir, aber auch bereits Duke Ellington), und es gibt Beispiele dafür, dass auch im Orchesterkontext, der scheinbar striktere Vorgaben verlangt, eine gewisse Freiheit der Interpretation, auch der Länge von Improvisation möglich ist. Absprachen können auf der anderen Seite aber auch weit offener sein, indem sie etwa dramaturgische Verläufe andeuten oder Signale verabreden, zu denen der Verlauf des Stücks verändert werden soll etc. 

Solche Strukturen, innerhalb derer die Improvisation sich abspielt, fallen bereits in den Bereich der Komposition. Nichts anderes nämlich sind solche Absprachen als unterschiedlichste Arten von teils vorgeplanter, teils spontaner, teils von einem Künstler, teils von allen gemeinsam geplanter ›Komposition‹ des musikalischen Ablaufs mit mehr oder weniger Freiräumen zur improvisatorischen Veränderung eben dieser Planung. Hier erkennen wir bereits einen grundlegenden Unterschied des Verständnisses von ›Komposition‹ aus europäisch-westlicher zu jenem aus afro-amerikanischer Sichtweise. Im Westen ist der Terminus irgendwann in den letzten dreihundert Jahren zum Synonym für ›künstlerisches Werk‹ geworden, hat sich zu einem ästhetischen Wertmerkmal entwickelt, das einen Autor hat, den eigentlichen kreativ-schöpferischen Prozess umschreibt und zu einem für alle Zeiten festzustehen scheinende Gebilde geworden ist, das in Folge höchstens ›interpretiert‹, nicht aber in Frage gestellt wird. Solch eine Art von Komposition gibt es gewiss auch im Jazz; doch zumeist ist Komposition hier nur eine von mehreren Vorstufen zum kreativen Prozess. 

Komposition im Jazz kann das Themengebilde bezeichnen, das Ausgangspunkt einer Interpretation ist, also den 32-taktigen Song oder den 12-taktigen Blues einschließlich seiner melodischen, harmonischen und rhythmischen Struktur. Der Komponist eines solchen Themas ist in der Regel allerdings noch kein ›Jazzkomponist‹ – die meisten der Standards im Jazzrepertoire stammen von Musical- oder Filmkomponisten und wurden also für ganz andere Zwecke als die Jazzinterpretation erschaffen. Solche Themen stehen bestenfalls zu Beginn und zum Schluss der Interpretation, mehr oder weniger originalgetreu gespielt; die Harmonien unter den Themen bilden die Improvisationsgrundlage für die Solisten.

Zur ›Jazzkomposition‹ gehört ein weiteres: Der Jazzkomponist plant eine Struktur, den Ablauf eines Stücks, innerhalb dessen thematische Passagen genau wichtig sind wie solistische (und damit eben nicht komponierbare bzw. durch den Komponisten planbare) Freiräume. Er plant Kontraste harmonischer, klanglicher, rhythmischer oder metrischer Natur. Er kann Übergänge der festgelegten in die improvisierten Passagen und zurück planen. Er mag Begleitstrukturen für wichtig erachten, die auch in der Freiheit, die dem Solisten bei seinen Soli zusteht, sicherstellen, dass der Bezug zum Umgebenden gehalten wird. Der Jazzkomponist hat die Ausführung durch ein Ensemble im Sinn, weiß eben gerade um die nicht einzig auktoriale Rolle, die er dabei spielt, versucht eine Balance herzustellen zwischen seiner Vorstellung eines Klangergebnisses und der Freiheit, die er den Solisten zugesteht. Komponisten wie Jelly Roll Morton, Duke Ellington, Charles Mingus, Gil Evans und andere arbeiteten dabei durchaus mit konventionellen Mitteln, mit Notenarrangements und fixen Formteilen, die aufeinander bezogen waren. Im Extremfall kann Jazzkomposition aber auch weit freier geschehen. Grafische Notation etwa von Anthony Braxton, Komposition, die mit Zufallswerten arbeitet wie einige Stücke von John Zorn, Komposition, die einzig auf große formale Blöcke fixiert ist wie die Arbeit von Cecil Taylor – all das sind kompositorische Entscheidungen, die sich zum Teil erheblich von dem unterscheiden, was in der europäischen Musikgeschichtsschreibung unter kompositorischem Handwerk verstanden würde[1].

Eine dritte Kategorie neben Improvisation und Komposition ist das Arrangement. Auch hier gibt es terminologische Missverständnisse, die aus der Verankerung des Begriffs in der westeuropäischen Kunstmusik begründet liegen. Dort greift ein Arrangeur etwa ein, um ein ›Werk‹ für eine andere Besetzung umzuschreiben, um leichtere oder komplexere Fassungen eines Werkes zu schaffen. Im Jazz nimmt der Arrangeur ebenfalls bestehendes Material, etwa die Themen eines Standards oder des Blues, und schreibt um sie herum einen Verlauf, in dem thematische Passagen mit solistischen abwechseln. Der Arrangeur im Jazz hat also eher eine am oben beschriebenen Jazzkomponisten gemessene Aufgabe, anders als der Arrangeur in der europäischen Kunstmusik, den man nicht mit dem Komponisten vergleichen würde. Der Unterschied ist der Grad des kreativen Eingriffs. Der Jazzarrangeur stellt ähnlich wie der Jazzkomponist die Balance zwischen gelenktem Ensemble- und Solospiel in den Vordergrund. Er wird die Klangfarbe des Ergebnisses entscheidend mit prägen, gehört daher in Diskographien durchaus zu Recht mit in die Auflistung des Bandpersonals. 

Bleibt die vierte Kategorie, die für unser Thema wichtig ist: der Dirigent. Ein Dirigent ist in der klassischen Musik aus unterschiedlichen Gründen wichtig. Zum einen sind die aufzuführenden Werke zum Teil so komplex und für so große Ensembles geschrieben, dass es eines Koordinators braucht, der den ausführenden Musikern aus einer Art neutraler Hörposition heraus hilft, präzise Einsätze zu finden, die Dynamik auszubalancieren, auf rhythmische Facetten Acht zu geben und vieles mehr. Der Dirigent ist also Ergebnis sowohl immer größer werdender Ensembles als auch einer immer komplexer werdenden Kunst. 

Im Jazz sind die Ensembles meist übersichtlich. Ein Quartett oder ein Quintett kommt genauso gut wie jedes Streichquartett ohne einen Dirigenten aus. Und selbst eine Bigband benötigt in der Regel niemanden, der ihr die Einsätze gibt. Die Rollen sind hier klar zugewiesen: in jedem Instrumentalsatz gibt es einen Anführer, der die Saxophone, die Posaunen, die Trompeten im Griff hat, eventuell auch über den Satz hinaus Einsätze gibt, wenn es komplex wird und nötig ist. Ausnahmen bestätigen die Regel, aber selbst die meisten Bigbandleiter waren daneben eben auch Instrumentalisten in ihrer eigenen Band und hielten sich höchstens zu Beginn eines Stücks, oder wenn es wirklich mal sehr schwierig wurde, vor dem Ensemble auf. 

Natürlich gab daneben immer auch Bands, die dennoch auf einen Dirigenten zurückgriffen – aus unterschiedlichen Gründen. Paul Whiteman dirigierte sogar mit einem Stab; das allerdings war vor allem Show und dem Publikum geschuldet; auch wollte Whiteman schon in den 1920er Jahren den Jazz als eine ›Lady‹ präsentieren und zielte mit dem ›baton‹ auch auf das Bild des klassischen Dirigenten. Jelly Roll Morton und Cab Calloway ließen sich eher zu Showzwecken mit Taktstock ablichten. Duke Ellington und Count Basie gaben ihre Einsätze zumeist vom Klavier aus. 

Im Großen und Ganzen reicht die Bandbreite des Dirigierens im Jazz vom bloßen Mitwippen und Mitschnipsen eines Woody Herman bis hin zu den anfeuernden, das Orchester geradezu herausfordernden Rufen und heftigen Handzeichen eines Thad Jones. Immer wieder gab es komplexe Arrangements, für die Bands einen Dirigenten benötigten, um ihnen bei der korrekten Ausführung zu helfen, so etwa in Kompositionen des österreichischen Flügelhornisten Franz Koglmann. Doch ist dies die Ausnahme. 

Eine weitere Ausnahme soll nicht unerwähnt bleiben, weil sie das Dirigat mit dem Improvisator verbindet. Es ist die Technik der Conduction, die von verschiedenen Musikern als eine Art improvisierter Führung großer Ensembles entwickelt wurde, insbesondere vom amerikanischen Kornettisten Butch Morris, der ein eigenes Repertoire an Gesten und Zeichen entwickelte, um eine Band durch eine kollektive Improvisation zu leiten. 

Dirigenten sind auf jeden Fall die unhörbaren Musiker im Ensemble, da sie – zumindest in dieser Funktion – auf der Aufnahme in der Regel nicht zu hören sind. Tom Lords umfassende Diskographie verzeichnet in der letzten Ausgabe (Vol. 15, 2014)[2] in mehr als 217.000 gelisteten Sessions etwa 2.500 Aufnahmesitzungen, bei denen dezidiert ein Dirigent (conductor) angegeben wird. Oft handelt es sich hierbei um die Arrangeure, die etwa kompliziertere Stücke selbst einzählten (Gerry Mulligan, Gil Evans etc.), oft um große Begleitensembles etwa für Sängerinnen und Sänger (Dinah Washington, Sarah Vaughan), oft um sinfonische Ensembles oder Chöre, um die eine Jazzperformance verstärkt wurde. Diese statistische Zahl ist jedoch nur bedingt aussagefähig, da Dirigenten einerseits oft gar nicht angegeben werden, da es sich bei Lords Diskographie zum zweiten um eine bloße Zählung der Aufnahmesitzungen handelt (also nicht der einzelnen Dirigenten), und da zum dritten Dirigenten aus dem Orchester heraus (also beispielsweise Satzführer, die in komplexeren Stücken die Regie übernehmen) gar nicht aufgeführt sind. 

Betrachten wir einige konkrete Beispiele aus der Jazzgeschichte:

Count Basie wird in Diskographien nie als ›Dirigent‹ ausgewiesen. Tatsächlich hat er vom Klavier aus ein minimalistisches Konzept an Zeichen entwickelt, die er mit Händen, Kopf (und Blicken) sowie dem Instrument bedient. Oft kommuniziert er dabei mit Freddie Green, dem Gitarristen der Band, der wie eine Art Scharnier zwischen Basie und seinem Orchester wirkt; immer wieder auch mit dem Satzführer, dem ›straw boss‹; in der Band der 1950er und 1960er Jahre insbesondere dem Saxophonisten Marshall Royal, der in dieser Funktion bereits in Lionel Hamptons Band gedient hatte, in den 1970er Jahren ersetzt durch Bobby Plater. Handgesten Basies und deutliche Fingerzeige sind die üblichsten Zeichen, die er meist zu Beginn eines Stücks oder beim Schlusschorus nutzt, um den Einsatz des Orchesters einzuzählen. Kopfgesten erheischen die Aufmerksamkeit des Ensembles, ein scharfer Blick und ein kurzes Nicken geben dann den Einsatz, beispielsweise für eine geänderte rhythmische Faktur. Am häufigsten sind Basies ›Instrumentaldirigate‹, sehr klare Klavierphrasen, die überdeutlich auf den Einsatz der Band hinleiten. Sie bauen Spannung auf, sind zugleich oft genug ein effektiver Kontrast in der Sparsamkeit seiner Töne, Akkorde, Rhythmen und dem vollen Sound der Bigband. Auch in seiner Begleitung von Soli ›dirigiert‹ Basie das Ensemble, ermuntert beispielsweise zu Background-Riffs der Bläser. Er tut all dies mit einer Ruhe und Besonnenheit, die der enormen Dynamik seines Ensembles entgegenzustehen scheint, bei der aber klar ist, dass er die Band in jeder Sekunde ›unter Kontrolle‹ hat. Besonders deutlich wird der Einfluss dieses Dirigats vom Klavier aus dort, wo Basie nicht mit dabei ist – etwa in Aufnahmen, die das Orchester mit fremder Rhythmusgruppe als Begleitband verschiedener Vokalisten in den 1950er und 1960er Jahren machte. Nach Basies Tod wurde die Band von Thad Jones, Frank Foster, Grover Mitchell und anderen geleitet, ehemaligen Bandmitgliedern, die meist vor dem Orchester standen und dem Ensemble durch Handgesten ihre vor allem rhythmische Erfahrung des Basie-Sounds mit auf den Weg gaben. In den Aufnahmen dieser ›ghost band‹ sind oft die Arrangements des authentischen Basie-Orchesters zu hören, die jetzt aber einer völlig anderen Dynamik zu unterliegen scheinen.

Cab Calloway erzählt in seiner Autobiographie, wie er in der Band The Alabamians zum Dirigieren gekommen war: »During rehearsals, every time [Richard B.] Harrison would turn his back I’d jump up on the stage under the pretense of rehearsing as M.C. for a number and I’d make the band move. The sound was so different when I directed the band that it was almost embarrassing. I could bring out the various sections, highlight the soloists, and make the band lively and vital.«[3] Calloway sah sowohl den musikalischen Effekt seiner antreibenden Bewegungen vor der Band als auch die Showmanship dahinter. Seine Vorbilder waren weiße Pop- und Novelty-Bands, wie er sie nennt, Bandleader wie Benny Meroff oder Paul Ash, an denen ihn faszinierte, dass sie nicht nur die Musiker inspirierten, sondern auch einen Effekt aufs Publikum besaßen[4]. Der übergroße weiße Taktstock in den Händen des Bandleaders mit wehenden Haaren und weißem Frack war ein Showeffekt erster Güte; er nahm zugleich karikierend Bezug auf erstarrte Rituale der Klassik und den viel zahmeren Sound Paul Whitemans, dessen Silhouette mit Taktstock seit den 1920er Jahren zu einem Stereotyp geworden war, da er diese mit dem mitreißenden Swing des schwarzen Amerikas füllte.

Dizzy Gillespie Big Band, 1947: „Groovy Man“

Dizzy Gillespie hatte Ende der 1930er Jahre in Calloways Band gesessen und einige seiner Bühnen-Acts dem älteren Bandleader abgeschaut. Filmaufnahmen aus dem Jahr 1947 zeigen ihn, wie er die Band einzählt, Akzente schlägt, aber auch vor dem Orchester auf- und abtanzt[5] oder wie er die Band fast schon mit dem Hintern dirigiert, wenn er die ganze Zeit mit Gesicht zum Publikum steht und damit ganz deutlich macht, dass es auf der einen Seite um rhythmische Intensität und Motorik geht, die sein Tanzen und Dirigieren an die Band weiterreichen kann, auf der anderen Seite aber auch um den Effekt beim Publikum. ›Tanzen‹ ist für diese frühen Beispiele von Jazzdirigaten sowieso eine wichtige Erklärungshilfe. Bigbands der Swingära waren in erster Linie Tanzorchester – hier bewegte sich das Publikum. Cab Calloway war mehr und mehr ein Showorchester, zu dessen Auftritten neben den Instrumentalisten und Vokalisten auch Tänzer gehörten. Calloway selbst ersetzte im Showact quasi die Motorik des tanzenden Saals, und nicht anders sind Dizzy Gillespies Tanzeinlagen zu verstehen, etwa in Oo Bop Sh‘ Bam! ebenfalls von 1947[6].

Dizzy Gillespie Big Band, 1947: „Oo Bop Sh‘ Bam“

Und schließlich deuten sowohl Calloways als auch Gillespies tanzende Dirigate auf noch eine weitere Tradition des Jazz, die nämlich des Grand Marshall, der, in feierliche Kleidung mit Handschuhen und manchmal mit einem Stab oder einem Schirm, die seine Führungsrolle bekräftigten, die Begräbniszeremonien in New Orleans anführte[7]. Der Taktstock als Symbol für Zepter und heiligen Stab, aber auch für die Häuptlingsstäbe afrikanischer Erinnerung; die populäre Musik Afro-Amerikas ist reich an mehr oder weniger versteckten Verweisen, die die eigene mit der angenommenen Kulturgeschichte verbinden, double-entendre, Signifying Monkey. 

Natürlich waren auch Bandleader wie Fletcher Henderson und andere darauf angewiesen, ihre Bands bei Gelegenheit dirigierend zu lenken. Duke Ellington allerdings ist wohl der erste Komponist / Bandleader, für den die Führung durch Gesten, rhythmische Bewegungen oder instrumentale Eingriffe besonders wichtig war, da viele seiner Stücke seit den Mitt-1920er Jahren komplexe, auf die Dramaturgie der Komposition bedachte Werke waren, in die er Solopassagen einwebte, die ihrerseits als Teil eines ›kompositorischen‹ Gesamtkonzepts dienten. Wie Whiteman und Calloway war Ellington durchaus Showman; er hatte Musik für Bühnenrevuen geschrieben und achtete sehr auch auf die optische Wirkung seiner Auftritte. Im Dezember 1938 erschien in der Fachzeitschrift Down Beat eine kurze Notiz mit dem Hinweis, Ellington habe bei seinem jüngsten Auftritt im Apollo Theater in Harlem eine neuartige Art des ›band-conducting‹ entwickelt, zu dem Bühnenelemente auf verschiedener Höhe gehörten, das Schlagzeug am höchsten gesetzt in der Mitte, links davon die Posaunen, rechts die Trompeten, davor die Saxophone und davor das Klavier, von dem aus Ellington mit dem Rücken zum Publikum das ganze dirigiere. Auf Fotos und Filmausschnitten ist deutlich zu erkennen, dass Ellington der Blickkontakt möglichst zur gesamten Band sehr wichtig war (vgl. Abbildung aus dem Hurricane, April 1943[8]). 

In der Literatur heißt es oft genug, Ellington habe zwar Klavier gespielt, sein eigentliches Instrument sei allerdings das Orchester gewesen. Diese Beschreibung korrespondiert zum Kompositionsverständnis des Jazz. Das Orchester war auf eine Art und Weise die ›Partitur‹, mit der Ellington arbeitete, auf der er formale Entwicklungen, rhythmische Intensität, harmonische Rückungen, melodische faszinierende Linien erzeugen und festhalten konnte. Ein anderer Vergleich, mit dem Ellington immer wieder beschrieben wird, ist der des Klangmalers, dessen Palette an Klangfarben letzten Endes aus den individuellen Sounds seiner Orchestermusikern bestand und der diese Farben durch seine Fähigkeit, sie ins Gesamtbild einzubinden, erhöhte. Bilder hinken, und doch fassen sie meist auch ein wenig den Kern des Tatsächlichen. Nichts war Ellington wichtiger, als sein Orchester selbst in wirtschaftlich schweren Zeiten am Laufen zu halten, einfach deshalb, weil er es tatsächlich zum Komponieren benötigte, weil er zwar im Kopf hatte, was er schreiben würde, der Kompositionsvorgang aber ohne das Erklingen des Notierten und die Korrektur anhand von Einwürfen aus der Band oder der eigenen Erkenntnis, dass etwa eine Solo- oder Duopartie die Musik tatsächlich ganz anders beeinflusse als vorab gedacht, nicht beendet war. Der Kompositionsprozess war bei Ellington noch mehr als bei vielen anderen Musikern seiner Generation tatsächlich ein Prozess, das fertige Ergebnis ein laufend zu Korrigierendes, der Umgebung, in der es erklingen würde, Anzupassendes. Dieses Prozesshafte ist bereits in seinen frühen Aufnahmen aus den 1920er Jahren erfahrbar, die er oft mehrmals einspielte, und die dabei immer wieder teilweise erhebliche Änderungen erfuhren. Manchmal waren Umbesetzungen in der Band der Grund dafür, etwa, wenn ein Solist ausfiel und Ellington daraufhin das ihn betreffende Solo strich oder den Arrangement-Ablauf umstrukturierte. Andere Änderungen waren der geänderten Spielsituation geschuldet, also Revuetheater versus Aufnahmestudio versus Tanzveranstaltung versus Konzertsaal. Sie konnten ästhetische Entscheidungen sein, etwa wenn Ellington relativ simplen Arrangements über die Jahre komplexere Strukturen verlieh. Oder sie konnten den Bedürfnissen des Unterhaltungsgeschäfts geschuldet sein, wenn Ellington beispielsweise in späteren Jahren die Hits, die die Leute immer wieder hören wollten, in Medleys bündelte, um die ungeliebte Aufgabe des ›popular demand‹ so geschickt abzuarbeiten. Die Vielfalt und Verknüpfung all dieser Aufgaben wird etwa im Livemitschnitt einer Probe vom Juli 1965 in Juan-les-Pins, Südfrankreich deutlich, bei der Ellington sein Orchester durch ein neues Stück leitet, den Old Circus Train Turn-Around Blues, und in engem Dialog mit den Musikern Änderungen einbaut, Teile streicht und andere hinzufügt[9]. Komponist, Compiler, Moderator, Dirigent – Ellington besitzt hier ganz unterschiedliche Rollen, und bei allen wissen die Musiker, welches ihre Aufgabe ist.

Das Thad Jones / Mel Lewis Orchestra war 1965 vom Kornettisten Thad Jones und dem Schlagzeuger Mel Lewis gegründet worden und trat bis 1978 jeden Montagabend im kleinen New Yorker Village Vanguard auf. Der Montag wurde gewählt, weil an diesem Tag die Musiker, die in Broadway-Shows mitspielten, ihren freien Abend hatten. Jones schrieb die meisten der Arrangements, dazu kamen weitere Stücke etwa von Bob Brookmeyer und anderen Bandmitgliedern. Jones‘ Umgang mit Voicings und dem Bigbandsound baute auf seinen eigenen Erfahrungen im Orchester Count Basies auf; im Jones / Lewis Orchestra aber konnte er auf jüngere, stilistisch modernere Solisten zurückgreifen und eine Kompositionssprache entwickeln, die zeitgemäß war, ohne den Bezug zur Tradition zu verlieren. Für den swing, den diese Band verkörperte, war Mel Lewis mit von der Partie, einer der erfahrensten Bigband-Drummer des Jazz, der nicht nur die Rhythmusgruppe, sondern auch das Satzspiel und die Soli antreiben bzw. jeweils entsprechend begleiten konnte. Zum Gelingen der Interpretationen trugen allerdings auch Thad Jones‘ Dirigate bei, die dem schwerfälligen Instrument Bigband eine ganz spezielle Art von Körperlichkeit verliehen. Ein Video von 1968 zeigt die Band in Groove Merchant[10]. Jones zählt ein, hat ansonsten eigentlich nicht so viel zu tun, da die Rhythmusgruppe auch ohne ihn swingt. Ab und an gibt er perkussive Zeichen, ein herausgehobenes Klatschen, dann ein mit beiden Armen ausgeführtes vorbereitendes Treiben, auf dass das Orchester gleich danach im richtigen Schwung einsetzt. Seine Aufgabe sind also keineswegs bloß rhythmische Einsätze, daneben ist er auch fürs gemeinsame Einschwingen verantwortlich. Tatsächlich achtet die Band ziemlich deutlich auf diese Einschwinggesten Jones‘: Seine perkussiven ›handclaps‹, mal als rhythmisches Antreiben, mal als singuläre Akzente, werden von den Musikern akustisch wahrgenommen, seine ausholenden kräftigen Gesten auch aus den Augenwinkeln bemerkt. Die Band kam vielleicht nur einmal die Woche zusammen, jedoch kannten die Musiker das Repertoire nicht weniger gut als ihre Kollegen bei Basie oder Ellington. Im Video erkennt man ihre Konzentration auf den charismatischen Dirigenten Thad Jones und ihre Bereitschaft, jederzeit in seinem Sinne zu reagieren. 

Thad Jones / Mel Lewis Orchestra, 1968: „Groove Merchant“

Seit 1985 hat Butch Morris ein Vokabular an Gesten entwickelt, die er zum Dirigieren improvisatorischer Verläufe benutzt. Ein Ausgangspunkt seiner Arbeit sind dabei die Musiker, die ihm die Ideen liefern. In Conduction-Sessions, die Morris vor seinem Tod regelmäßig im New Yorker Club Stone abhielt, ließ er sich zuerst von den Musikern Ideen vorspielen, melodische Phrasen, Klänge, rhythmische Akzente, hörte mit großen Ohren zu und identifizierte dann zusammen mit den Musikern das Grundvokabular des Abends. Er vergab Handzeichen für einzelne Phrasen, übte die mit den Musikern so ein, dass sie auf Zeichen abrufbar waren[11]. Morris arbeitete mit Ensembles unterschiedlicher stilistischer Herkunft und stellte fest, dass ihre Musizierauffassung und damit auch ihre Reaktion auf sein Dirigat völlig voneinander verschieden waren. Während Morris anfangs noch mit kompositorischen Versatzstücken arbeitete, konnte er bald die Noten beiseitelegen. Er benutzte einen Taktstab oder nur die Hand, Zeigegesten mit ausgestreckter Hand oder Zeigefinger, und er war jederzeit bereit, sich auch auf die sich individuelle Auslegung der vereinbarten Interpretation einzulassen. Sein Konzept der Conduction ist, wie er es nennt, »ein improvisiertes Duett für Ensemble und Dirigent«, bei dem beide laufend aufeinander reagieren. 

Morris‘ aktiver Dialog mit dem zu dirigierenden Ensemble, führt mich zu einem Begriff, den ich in diesem aber auch vielen anderen der beschriebenen Fälle fast vorziehen würde. Letzten Endes geht es beim Dirigieren des Jazzensembles eben nur bedingt um eine ›leitende‹ Aufgabe. Rich DeRosa, seit 2014 Chefdirigent der WDR Big Band, vergleicht die Leitung eines Jazzensembles mit der Regieführung im Theater: »Den Regisseur sieht man nicht, man nimmt ihn nicht mehr war. Die Arbeit ist getan.«[12] Im Zusammenkommen von kompositorischen und improvisatorischen Passagen hat der Dirigent hier sehr oft eher eine moderierende Aufgabe. Er moderiert zwischen den Musikern, zwischen Musikern und Arrangement, zwischen Komposition und Improvisation, zwischen der Band und dem Publikum. Ellington, Basie, Woody Herman und andere Bandleader moderieren einen Schaffensprozess, der nur zum Teil bereits feststeht, zum anderen Teil aber bei jeder Aufführung im Werden begriffen ist. Im Extremfall muss diese Moderationsaufgabe auf die Unwägbarkeiten der improvisatorischen Gestaltung eines musikalischen Ablaufs Rücksicht nehmen, auf Soli, die länger oder kürzer ausfallen als geplant, auf spontane Begleitriffs, auf freiere Arrangementpassagen, die quasi im Kollektiv von der Band gestaltet werden etc. Das Dirigat im Jazz umfasst ein weitreichenderes Geben und Nehmen von Impulsen als dies in Dirigaten der Fall ist, bei denen der Dirigent erst einmal seine Vorstellung einer Interpretation vorgibt. Das Jazzdirigat ist im Idealfall eine weit weniger hierarchische Aufgabe als im klassischen Ensemble. 

Vor dem Hintergrund dieser jazzhistorischen Einordnung der Phänomene Improvisation / Komposition / Arrangement / Dirigat sind die folgenden Gespräche mit Dieter Glawischnig und Mathias Rüegg zu lesen, die sich auf durchaus unterschiedliche Weise über die Thematik äußern. 

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Fragen an Dieter Glawischnig[13]

Dieter Glawischnig hat seit den frühen 1960er Jahren als Pianist, Komponist (und zeitweise auch als Posaunist, als solcher etwa im österreichischen Rundfunkorchester) Jazz gemacht. Er studierte sein Instrument, daneben aber auch Dirigieren und Musikwissenschaft, arbeitete u.a. als Korrepetitor an der Oper Graz, und leitete zwischen 1968 und 1975 die Jazzabteilung der Musikhochschule Graz. Seit 1973 nahm er immer wieder Gastdirigate beim NDR wahr, anfangs in der damaligen NDR-Studioband, die 1980 zur NDR Bigband erweitert wurde, und blieb Chefdirigent dieses Ensembles , bis er 2008 in den Ruhestand ging. Daneben spielte er freie Musik mit kompositorischem Ansatz im Quartett The Neighbours, zu dem er auch immer wieder internationale Solisten aus dem Kreis der freien improvisierten Musik einlud, von Fred Anderson und Anthony Braxton bis zu Albert Mangelsdorff und John Surman. In der NDR Bigband war er auf der einen Seite für das gesamte Programm verantwortlich, das er in enger Absprache und auf im Auftrag Wolfgang Kunerts entwickelte, der die Jazzredaktion beim NDR leitete. Für seine eigenen Projekte hatte er dabei recht große Freiheiten. Glawischnig lebt in der Nähe von Graz. 

Komposition

Wolfram Knauer: Wenn Du an eine Komposition für großes Ensemble herangehst, welchen Einfluss macht das Wissen um die ›zur Verfügung stehende‹ Instrumentation und die personelle Besetzung auf den Kompositionsprozess? Kannst Du mir Beispiele dafür nennen, wo eine konkrete Besetzung zu Kompositionsentscheidungen geführt hat, ob positiv (»Da habe ich ja eh dieses oder jenes Klangmaterial zur Verfügung, lass mich das mal ausprobieren«) oder negativ (»Das wird zu kompliziert, dafür müssten wir Instrumentalisten ‚von außen‘ einkaufen«)?

Dieter Glawischnig: Ich habe immer nur für ›meine‹ NDR Bigband komponiert (ganz wenig arrangiert, hat mich nicht interessiert, wir hatten auch für diese Sparte sehr gute Leute). Es waren Auftragsarbeiten meiner Redaktion, besser gesagt von Wolfgang Kunert). Als mich Kunert 1973 zum ersten Mal als Gastdirigent einlud, habe ich verschiedene ›Stilistiken‹ angeboten: ein Pattern-Stück, ein sehr freies, ein eher traditionelles, da ich damals nichts über das RTUO [Radio Tanz- und Unterhaltungsorchester] wusste. (Alles war OK, bis auf das ›freie Stück‹, das gefiel mir nicht, die meisten Mitglieder der Band konnten damit nichts anfangen; damals waren die ›Jazzer‹ in der Band Herb Geller, Wolfgang Schlüter, Lucas Lindholm und Kurt Giese). Und für meine erste größere Arbeit für des Hamburg Jazzfestival 1982 hatte ich die NDR BB für meinen ersten ›Opernakt‹ mit Texten von Ernst Jandl (Laut und Luise) zur Verfügung, plus zwei Solisten: Manfred Schoof, Gerd Dudek. Diese Konstellation hatte ich immer im Ohr! (Übrigens: Kunert hatte meine Programme im Trio mit Jandl gehört, und er hat mich dann animiert, ein solches Programm für unsere Band zu schreiben.) Auch für meine weiteren Projekte/Kompositionen für die NDR BB sah ich immer die ganze Band vor mir sitzen, dazu die eigeladenen Solisten (für Jandl II Aus der Kürze des Lebens Christof Lauer, Manfred Schoof, die Bauer-Brothers). Ich habe nur geschrieben, wenn es aufgeführt werden konnte! Eine größere Jazz-Komposition ›in der Schublade‹ (wie in ›der Klassik‹ oft geschehen), die dann irgendwann als großes als Meisterwerk zu Tage tritt, halte ich nicht für realistisch (Odrrrrr?)

Du hast ja innerhalb einer bürokratischen Struktur gearbeitet (Klangkörper einer Rundfunkanstalt). Inwieweit hattest Du in diesem Komplex kompositorische Freiheiten bzw. inwieweit hat Dich diese Art der Struktur vielleicht auch gehindert in der Realisation kompositorischer Ideen?

Wie schon angedeutet, hatte ich für meine eigenen Projekte alle Freiheiten der Redaktion (= Kunert) und des Leiters der Unterhaltungsabteilung des NDR. Ein Projekt, das mir sehr wichtig gewesen wäre, konnte ich leider nicht realisieren: Ich kam in Hamburg mit Thomas Ebermann und Rainer Trampert in Kontakt und die beiden entwickelten ein Libretto, das mir und Kunert sehr gefiel, aber der damalige (uns im Prinzip eh wohlgesonnene) Abteilungsleiter hielt die Sache damals wohl für ›zu links‹.

Für Deine Arbeit spielte immer wieder motivische und formale Bindung (›Freiheit in der Beschränkung‹) auch innerhalb freier Improvisationspartien eine wichtige Rolle. Zum 60sten Geburtstag wünschtest Du Dir damals, »das Cercle-Konzept auf großes Orchester zu übertragen«[14]. Wie hattest Du Dir das vorgestellt? Wie kannst Du so etwas in der Arbeit für größeres Ensemble sicherstellen? Welchen Einfluss hast Du als Komponist auf den Verlauf längerer Improvisationspartien? Wann ist Dir solch ein Einfluss wichtiger, wann weniger wichtig? 

Das Konzept F.i.d.B. kann auch für große Ensembles gelten: Der Komponist kann sich innerhalb eines von ihm selbst abgesteckten Rahmens bewegen, bei allen ›Auswuchsmöglichkeiten‹ aus der ›Keimzelle‹, und die Solisten machen mit; wenn ich das Gespielte der Solisten für völlig unpassend hielte, würde ich versuchen, ins Gespräch mit ihnen zu kommen; wobei immer noch die große Chance für mich bestünde, durch die überzeugenden, wenn auch andersartigen Improvisationen eine Bereicherung meiner Ideen zu erfahren.

Du hast in der Beschreibung Deiner Arbeit einmal von der »Erfindung stets neuer Spielregeln als Basis für den Verlauf des jeweiligen Stücks« gesprochen[15]. Was genau meintest Du damit? Bzw. trifft es eventuell das, was Werner Burkhardt meinte, als er davon sprach, Du hättest in Die dunkle Seite des Würfels dem Jazz die Freiheit gelassen, „ohne die Strenge und die Genauigkeit der Komposition zu gefährden«[16]?

Ich weiß ja nicht, was mein sehr geschätzter Kollege in Hamburg mit seinem schönen Satz genau ausdrücken wollte. Ich denke, er meinte, dass die Soli den komponierten Teil nicht überwuchert haben und dass die dem Text folgende Improvisation die formale und inhaltliche Anlage und Aussage der Sache nie gefährdet, sondern unterstützt hat; ich stimme ihm zu, so war es geplant.

In kleinen Besetzungen hast Du durchaus auch mit einer Art von Head-Arrangements gearbeitet, die Euch die Möglichkeit gab, freier mit den motivischen Vokalen zu agieren. Inwieweit ist so etwas auf größere Ensembles übertragbar?

In der letzten Zeit kommen wieder improvisierende Großensembles in Schwung (in Mode), zumindest in Österreich. Es ist natürlich angebracht, den Verlauf der Musik sagen wir über 50 Minuten ›im Groben‹ zu planen: volle Besetzung, kleinere Gruppen, laut-leise; Ausdruckscharaktere (sparsam/fast nichts, kräftig voluminös, etc.), Register hoch / tief, usw., usw. Dazu braucht es einen ›Dirigenten‹, der gestische Anweisungen gibt: jetzt die 3 Spieler, dann die 4, dann alle zusammen glissando hinauf, dann alle staccatissimo decrescendo, etc. etc. (z.B. Butch Morris hat ja für sich ein eigenes Vokabular entwickelt). Und derartige Gruppen gelten als ›Impro‹-Gruppen; aber: die Mitglieder der Band spielen immer nur, wenn ›der Dirigent‹ eine Anweisung gibt! Free? Wenn schon ›free‹, dann wirklich free dem Geschehen des Augenblicks folgen, etwas dazu beitragen, entwickeln, ›Kettenassoziationen‹, oder auch Kontraste einbringen, etc.; ein derartiges Dialogisieren interessiert mich als Spieler immer noch am meisten. 

Arbeit mit Texten

Du hast viel mit Texten gearbeitet (Ernst Jandl, Gunter Falk). Texte sind ja eine ganz andere Art der Komposition: Sprache ist dabei zuerst einmal scheinbar funktionaler (Subjekt, Prädikat, Objekt…). Welche Freiheiten hattest Du gerade auch in der engen Zusammenarbeit mit den Autoren? Und welche Begrenzungen sind die Vorgaben von Gedichten / Texten – das ist ja noch etwas anderes als Libretti…

Ich hatte keinerlei Begrenzungen. Ich habe mir für die ersten beiden Jandl-Kompositionen Texte ausgesucht die mich begeistert hatten, die wir im Trio (mit NEIGHBOURS) schon gespielt hatten. Mit einigen Ergänzungen hat der Meister zugestimmt, auch meiner Gliederung der formalen Anlage in bestimmte Themenbereiche (Zur Kunst des Dichtens, Sozialisation, Krieg, Tiere, Menschliches, Gott, u.a.), wobei mein Anliegen war, Jandl in seiner ganzen inhaltlichen Fülle einzubringen; mich hat immer geärgert, dass Ernst von vielen Menschen nur als ›skurriler Witzbold‹ gekannt wurde. Für das dritte Jandl-Stück Jedes Ich Nackt, posthum mit dem großartigen Dietmar Mues für den NDR produziert, hab ich mir die Texte v.a. aus seinen Letzten Gedichten zusammengesucht. Und auch Die dunkle Seite des Würfels entstand posthum. Allerdings hatte ich mit dem Autor Gunter Falk einige gemeinsame Auftritte mit unserem Trio Neighbours absolviert, ich meinte also zu wissen, worauf es ihm ankam.

Bigband

Die NDR Bigband hatte ja ganz unterschiedliche Aufgabenbereiche: von der Präsentation anspruchsvoller aktueller Bigbandmusik bis hin zu Begleitung populärer Sängerinnen und Sänger. Sie hat über die Jahre unter Deiner Leitung eine Wandlung durchgemacht vom Tanz- und Unterhaltungs- zu einer Art Solistenorchester. Deine Funktion als Bigbandleiter beinhaltete sowohl das eine oder andere Arrangement in all diesen Bereichen (als Arrangeur), die Planung und Durchführung originärer Ideen und Werke (als Komponist oder Auftraggeber von Kompositionen) und die Umsetzung all dessen in Leitungsfunktion (als Dirigent, Bigbandleiter). Kannst Du die verschiedenen Funktionen (habe ich da noch eine vergessen?) beschreiben und ihre gegenseitigen Einflüsse / Abgrenzungen?

Als ich (Chef)Dirigent der NDR Bigband wurde, 1980, war das Orchester wie beschrieben sehr ›multifunktionell‹ eingesetzt. Für mich war die Erfahrung mit einer Rundfunkband sehr spannend. Ich war ja an der Grazer Musikhochschule Professor für Jazztheorie, im Trio Neighbours weltweit unterwegs, und bekam dann von meiner Hochschule ein Karenzjahr für 1980 bewilligt. Als der NDR dann meinen Vertrag für 1981 verlängern wollte, war ein zweites Karenzjahr nicht möglich. Also machte ich beides (Unterricht in Absprache mit dem Grazer Kollegium und den Studierenden jeweils Samstag und Sonntag). Als dann der Präsident der Hamburger Musikhochschule Hermann Rauhe eine schon lange geplante Jazzprofessur einrichten konnte, hab ich mich beworben, die Stelle bekommen, und ab dem Jahr 1982 meine Grazer Zelte abgebrochen. Die Einrichtung der Jazzabteilung an der Hamburger Hochschule war aus finanzieller Sicht nur möglich, weil wichtige Positionen mit Lehraufträgen an Musiker in der NDR BB vergeben werden konnten. Die Planung und Ausführung der Aktivitäten der Jazzredaktion, lag vor allem bei Wolfgang Kunert. Natürlich haben wir uns immer abgesprochen über das kommende ›Programm‹, wer eingeladen werden sollte, wer ›gewichtig‹ in der Szene war; auch Wünsche/Anregungen aus dem Orchester wurden gerne aufgenommen.

Wie wichtig war für Dich die »Personalunion von Komponist, Arrangeur, Konzeptor, Improvisator und Leiter ‚mitten drin’«[17], die Du einmal als Ideal für die Realisation einer Third-Stream-Komposition bezeichnet hast, in Deiner Funktion in der Bigband?

Für mich persönlich hat diese vielschichtige Personalunion gepasst, nicht nur für die Realisation einer Third-Stream-Komposition. Die Hochschule war froh, einen Jazz-Professor ›aus der Praxis zu bekommen‹, noch dazu wo er auch eine musikwissenschaftliche Qualifikation, ein klassisches Klavierdiplom und ein Kapellmeisterdiplom mitbrachte, der NDR war froh, einen Leiter, der auch ein eigenes künstlerisches Profil aufzuweisen hatte, gewonnen zu haben.

Du hast immer wieder herausgehoben, dass Du Dich als Leiter der NDR Bigband als primus inter pares verstanden hast. Ist das aus Deiner Kenntnis heraus ein spezifisch europäischer Ansatz der Orchesterleitung? (Wo es in den USA ja deutlich klarer den Chef gibt?) Und funktioniert so etwas wirklich? Bzw.: Wann und wo funktioniert es eventuell nicht?

Ob das ein spezifisch europäischer Ansatz ist, weiß ich nicht. Ich habe zu wenig Erfahrung diesbezüglich, und weiß nur (relata refero), dass der Leiter der seinerzeitigen ORF-BB und auch derjenige des sehr erfolgreichen Vienna Art Orchestra meinem Ideal von Kommunikation nicht gefolgt sind. Und in den USA kenne ich persönlich nur die Arbeit meines hochverehrten Kollegen Herb Pomeroy am Berklee College, der wollte nicht Chef sein, aber er war es, als ›primus inter pares‹.

Dirigat

Der klassische Ansatz ans Dirigieren geht ja quasi vom Großen ins Kleine: Formanalyse, Harmonik, Stimmführung, bis hin zur Motivik, Phrasierung usw. Inwieweit sieht das beim Jazz anders aus?

In dieser Hinsicht sieht es bei uns ähnlich aus: In den Partituren, so diese traditionell notierte Kompositionen sind und nicht nur ›Spielanweisungen‹ verbaler oder auch graphischer Natur, steht ja immer alles drin, was für die Interpretation wichtig ist, oder sollte es zumindest. Im Unterschied zu den Ausführenden hat der ›Dirigent‹ den Vorteil, die Partitur zu kennen, und kann dadurch helfend, manchmal auch lenkend eingreifen. Wichtig ist die Ausarbeitung einer korrekten Phrasierung (Artikulation) entsprechend der rhythmischen Absicht des/der Komponisten/in oder des Arrangeurs/ der Arrangeurin (triplets/Triolen-off beat oder even eights): für professionelle Orchester eine Selbstverständlichkeit (aber immer wieder mal muss doch ein bisschen ›nachgebessert‹ werden); weiters Beachtung der Gesamtdynamik des Stückes, der dynamischen Balance innerhalb der Satzgruppen und im ›Tutti‹. Auf Selbstverständlichkeiten wie ›Stimmen‹ der Instrumente vor Spielbeginn, ›Vorzählen‹ im richtigen Tempo (vom Komponisten meist mit Metronomzahl vorgeschlagen) etc. will ich hier nicht eingehen.

Wie unterscheidet sich für Dich die Möglichkeit des Eingreifens, des Lenkens vom Klavier aus von der klassischen Dirigierposition vor dem Orchester?

Soweit es mich betrifft, muss ich sagen, dass ich fast immer nur bei meinen eigenen Stücken, meist nach Texten, am Klavier sitze, und dass die Stücke ausgiebig geprobt werden konnten, so dass sich ›Dirigieren‹ fast immer erübrigt und auf gewisse ›Cues‹ beschränkt. Bei Klavierkonzerten im Bereich der Klassik (Mozart …) ist es ja ähnlich: Die Musik wird gut geprobt und hat meist einen durchgehenden Rhythmus, der Pianist, oft ein internationaler ›Star‹, sitzt vor dem Orchester, wirft gelegentlich einen freundlichen Blick zum Konzertmeister, und kann sich darauf verlassen, dass alles bestens funktioniert. Und genau so war es auch mit Count Basie oder Duke Ellington, die waren ja oft monate-/jahrelang mit einem Programm unterwegs!

Das ›Dirigieren‹ vor der Band wurde durch die Arbeit der vielen Rundfunk-, Revue-, Musical- und auch Film-Orchester mit wöchentlich oder auch täglich wechselndem Programm notwendig. Konfrontiert mit immer neuer Musik (leider meist nicht Neuer Musik) musste jemand den ganzen Laden zusammenhalten…

Hast Du fürs Dirigieren des Orchesters eine eigene Dirigiersprache gesucht / gefunden / mit Deinen Musikern verabredet? Du hast ja ursprünglich auch Dirigieren studiert; was hast Du aus dem klassischen Dirigierstudium mitgenommen für die Arbeit mit großem Jazzensemble?

Mein Dirigierstudium, das ich sogar mit dem ›Kapellmeisterdiplom‹, so hieß es, an der Grazer Musikakademie (heute Universität) abgeschlossen habe, hat mir schon geholfen, eine sogenannte gute ›Schlagtechnik‹ ist schon brauchbar bei rhythmisch komplexer Musik (Takt/Tempo-Wechsel, Rubati, Fermaten, Kombination unregelmäßiger Rhythmen, Kontraste ›im Ausdruck‹, etc.). ›Jazzspezifische Zeichen‹ sind z.B. das Einzählen (Tempovorgeben) ›in time‹, das Anzeigen von Wiederholungen bestimmter Passagen, eine einladende aber unauffällige Geste für den nächsten Solisten, Cues für die Band nach Beendigung des Solos; aber auch hier zeigt der Solist oft selbst an, wann es weiter gehen soll. Jeder Leiter hat natürlich eine eigene Körpersprache und persönliche Ausstrahlung entwickelt. Mehr fällt mir jetzt als Unterschied zu einem klassischen Dirigat nicht ein. Eine Anmerkung nebenbei: Viele ›Amateur-Dirigenten‹ (und nicht nur diese), die mal vor einer professionellen Bigband stehen ›dürfen‹, fuchteln meist viel zu viel herum, besonders das gestische Durchschlagen eines 4/4-Taktes z.B. nervt alle Spieler, vor allem die Rhythmusgruppe leidet. Es kann aber auch Passagen in einem sehr, sehr schnellen Tempo geben, vielleicht auch mit komplexen, gegenläufigen polyrhythmischen Einsätzen der Gruppen, bei denen auch die versiertesten Musiker nicht unfroh über klare simple 1-3-1-3 Zeichen sind!

Du hast Dich einmal als Probenleiter bezeichnet[18] und dazu gesagt: »Zum Dirigieren gibt es bei der Big Band fast nichts«… Wie wichtig ist das Proben zum Schaffen von Freiheiten bei der tatsächlichen Realisierung von Musik (insbesondere bei Bigbands)?

Klar ist die Probenarbeit das Wichtigste! Bei BB-Kompositionen/Arrangements ist die Absicht der Schöpfer in der Partitur ablesbar, der Dirigent hat die Aufgabe, diese Ideen/Vorgaben mit den Spielern umzusetzen! ›Freiheiten‹ gelten für die Gestaltung der Soli, und für die improvisatorische Arbeit der ganzen Rhythmusgruppe, die Bläser der Satzgruppen sind notgedrungen ›Notenknechte‹.

In Deiner Zusammenarbeit mit Sprechern kommt Dir ja auch als Dirigent“ eine noch andere Aufgabe zu: Du gibst quasi die Cues für die nicht rhythmisch festgelegten Texte, die ja in der Regel recht frei gesprochen werden. Kannst Du über die Probleme dieses Teils Deiner Zusammenarbeit mit Sprechern berichten? Geht es da um ein schnellerlangsamermehr Pausen – musst Du den musikalischen Verlauf gegebenenfalls anpassen?

Die Texte, die ich mir ausgesucht und dann in Abstimmung mit Jandl, Dietmar Mues und Henning Venske ›vertont‹ habe – mit Gunter Falk war das nicht mehr möglich, Die dunkle Seite des Würfels entstand posthum als ›hommage‹ für den Steirischen Herbst 1986 – habe ich auf verschiedene Weise verwendet: Text solo ohne Musik, da ist der Sprecher völlig frei in seiner Interpretation – ich wusste natürlich wie die Dichter ›vortrugen‹ und habe diese solistischen Passagen im dramaturgischen Ablauf der Komposition wirkungsvoll einzusetzen versucht.. Einige Texte waren ganz genau ›im Takt‹ notiert, dem Sprechrhythmus folgend, was Jandl anfänglich verzweifeln ließ; in für ihn »harter Probenarbeit« , wie er sich ausdrückte, gelang dann eine von mir vorgesehene präzise Ausführung. Textpassagen, die ich in einen ›freieren, improvisatorischen‹ Zusammenhang gestellt hatte, entweder im Dialog Sprecher mit Solist(en) oder auch mit gemischt besetzten kleineren Gruppe, mussten natürlich gemeinsam erarbeitet werden, in Abstimmung aller eingesetzten musikalischen Parameter mit der Textvorlage, bei größtmöglicher ›Freiheit‹ der Beteiligten. 

Gibt es ein Zurück vom Dirigieren ins Komponieren? Kommt es also vor, dass Du erst im Leiten der Band merkst, das stimmt so nicht, oder: Das wäre anders besser?

Nein. Ich überlege immer lange, ›trage meine Ideen/Skizzen mit mir herum‹ – das macht wohl jeder ›kreative Künstler‹ so – und dann bin ich irgendwann sicher, wie es sein muss (gelegentlich auch aus Zeitnot), und dann ist das Verfassen der Partitur eine notwendige Pflichtübung. Was nicht ausschließt, dass ich beim Anhören älterer Musik von/mit mir (BB-Kompositionen, Aufnahmen in den Trios, im Duo, Solo) nicht auch denke: Es hätte eigentlich auch ganz anders ablaufen können…

Wie ist generell es mit dem Feedback der Musiker: bei Dir, bei anderen Arrangeuren/Dirigenten der Bigband: Ist das ein Geben / Nehmen? Oder auch ein gehöriger Frust auf der einen oder anderen Seite?

Wenn die Kompositionen, von anderen oder von mir, von den Band-Mitgliedern goutiert werden, dann wird immer konzentriert und gern gearbeitet, also ein Geben und Nehmen im Sinn der Frage. In meiner ersten Zeit als ›Chefdirigent‹ – na ja, da das Sinfonieorchester immer schon einen solchen hatte, hatten wir dann ebenfalls einen solchen – kam schon gelegentlich gemeinsamer Frust auf, wenn wir, damals noch als ›Radio Tanz- und Unterhaltungsorchester‹ (RTUO), allzu dürftige Tanzmusik spielen oder Schlagersternchen begleiten ›mussten‹. In unserer ›Solistenband‹, wie sie etwas später immer wieder mit Recht bezeichnet wurde, konnte umgekehrt folgendes passieren: Wir waren ja bekannt für unsere zeitgenössischen ›avantgardistischen‹ Programme; wenn aber ein eingeladener Arrangeur allzu bemüht war, ›moderne‹ Satztechniken ohne tieferen musikalischen Sinnzusammenhang (you know what I mean) zusammen zu stoppeln, dann wurden diese oft technisch schwierigen Stücke als unmusikalisch, als konstruiert empfunden und mit Unlust, aber ›professionell‹ heruntergespielt (Dienst ist Dienst, wie es so schön hieß)… – aber das kam nicht allzu oft vor. 

Ihr habt ja seinerzeit auch Braxtons vertrackte Partituren aufgeführt. Welche Schwierigkeiten bedeutete das für Dich als Dirigentdes Ganzen und wie hast Du davor und währenddessen mit Braxton kommuniziert?

Ab 1980 haben wir mit unserem Grazer Trio NEIGHBOURS auf einigen Festivals mit Braxton gespielt, auch eine LP mit ihm aufgenommen, wir waren gut befreundet. Als ich dann später das NDR-Orchester leiten konnte – das RTUO hatte auf Betreiben seines Redakteurs Wolfgang Kunert, der mich nach Hamburg geholt hatte, auch vor meiner Zeit gelegentlich Jazz spielen ›dürfen‹ und hieß dann NDR STUDIOBAND –, haben wir Braxton eingeladen, wohl wissend was auf die Musiker zu kam. Anthony spielte selbst im Saxophonsatz mit, was wichtig war: Eine schwierige, rhythmisch komplexe längere Passage galt für die Kollegen als unspielbar; erst als Braxton das Ding locker (mit gespielter Harmlosigkeit) herunterspielte, wurden die Sax-Kollegen vom Ehrgeiz gepackt, und am Konzerttag in der Hamburger Fabrik gebührend gefeiert.

Welchen Einfluss kannst Du als Dirigent nehmen, um eine dem Motivischen verpflichtete Improvisation zu befördern (so Du das überhaupt willst)?

Ich denke, jede gute Jazzimprovisation ist irgendwie motivisch, darauf hat auch Ekkehard Jost mit dem Begriff der ›motivischen Kettenassoziation‹ bei Ornette hingewiesen[19]. Jeder Improvisator hat sich ja sein eigenes Vokabular ansozialisiert, angeeignet, angeübt, eingeübt. Aufgrund dieser prinzipiellen Fähigkeit wird es Improvisator/innen kaum schwer fallen, mit einem jeweils vorgegebenen Material in einem größeren kompositorischen Rahmen sinnvoll umzugehen. Wenn jeder Motivationsversuch versagt, dann besteht in einem größeren Klangkörper die Chance, den/die Solistin/en zu wechseln. In kleinerer intimer Besetzung besteht diese ›Gefahr‹ wohl kaum, da sich ja nur Spieler mit derselben musikalischen Wellenlänge zusammen finden werden, die entweder wirklich ›frei‹ improvisieren, oder sich gern auf sinnvolle Vorgaben/Anregungen einigen werden.

Ist der Dirigent im Falle einer großen Besetzung tatsächlich eine Art Moderator zwischen den kompositorischen und den improvisierten Partien der Stücke? Oder empfindest Du das ganz anders…?

Der Begriff ›Moderator‹ erscheint mir als unangebracht, weil missverständlich, weil dieser Begriff v.a. durch das TV so besetzt ist. Wenn ein BB-Arrangement, wenn instrumentaltechnisch schwierig, lange geprobt wird, so hat das mit Moderation nichts zu tun. Der Leiter probt so lange, bis alles stimmt, wie es in der Partitur steht. Und auf die improvisierten Passagen stürzen sich eh meist mehrere dafür in ihrer stiistischen Haltung prädestinierte Kollegen. Den Begriff ›Moderation‹ würde ich nur verwenden für ›tatsächliches Moderieren‹, für die der Dirigent/Leiter bei öffentlichen Auftritten des Orchesters zuständig ist: Vorstellung der Band, Ansage der Stücke, Nennung der jeweiligen Solisten, allgemeine Bemerkungen zum Programm, Lob des Veranstalters etc. (Nur nebenbei: Meine Ansagen kamen immer sehr gut beim Publikum und auch beim Orchester an, weil mein österreichischer Dialekt soo ›charmant‹ rüber kam; außerdem waren sie so sachlich wie möglich). 

Hat sich in Deiner Zeit mit der NDR-Bigband etwas geändert in Deiner Herangehensweise ans Dirigieren? Gab es Zeiten, wo Du zu viel / zu wenig dirigiert hast? Wie sieht es mit unterschiedlichen Klangkörpern aus? Bedarf es jeweils einer Einführung ins persönliche Dirigiervokabular?

Ich denke, meine persönliche Art des Leitens einer Bigband hat sich über die Jahre nicht sehr verändert. (Diese Frage müssten eigentlich die Musiker in der Band beantworten). Im Partiturlesen bin ich geschwinder geworden, und in der ästhetischen Einschätzung des jeweiligen Materials viel kritischer.

Du hast ja auch Erfahrungen außerhalb des Jazzkontextes. Wie unterscheidet sich die Aufgabe, wenn Du die Dir bekannte NDR Bigband, ein anderes Jazzensemble, einen Chor oder ein Ensemble mit Musikern dirigierst, die vor allem klassische Spielerfahrung besitzen? In der Reaktion? In der Kommunikation? In den Anforderungen, die die Musiker an Dich – als Komponisten, als Arrangeur, aber auch als Dirigenten – stellen?

Im Jazzbereich hatte ich bisher die WDR Bigband und einige Hochschul-Bigbands und Landesjugendjazzorchester leiten können, die Arbeit als ›Dirigent‹ ist jeweils ähnlich. Dass mit einer so notensicheren Band wie der des WDR fast alles wie von selbst geht, ist wohl klar: in den 80ern wurde ich für ein Konzert zum 100. Geburtstag von Strawinsky eingeladen, das Ebony Concerto wurde gespielt, und unser Herb Geller hatte einige Woody Herman Stücke neu arrangiert; und vor kurzem hatte ich die Freude, im Rahmen eines ›Legenden (?) -Konzerts‹ in Gütersloh einen kurzen Ausschnitt aus einem meiner Jandl-Stücke spielen zu können, mit Wanja Mues als Sprecher. Dass mit Jugend-und Hochschulorchestern, also angehenden Profis, mehr im Detail an allen ›basics‹ gearbeitet werden muss, ist auch klar. Eine besondere Erfahrung für mich war immer die Arbeit mit klassischen Orchestern im Jazzkontext: Im Rahmen des NDR machten wir zahlreiche Produktionen mit dem Rundfunkorchester Hannover plus Jazzsolisten, als bekanntestes Beispiel die Uraufführung von Wolfgang Dauners Urschrei beim Jazzfestival Berlin 1976. Das Problem mit klassischen Orchestern ist, dass diese in kurzer Zeit kaum zum Swingen gebracht werden können, sollte das der Komponist beabsichtigt haben. Das gilt für europäische Orchester, soweit ich das beurteilen kann; die USA-Orchester können das aufgrund ihrer musikalischen Sozialisation auch im Jazzbereich meist ohne Problem. Mit dem Sinfonieorchester in Oldenburg und vor allem mit dem großartigen SO des NDR in Hamburg konnte ich Liebermanns Concerto aufführen, wobei ein ziemlicher ›Schwung‹ erreicht werden konnte. Bei diesen Orchestern war schon ein ›klassisches Dirigierverständnis‹ Voraussetzung für eine Akzeptanz des Leiters. Ähnlich war es bei der Arbeit mit dem Bläser-Ensemble der deutschen Oper Berlin an Kompositionen von Eberhard Weber, und bei der Erarbeitung von Kenny Wheelers Kompositionen für die Bläser des SO Hamburg mit dem Trio Azimuth. Dirigentische Zeichengebung war sowieso klar, aber ich erinnere, dass ich mit Körpereinsatz, mit Vorsingen/-artikulation letztlich doch ein Gefühl für swingende ›off beats‹ anregen konnte, das allen Beteiligten sogar auch Spaß machte. Ganz allgemein: Bläser, vor allem Blechbläser, waren viel aufgeschlossener dieser für sie neuartigen Artikulationsweise gegenüber als die Streicher! Im Rückblick denke ich, dass die jüngeren Musiker/innen interessiert mitgezogen haben, dass der ältere Teil der Orchester teils pflichtgemäß aber ›wurschtig‹ dabei war oder sein Missfallen ganz offensichtlich mimisch ausdrückte. Ich hatte sehr gute Erfahrungen mit dem klassischen Chor des NDR (Ellingtons Sacred ConcertsRequiem von Steve Grey), der begeistert bei unserer BB dabei war. Allerdings wurde der Chor nicht mit off beat-Phrasierungen belastet, sondern hatte meist klangschön und ausdrucksstark die Ellington-Voicings zu interpretieren. (Private Anmerkung: Da war meine mehrjährige Arbeit als Chor-Korrepetitor am Grazer Opernhaus sehr hilfreich. In den oft ›lyrischen‹ Passagen ist schon eine andere Zeichengebung notwendig als bei stark swingenden BB-Stellen.) 

Ihr habt regelmäßig Gastdirigenten eingeladen. Wann und wo machte das besonders Sinn und was konnten die besser als wenn Du die Band geleitet hättest?

Komponisten und Arrangeure, deren Musik wir im Repertoire haben wollten, ›durften‹ immer ihre eigenen Stücke leiten, wenn sie wollten und konnten (was fast immer der Fall war), wie sie sich ja auch immer einen Gast-Schlagzeuger wünschen konnten: die Schlagzeugstelle war bei uns nicht fix besetzt, da wir für unser breites Repertoire stilistisch bestens qualifizierte Musiker von Charlie Antolini bis Tony Oxley haben wollten. Was diese Gäste besser konnten als ich? Ich denke, Dirigieren im technischen Sinn nicht, vielleicht brachten sie ihre Musik mit (noch) größerer Überzeugung über die Rampe. Es gab vor allem einen ganz pragmatischen Grund für das Engagement von Gastdirigenten: Ich hatte nur eine begrenzte Anzahl von ›Dirigiertagen‹ (anfangs 140 pro Jahr, viel zu viel; dann 110, das ging gut neben meinem zweiten Hauptjob in Hamburg, der Leitung der Jazzabteilung an der Musikhochschule; dann 80, sehr angenehm, zuletzt 60, sehr, sehr angenehm), also mussten die Lücken auf jeden Fall gefüllt werden, im Ergebnis ein Gewinn für unsere gemeinsame Sache. 

Vor einigen Jahren hattest Du mal das 100köpfige Orchester der chinesischen Roten Armee dirigiert… Was war da los? Und wie war’s?

In den 90er Jahren war ich mehrmals jeweils im Herbst in Beijing im Rahmen des DAAD-Austauschprogramms (Reisespesen, Hotel, Tagesdiäten, kein Honorar), meist an der von Yamaha gesponserten ›Midi School‹ für Pop und Rock, gelegentlich auch am Konservatorium und an Musikschulen in der Umgebung von Beijing. Bald kamen einige Musiker der ›Bigband‹ der Roten Armee (ich glaube sie hieß ›Red Eagle Banner‹) und haben mich dem leitenden ›Musik-General‹ vorgestellt, der so was von höflich und ergeben vor mir aufsalutierte. Diese etwa 30 Musiker waren alle Mitglieder der 5 großen ›sinfonischen‹ Militär-Blasorchester (jeweils ca. 100 Musiker) gewesen, die es tatsächlich hingekriegt hatten, eine eigene Gruppe zu bilden und Jazz zu spielen, oder spielen zu wollen. Es gab ein bescheidenes Repertoire, so was wie ›very-easy-Tanzorchester-Zicken-Swing‹, und wir haben es dann zu ganz ordentlich phrasierten swingenden aber technisch schon leichteren Count Basie-Stücken gebracht. Als ich das erste Mal in Beijing ankam, fand gerade das 2. Internationale Jazzfestival statt auf dem ich dann jährlich spielen konnte, mit Neighbours, mit Cercle, mit der NDR Bigband, mit ENIM (Ensemble for New Improvised Music) – das war eine tolle wirklich internationale Gruppe die ad hoc in Beijing entstanden war (Mark Dresser/USA b, Andi Schreiber/Austria viol, Peter Veale/Australia oboe, Vladimir Tarasow/Lit dr, ein weiterer lokaler Geiger, und ich, ich hoffe, ich habe niemand vergessen); wir hatten dann noch eine Einladung nach Georgien zu einem Avantgarde- Festival (!) in der Nähe von Tiflis – mit einer Riesengage, für die ich mich noch heute schäme. Ich erinnere, dass einige Musiker ›meiner‹ NDR Bigband mit Freude und Interesse Satzproben mit der military band gemacht haben, mit der wir auch einmal das Festival eröffnen durften. 

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Fragen an Mathias Rüegg[20]

Mathias Rüegg wuchs in Graubünden auf und studierte ab 1973 erst in Graz, dann in Wien Klavier und Komposition. 1977 gründete er das Vienna Art Orchestra (VAO), das bald zu einer der herausragenden großen Ensembles Europas werden sollte und auch von amerikanischen Medien für seine Fortentwicklung der Bigbandsprache gelobt wurde. Das VAO ging durch verschiedene Stadien, die sich durch unterschiedliche Besetzungen, Repertoires und musikalische Ansätze auszeichneten. In seiner 23-jährigen Geschichte legte das Orchestra mehr als 35 Tonträger vor, die sich mal verschiedenen Aspekten der amerikanischen Jazzgeschichte widmeten, mal den unterschiedlichsten europäischen Traditionen, die mal stärker improvisatorisch ausgeprägt waren, dann wieder stärker kompositorisch. Neben seiner Arbeit für das VAO war Mathias Rüegg 1993 einer der Mitgründer des Wiener Clubs Porgy and Bess, dem er einige Jahre auch als künstlerischer Leiter vorstand. 2003 gründete er das Austrian Music Office, das vierzehn Jahre lang den renommierten Hans-Koller-Preis vergab. Rüegg lebt und arbeitet in Wien. 

Komposition

Wolfram Knauer: Du hast ja in den 1970er Jahren in Graz Dein Handwerk verfeinert. Kannst Du ein wenig darüber erzählen, wie Dein auch klassisches Kompositionsstudium Einfluss auf Deine Arbeit als Jazzkomponist hatte?

Mathias Rüegg: Ich hatte mich dort lediglich ein Jahr damit beschäftigt. Da ich aber mit Klassik aufgewachsen bin, hatte ich bereits einen ›direct access‹ zur klassischen Musik. Das meiste passierte dann aber durch ›learning by doing‹. Zusätzlich gab es später eine jahrelange Freundschaft mit dem Komponisten Nali Gruber, von dem ich viel lernen konnte. und das Hören verbesserte sich bei mir kontinuierlich.

Siehst Du Deine Arbeit, die ja mit Komposition und Improvisation arbeitet und auch mit Techniken aus den Welten europäischer und afro-amerikanischer Traditionen, als eine Fortführung der Third-Stream-Bewegung –  oder ist Dir eine solche Zuordnung zu simpel? Du hast Deine Musik für das VAO selbst einmal als »American jazz with American timing and idiomatic American phrasing, but from a European point of view« bezeichnet[21]Wo verortest Du für Dich die unterschiedlichen Traditionen, auf die Du Dich in Deiner Arbeit beziehst? 

Ich würde mich als Polystilisten bezeichnen, vielleicht auch als musikalischen Jongleur in der Schnittstelle zwischen Jazz, Klassik, evtl. auch Volksmusik. Und immerhin hatte ich 1969/70 sogar eine Rockband, mit der ich schon damals Klavierstücke von Schumann adaptiert hatte, ganz nach dem Vorbild Keith Emersons.

Du hast mit dem VAO eigentlich immer wieder Reverenzen an andere Kollegen (Komponisten und Musiker aus Klassik und Jazz) vorgelegt. Ist diese Spiel mit quasi Bekanntem – also auf Beispiele, die sowohl für die Musiker wie auch für das Publikums einen Bezugsrahmen bedeuten können – für die Arbeit mit aktueller, zeitgenössischer Musik ein Angebot ans Publikum (ein wenig wie das Standardspielen)? Oder anders ausgedrückt: Lässt sich leichter wider den Stachel löcken, wenn man auf scheinbar Bekanntes rekurriert als wenn alles Material für alle Beteiligten neu ist?

Ich dachte mir, dass es zu vermessen wäre, wenn das VAO nur Stücke von mir spielen würde. Dieser potentiellen Horizontverengung versuchte im insofern mit einer Horizonterweiterung entgegenzuwirken, als ich ›Material‹ von möglichst vielen Musikstilen durchforstete und auf die Realisierungsmöglichkeiten prüfte, um es dann zu adaptieren. Ich war also zur Hälfte Komponist und zur Hälfte Arrangeur.

Vienna Art Orchestra

Wie war zu der Zeit, als Du das VAO gegründet hattest, der Ruf des Bigband-Jazz bei Euch Musikern? Das Vienna Art Orchestra heißt ganz bewusst Orchestra, nicht Bigband, wollte ursprünglich also auch die mit der Bigband verbundenen Traditionen überwinden.

Gute Beobachtung! Wir hatten Bigbands eher ›gehasst‹, oder böser gesagt, das musste man damals, wenn man zur Avantgarde gehören wollte. Bis ich spätestens 1997 festgestellt hatte, dass ich in Wahrheit eigentlich immer im Geiste schon lange für Bigband geschrieben, es bis dato aber nicht gemerkt hatte. Aber die größte Challenge war dann 2009, als ich die Bigband in ein Kammerorchester verwandelte. Vier Streicher statt Saxophonsatz, drei Holzbläser (Flöte, Klarinette Fagott), drei Blechbläser (Trompete, Flügelhorn, Posaune), rhythm section (ebenfalls Klassiker) & drei Jazzsolisten. Das war wohl zeitlich noch etwas zu früh, aber ich finde das Album Third Dream sehr spannend und total unterbewertet! Im Übrigen sehe ich mich als Spätzünder. Je älter ich geworden bin, desto substantieller wurde meine Musik. Die größte Schwierigkeit dabei: das Lösen vom Zeitgeist, von Coolness und von Hipness. Zum Glück halten sich die zeitbedingten Peinlichkeiten in Grenzen. ›Free‹ hatte damals live super funktioniert, aber sich das dann später auf Tonträger anhören zu müssen, fällt für mich eher ins Kapitel ›Strafe‹.

Im Prinzip gab es drei Ausgaben des VAO, die erste Besetzung bis 1990, die Besetzung von 1990 bis etwa 2008 und die Besetzung nach 2009, in der neben den Jazzern auch vermehrt klassische Musiker saßen, die aber auch mit der Jazzsituation umgehen konnten. Gab es in diesen drei Besetzungen auch für Dich als Komponisten Unterschiede in der Herangehensweise? Und falls ja, wie ließen sich diese beschreiben?

Die erste war 1977/78 (Happening-Phase), dann 1979 bis 1987 (Urbesetzung mit Uli Scherer, Roman Schwaller, Bumi Fian, Lauren Newton etc.) dann 1988 bis 1997 (verschiedene szenische Konzeptprogramme wie Fe & Males oder VAO Plays for Jean Cocteau), dann 1998 bis 2008 (Big Band) und dann 2009/10 das Kammerorchester. Im Prinzip ging es bei jedem Programm um eine andere Herausforderung, die ich mir gestellt hatte. Bis 1987 passierte alles aus Zufall, unbewusst. Die Musik war einfach da. Aber ab dann musste ich sehr kämpfen. Erst ab 1998, also nach zehn Jahren, ging dann wieder fast alles wie von selbst. Außer bei dem Kammerorchester, da musste ich erst ganz vieles erfinden. Den Klassikern hatte ich die Soli z.B. ausgeschrieben, in untereinander kombinierbaren Mehrfachvarianten, so, dass sie jeden Abend etwas anderes spielen konnten.

Du hast bei der Auswahl Deiner Musiker immer Wert darauf gelegt, dass sie sich im Ensemble wohlfühlen, aber auch die Möglichkeit der solistischen Freiheit bewahren. Wie beugt man bei der langjährigen Tätigkeit mit einem Großensemble dem Satzspieler-Frust vor, der Bigbands durchaus eigen ist (in Deutschland spricht man gelegentlich von den Musikbeamten bei den Musikern, denen durch die Pflichtübung des Satzspiels ihre Kreativität abhandengekommen ist)? 

Die wichtigste Fähigkeit jedes guten Leaders ist – egal in welchem Bereich –, das Talent, die Mitspieler motivieren zu können. Und alle lebendigen Großformationen bestanden, im Gegensatz zu später entstandenen staatlich verordneten Klangkörpern, fast ausschließlich aus Solisten. Eine Bigband kann sehr schnell nach etwas klingen. entscheidend wird es dann, wenn die Soli beginnen! Und einen Solisten für einen ganzen Abend einzuladen, fand ich immer schon eine eigenartig konstruierte Idee, die es so nicht mal in der Klassik gibt. Jedenfalls kann man mit so einem Konzept die Mitspieler nicht motivieren! Und Satzspielen kann ja auch Spaß machen!

Du bist, ganz im Sinne Ellingtons, ein Komponist, der für die Persönlichkeiten der Musiker schreibt. Was genau ist das: die Persönlichkeit eines Musikers? Und wie macht sich das musikalisch fest? Und haben diese Musiker, für die Du schreibst, auch selbst Mitspracherecht? Rückkopplungsrecht?

Wenn man zusammen auf Tournee ist, dann will man natürlich den Solisten Parts vorlegen, die sie mögen und herausfordern. alles andere wäre absurd – und passiert hauptsächlich in einmaligen ›Projekten‹, in denen es zum guten Ton gehören kann, gegenMusiker und gegen den Klang der Instrumente zu schreiben.

Du hast ja schon die Fäden in der Hand gehalten im VAO. Hast Du Dich dennoch als primus inter pares verstanden in dieser als wilder Haufen gestarteten Truppe, die mit der Zeit immer mehr Form erhielt? Oder hat sich deine Rolle gegenüber dem Orchester gewandelt mit der Zeit?

Eigentlich war das VAO am Schluss ja immer (nur) ich. Eine Erkenntnis, zu der ich sehr spät gelangt bin, denn ich hatte mich ja immer sehr zurückgenommen. Anders gesagt: Die musikalisch-stilistische Entwicklung des VAO entspricht haargenau meiner eigenen. Vom Chaos zur (versuchten) Perfektion.

Dirigat

Du bist als Komponist der Garant für den Verlauf der Musik, aber auch als Orchesterleiter. Welchen Einfluss hat Deine Anwesenheit auf den Verlauf des Abends? Wie kannst Du steuern? Oder was kannst Du eben gerade nicht steuern?

Es verhält sich ziemlich genau wie im Fußball. Die wichtigste Arbeit des Trainers passiert vor dem Spiel. Gestikuliert wird fürs Fernsehen. Sein einzig konkreter Eingriff ins Spiel erschöpft sich durch Zeitpunkt und Wahl der Wechselspieler. Dazu bräuchte er aber nicht mal auf dem Spielfeld zu sein.

Das VAO mag zwar als Anarcho-Haufen begonnen haben, wie es immer wieder beschrieben wurde, hat aber sehr schnell eine Handschrift erhalten, die ganz klar Mathias Rüegg zuzuordnen war. Dem Komponisten Rüegg also. Inwieweit hast Du das VAO als Dein Instrument begriffen, wie es Ellington so oft nachgesagt wird…?

Nachdem ich als Klavierspieler – im Gegensatz zu Ellington – unfähig war, blieb mir gar keine andere Möglichkeit! Und siehe oben: Die Entwicklung des VAO war immer (auch) meine eigene. 

Du hast neben der Arbeit mit dem VAO (aber sicher auch durch sie) immer wieder Kompositionsaufträge für andere Besetzungen erhalten, Sinfonisches, Kammermusik oder kleinere Besetzungen und hast einmal gesagt, dass das eigentlich viel interessanter ist als für Bigband zu schreiben. Inwiefern unterscheidet sich das Schreiben für ein Dir erst einmal nicht bekanntes Ensemble vom Schreiben für bekannte Musiker wie die des VAO?

Ich habe immer liebend gerne für klassische Musiker geschrieben. Man muss die Musik nicht mit dem Solisten teilen. Wobei das eine eigene Kunst wäre, die früher alle beherrschten, heute nur noch wenige. Man ist also alleiniger ›Kreator‹ und für alles verantwortlich. Man kann nicht einfach ›swing in g-minor ad lib‹ schreiben.

Welches waren Deine Möglichkeiten der Leitung  des VAO? Hast Du Gesten, Blickdirigate, Lenkung der Band auch in improvisatorischen Partien entwickelt über die Jahre? Sind Dir die Musiker da immer gefolgt? Gab es Konflikte dabei, oder Missverständnisse?

Der Konzertmeister der Wiener Philharmoniker hat einmal zu einem Gastdirigenten, der sich mit dem Orchester anlegen wollte gemeint: Gut, aber dann spielen wir das, was Sie dirigieren…

Gibt es Unterschiede des Dirigats – sowohl in der Art wie auch in der Funktion des Dirigierens – in der Probe und des Dirigats während des Konzerts?

Das Einstudieren ist mit Abstand das Wichtigste. Der Rest sind vor allem Motivation und die richtigen Tempi.

Wie verstehst Du Deine Rolle als Dirigent vor der Band? Dein Kindheitstraum war, sagtest Du ja einmal im Gespräch mit Robert Menasse, Kapitän[22]. Gab es für Dich das Anliegen, als Dirigent auch eine gewisse Kontrolle über den improvisatorischen Fortlauf zu nehmen, um das Arrangement in der Gesamtheit zusammenzuhalten? Oder bist Du vor allem Einsatzgeber, Orientierungshilfe?

Stimmt! Die Produktionen der letzten 20 Jahre waren immer genauer festgelegt, so, dass es mich als reinen Dirigenten kaum gebraucht hätte. Aber ich war ja immer auch Road Manager, Reiseleiter, Finanzchef, Koordinator etc. 

Wenn Ihr bestimmte Stücke bereits etliche Male gespielt habt, wofür braucht es dann noch den Mann vorm Orchester? Sprich: Wie verändert sich die Aufgabe des Dirigenten mit der Repertoiregeläufigkeit der zu dirigierenden Musiker?

siehe vorherige Antwort

Zwei Deiner Helden sind gewiss Duke Ellington und Gil Evans. Der eine ein großer Showman, der andere ein eher im Hintergrund agierender Arrangeur. Ellington hat an jeder Stelle die Möglichkeit gehabt, Einfluss zu nehmen, durch seine Persönlichkeit, Bühnenpräsenz aber auch sehr präsente Art Klavier zu spielen. Evans hat das eher hintergründig getan, ebenfalls von den Tasten aus, aber eher als eine Art Sicherheitsbremse oder -antrieb, sollte man ihn brauchen. Wie hast Du Deine Rolle vor oder hinter dem Orchester gesehen?

Ich war auf der Bühne immer eher ›the man in the shadow‹. Und das war auch gut so, weil ich ja sonst ›omnipräsent‹ war. Zum Beispiel mit der Wahl der Musiker und der Techniker, mit der Wahl der Programme und deren dramaturgischen Umsetzungen etc. etc. Mit Gil Evans verband mich im Übrigen eine lose Freundschaft über mehrere Jahre. Und Duke hatte ich noch 1974 im Frühjahr (wenn ich mich richtig erinnere) bei einem seiner letzten Konzerte in Graz gehört. Aber eines meiner ganz großen Vorbilder am Anfang war Carla Bley! Ihre Musik hatte eine magische Wirkung auf mich. Erst später entdeckte ich nach und nach die vollständige Geschichte samt all ihrer großen Meister!


[1] Vgl. Glawischnig 1992, der statt des Begriffs ›Komponist‹ Hilfsbegriffe wie »Konzeptor, Struktur- oder Verlaufsplaner, Ideen-Lieferant, Erzeuger von Improvisationsvorlagen, Improvisations-Animator, Bezugsrahmen-Setzer, Erzeuger von Rahmenbedingungen, Steuermann von prozeßhaften Verläufen« einführt. (Dieter Glawischnig: Mitteilungen aus der musikalischen Praxis, in: Wolfram Knauer (Hg.): Jazz und Komposition, Hofheim 1992 (Wolke), S. 159-178; hier: S. 163

[2] Tom Lord: The Jazz Discography, Version 15.0 (2014) [CD-Rom]

[3] Cab Calloway & Bryant Rollins: Of Minnie the Moocher & Me, New York 1976 (Crowell), S. 62

[4] Ebd., S. 65-66

[5] https://www.youtube.com/watch?v=dtG5m7P56vk (aufgerufen am 28. Mai 2015)

[6] https://www.youtube.com/watch?v=LSC0zze3dz0 (aufgerufen am 28. Mai 2015); vgl. auch den kompletten Film Jivin‘ in Bebop, der Gillespies Eingebundenheit ins kommerzielle Showbusiness zeigt; https://www.youtube.com/watch?v=ZjIWIJTPwu4 (aufgerufen am 28. Mai 2015)

[7] Karla FC Holloway: Passed On. African American Mourning Stories. A Memorial, Durham/NC 2002 (Duke University Press), S. 175-176

[8] http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/f7/Duke_Ellington_-_Hurricane_Ballroom_-_Duke_directing_2.jpg (aufgerufen am 28. Mai 2015)

[9] The Ella Fitzgerald & Duke Ellington Cote D’Azur Concerts on Verve (Verve 314-539 033-2)

[10] https://youtu.be/4ZLvqXFddu0 (aufgerufen am 28. Mai 2015)

[11] http://www.conduction.us/ (aufgerufen am 28. Mai 2015)

[12] Klaus Härtel: Von Autopilot und Technik. Richard DeRosa über Unterschiede des Dirigats, in: Clarino.print, May 2015, S. 35

[13] Dieter Glawischnig gab seine Antworten auf die Fragen des Autors per e-Mail vom 15. April 2015.

[14] Andreas Fellinger: Aus der Kürze des Lebens. Morgen Samstag feiert der Pianist, Komponist, Big-Band-Leiter, Hochschullehrer und Musikwissenschaftler Dieter Glawischnig, ein Grazer in Hamburg, seinen 60. Geburtstag. Und zwar, wie es sich gehört, öffentlich: im Grazer Orpheum, in: Neue Zeit (Graz), 6.Mar.1998, S. 29

[15] NN: NDR-Bigband. Die dunkle Seite des Würfels. Kompositionen von Dieter Glawischnig, in: [Konzert-Werbeblatt], NDR Hamburg, 4.Feb.1994 (im Archiv des Jazzinstituts Darmstadt)

[16] Werner Burkhardt: Garstig swingendes Melodram. Dieter Glawischnig schreibt für die NDR Big Band, in: Süddeutsche Zeitung, 12./13.Feb.1994 (Ausriss im Archiv des Jazzinstituts Darmstadt)

[17] Oskar Aichinger: Third Stream. Anmerkungen zu offenen Fragen – Ein Interview mit Dieter Glawischnig, in: Jazzforschung/jazz research, #24 (1992), S. 183-189, hier: S. 186

[18] Hans Kumpf: Dieter Glawischnig. Das Verstehen von Musik ist für mich gleich wichtig wie das Machen, in: Jazz Podium, 43/10 (Oct.1994), S. 23-24, 26, 29-30; hier: S. 30

[19] Ekkehard Jost: Free Jazz. Stilkritische Untersuchungen zum Jazz der 60er Jahre, Mainz 1975 (Schott), S. 57

[20] Mathias Rüegg gab seine Antworten auf die Fragen des Autors per e-Mail vom 22. April 2015.

[21] Patrick J. Butler: Is 20 Years Enough? Mathias Rüegg is not sure if his Vienna Art Orchestra’s 20th anniversary is another highlight of its success or its grand exit, in: Down Beat, 64/9 (Sep.1997), S. 10-11; hier: S. 10

[22] Robert Menasse: …Zwischen Künstlern. Robert Menasse im Gespräch mit Mathias Rüegg, in: Jazz Zeit, #27 (Apr.2002), special supplement, S. 8-9; hier: S. 8


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