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Essays

Black Beauty – Black Power

Tradition und Revolution in der Musik John Coltranes, dargestellt an verschiedenen Interpretationen von „My Favorite Things“

Geschrieben für die Festschrift für Alfons Michael Dauer. Veröffentlicht in: Bernd Hoffmann & Helmut Rösing (Hgg.): ... Und der Jazz ist nicht von Dauer. Aspekte afro-amerikanischer Musik, Karben 1998, S. 309-332

John Coltrane gilt – nicht ohne Grund – als einer der wichtigsten und einflußreichsten Jazzmusiker der 1960er Jahre. Seine Musik wirkt wie ein Bindeglied zwischen den bebopverwurzelten Stilen der 1950er und dem Avantgarde-Jazz der 1960er Jahre. Der Free Jazz von Musikern wie Albert Ayler, Pharoah Sanders, Archie Shepp und anderen wird allgemein als eine Art musikalische „Revolution“ begriffen. Coltranes enormer Einfluß auf ebendiese Musiker macht ihn zu einem Vorbereiter der neuen Musik. Erfahrungsgemäß aber sind die Vorbereiter von Revolutionen in der Regel die größten Revolutionäre – sie nämlich sind es, die mit dem Alten brechen und damit das Neue ermöglichen. Sie auch sind das Bindeglied zwischen Tradition und Avantgarde, ohne das eine Revolution nicht auskommt – und eine musikalische Revolution schon gar nicht.

Als Kritiker in den 1960er Jahren Musiker wie Ornette Coleman, Cecil Taylor, aber auch John Coltrane hörten, fanden sie, daß hier etwas Neues heranwuchs, das sich deutlich von der swing- und bebopverhafteten Musik unterschied. Das schnelle Urteil der Kritiker lautete: Der Free Jazz dieser Musiker ist das ideale Beispiel für eine musika­lische Revolution, für eine Revolution, die soziale und gesellschaftliche Entwicklungen im Amerika jener Jahre widerspiegelte oder – dies die hoffnungsvolle Variante – vorweg­nahm. 

Vor allem linke amerikanische Kulturtheoretiker wie der weiße Journalist Frank Kofsky[1] und der schwarze Dicher LeRoi Jones (Amiri Baraka)[2] gehörten zu den Verfechtern solch einer Revolu­tionstheorie. Doch auch Musiker bekannten sich durchaus zu einer politischen Funktion ihrer Musik. Archie Shepp hat sich oft in diese Richtung geäußert[3]; 1964 nannte sich ein Festival, bei dem einige der jungen Avantgarde-Künstler auftraten, „October Revolu­tion“[4]; und 1971 gab es gar ein Trio mit dem Namen Revolutionary Ensemble, dem der Geiger Leroy Jenkins, der Bassist Sirone und der Schlagzeuger Frank Clayton ange­hörten. 

Der politische Inhalt dieser Entwicklungen betraf sowohl Titelgebungen, die Lyrik textierter Musik, öffentliche Aussagen der Musiker, die Teilnahme an politischen Aktivitäten, aber auch beispielsweise die konsequente Absage an Auftrittskonventionen des Jazz: Free-Jazz-Musiker spielten zum Teil extrem lange Stücke, die von ihrem Publikum volle Aufmerksamkeit forderten. Clubbesitzer waren darüber alles andere als glücklich, hatte diese Tatsache doch direkte Auswirkungen auf ihren Getränkeverkauf. Etliche Musiker gingen in Folge dazu über, ihre Konzerte selbst zu organisieren bzw sich neue Aufführungsorte für ihre Musik zu öffnen. Musikalische Entscheidungen zeitigten also durchaus konkrete Resultate in der Veränderung von Arbeits- und Präsentationsbedingungen.

In der Musik John Coltranes finden sich nur wenig Hinweise auf eine politische Aussage seiner Musik. Bis weit in die 1960er Jahre hinein spielte Coltrane Jazz­standards. Daneben gab es Nummern, deren Titel sich auf schwarz-amerikanische Geschichte – auch Musikge­schichte – beziehen – man denke an Titel wie „Africa“, „Spiritual“, „Afro-Blue“ usw. Ab Mitte der 1960er Jahre finden sich immer mehr Kompositionen, deren Titel auf eine neue Geistes­haltung weisen – auf Coltranes Faszination durch fernöstliche Philosophie. Seine Kompo­sitionen heißen jetzt „Peace on Earth“, „Out of This World“, „Compassion“, „Love“, „Sere­nity“, „Medita­tions“ usw. Von direktem politischem Bezug sind höchstens Titel wie „Reve­rend King“ – eine Anspielung auf Martin Luther King –, „Song of the Underground Railroad“ oder „Alabama“[5].

Exkurs: USA, 1960er Jahre

In der Folge des legendären Busboykotts in Montgomery, Alabama, fand die schwarze Bürgerrechtsbewegung der Vereinigten Staaten in Martin Luther King einen neuen und einflußreichen Führer. King war ein Revolutionär insofern, als er sein politisches Wirken an Idealen ausrichtete, die ein friedliches Zusammenleben von Schwarz und Weiß in der amerikanischen Gesellschaft zum Ziel hatten. Das „Revolutionäre“ am Handeln und Reden Kings also fand sich im Einfordern der verfassungsgemäßen Bürgerrechte für die Schwarzen – gewaltlos, aber mit höchsten moralischen Ansprüchen. Die Ermordung Martin Luther Kings mag sehr wohl als Beleg dafür angesehen werden, daß seine Art einer „friedlichen“ Revolution, die sich „auf dem Boden der Verfassung“ abspielte und nichts anderes tat als diese Verfassung immer und überall für alle Bürger der Vereinigten Staaten einzufordern, weitaus gefährlicher für ein reaktionäres und durchaus rassistisches Amerika war als die klare politische Frontenbildung, die die Propaganda der Black Muslims oder später der Black Panther Party bewirkte.

Die Black Muslims versuchten neue ethische, politische und kulturelle Werte zu setzen – mit dem Ziel, den schwarzen Amerikanern ihren Stolz auf die eigene Herkunft, auf ihre Geschichte und ihre Hautfarbe wiederzugeben. Der Slogan der späten 1950er Jahre „Black Is Beautiful“ deutet bereits auf diese Politik der Black Muslims hin. Die Muslims lieferten eine illusionslose und damit durchaus radikale Analyse der weißen Gesellschaft Amerikas und spielten auch dadurch eine wichtige Rolle bei der Radikalisierung der Bürgerrechtsbewegung. Malcolm X, der der Gemeinschaft der Black Muslims entstammte, sich aber Mitte der 1960er Jahre von ihr wieder trennte, wurde zu einem potentiellen Anführer des schwarzen Proletariats und wahrscheinlich auch aus diesem Grunde ermordet. Während der Slogan „Black Is Beautiful“ ein wachsendes Selbstbewußtsein der Schwarzen auf Hautfarbe und eigene Tradition einforderte, war der Ruf „Black Power“, der ab Mitte der 1960er Jahre in Amerika erscholl, eine noch weitaus radikalere Forderung nach Macht und Selbstbestimmung, eine Forderung nach dem Ausbruch aus dem Ghetto und damit ein Angriff auf den status quo der gesellschaftlichen Verhältnisse in den Vereinigten Staaten. 

Im „heißen Sommer“ 1964 kam es zu Rassenkrawallen in New York, Phila­delphia und Chicago. Im August 1965 gab es Rassenkrawalle im Schwarzen­viertel Watts in Los Angeles. Die Wahlverfahren in den südlichen Bundes­staaten verliefen trotz Kontrollen durch die Bundesbehörden nicht korrekt. 1966 führte die wachsende Radikalisierung der Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten zur Gründung der Black Panther Party, die die gewaltlose Politik von Martin Luther King und seinen Anhängern ablehnte und nun auch mit gewalt­tätigen Aktionen ihre Rechte einforderte. Bobby Seale, Huey P. Newton und Stokeley Carmichael nahmen für sich und ihre Black Panthers das Recht zur Selbstbewaffnung in Anspruch. Die Black Panthers organisierten ihre „Partei“ sehr straff und vergaben sogar Ämter mit Bezeichnungen wie „Verteidigungsminister“, „Informationsminister“ oder „Außenminister“[6].

Die Radikalisierung der Bürgerrechtsbewegung in den 1960er Jahren ließ Anfang der 1970er nach. Grund dafür waren gewiß auch veränderte Lebens­bedingungen der Schwarzen in den Vereinigten Staaten, deren Ursachen ohne Zweifel in den Aktionen der Bürgerrechtsbewegung begründet liegen. Auch das Vietnam-Trauma, das das politische Selbstbewußtsein Amerikas spätestens Ende der 1960er Jahre kräftig schrumpfen ließ, trug zu einer Aufweichung der Fronten bei. Bürgerrechtsgruppen wie NAACP (National Association for the Advancement of Coloured People), SNCC (Student Non-Violent Coordinating Committee), CORE (Congress of Racial Equality), SCLC (Southern Christian Leadership Conference), Black Muslims und Black Panthers hatten alle auf ihre Art und Weise Anteil daran, daß sich die Situation nicht nur des schwarzen Mittelstandes in den 1970er Jahren einigermaßen verbesserte. (Daß in den letzten Jahren wieder eine zunehmende Radikalisierung unter den Schwarzen insbesondere in den Großstadtghettos zu bemerken ist, daß die immer noch existierenden schwarz-islamischen Gruppierungen (heute: Nation of Islam) in letzter Zeit erheblichen Zulauf erfahren, hängt gewiß damit zusammen, daß unter der Politik Ronald Reagans und George Bushs die Schere zwischen Arm und Reich – und damit auto­matisch auch die Schere zwischen Weiß und Schwarz – wieder erheblich geweitet wurde. Die Einschnitte in den Sozialhaushalt, die Vernachlässigung staatlicher sozialer Aktivitäten, die Verelendung der Armenviertel in den großen Städten – betroffen sind natürlich vor allem die Schwarzen­viertel – all diese Entwicklungen der letzten Jahre sind Anlaß dafür, daß in Los Angeles und anderen großen Städten 1992 wieder Rassenkrawalle statt­fanden, die in Anlaß und Verlauf den großen Rassenunruhen der 1960er Jahre nicht nachstehen. Und in dieses Bild paßt auch der Aufstieg eines neuen „Anführers“ in der Person Louis Farrakhans[7], der trotz seiner offen antisemitischen, antifeministischen  und homophoben Äußerungen dazu in der Lage war, auch die schwarzen Intellektuellen zu mobilisieren, beispielweise bei dem von der Nation of Islam organisierten „Million Man March“ im Oktober 1995.) 


Die Revolte im Jazz

Als John Coltrane sich in den 1950er Jahren in verschiedenen Besetzungen um Miles Davis einen Namen machte, konnte von einer Revolutionierung der Musikszene und Jazzentwicklung keine Rede sein. Das Miles Davis Quintet oder Sextet der späten 1950er Jahre war nach wie vor in dem verwurzelt, was man gemeinhin als Hard Bop bezeichnet. Die modale Improvi­sationsweise, die Davis und Coltrane gemeinsam in dieser Gruppe kultivierten, war ein ganz folgerichtiger Versuch, harmonische Errungenschaften des Bebop weiterzuentwickeln. Dabei sollten aber zugleich formale Einengungen des Jazz überwunden werden, wie sie aus der dauernden Aneinanderreihung unzähliger gleich strukturierter und mit immergleichen Harmonieprogressionen versehener Chorusse resultierten. Beim modalen Spiel wurde der Improvisation eine bestimmte modale Skala zugrundegelegt, aus der die Musiker das Tonmaterial ihrer Soli ableiteten. Letzten Endes war die modale Spielweise von Davis, Coltrane und anderen ein Versuch, sich aus dem formalen Dilemma des Jazz jener Jahre zu befreien – der Third Stream, die Musik von Charles Mingus oder auch der frühe Free Jazz von Ornette Coleman oder Cecil Taylor waren andere Versuche, die aber aus demselben Grunde gestartet wurden[8].

All das war beileibe keine Revolution. Auch Coltranes erste eigene Gruppen basierten musikalisch durchaus noch auf dem, was der Saxophonist mit dem Miles Davis Quintet bekannt gemacht hatte: auf modal angelegten Improvisationsstrukturen, die Coltrane – genauso wie konventionelle Balladen oder andere Changes-Kompositionen – mit seinen Klangflächen, den sogenannten „sheets of sound“[9] füllte. Dies sind unregel­mäßigen Tongruppen, in denen der Saxophonist Akkorde aufbricht, so daß er aus seinem Instrument einen akkordischen Klangteppich auszubreiten scheint. In seinen frühen Bands entwickelte Coltrane diese Technik zu einer Meisterschaft, die erklärt, warum er bereits seit den frühen 1960er Jahren von – durchaus nicht nur jüngeren – Kollegen als Meister und Erneuerer seines Instrumentes betrachtet wurde.

Mit seinen „sheets of sound“ ging Coltrane über die vor allem harmonisch orientierte modale Improvisationsweise hinaus. Das war durchaus folgerichtig, da dem Aufbrechen der harmonischen Form im Jazz das Aufbrechen der metrischen Form geradezu folgen mußte, insbesondere dann, wenn in der Phrasenbildung eines Musikers wie Coltrane irreguläre Tongruppierungen immer wichtiger werden. Bei alledem allerdings gab Coltrane bis in die Mitte der 1960er Jahre hinein keineswegs die traditionellen Charakteristika des Jazz auf. Er spielte nach wie vor Standards, Eigenkompositionen über Changes, Balladen. Sein Ton hatte die ihm eigene Espressivität, jenen persönlichen Ausdruck, der im Jazz eine so wichtige Rolle spielt. Seine Bands arbeiteten nach wie vor mit der Aufgabenteilung in Melodie- und Rhythmusgruppe, eine Aufteilung, die von anderen Musikern – Taylor, Coleman – ja durchaus in Frage gestellt wurde. 

Knapp gesagt: Es gab Anfang der 1960er Jahre weitaus avanciertere Beispiele des improvisierten Jazz. Ornette Coleman und Cecil Taylor hatten sich – jeder auf seine Weise – in freiere Sphären vorgewagt. Selbst der Third Stream eines Gunther Schuller mit Improvisationspartien durch Coleman oder Eric Dolphy schien gewagter und „revolutionärer“ als die durchaus konventionelle Musik Coltranes[10]. Ende 1962 nahm Coltrane die Platte „Ballads“ auf, die man heute ohne weiteres als Partyhintergrund laufen lassen könnte, ohne daß sich irgend jemand aufregte[11]. Anfang 1963 erschien das „Lush Life“-Album mit Johnny Hartman[12]. Erst 1964 folgten mit „A Love Supreme“[13] oder „Ascension“ (1965)[14] und anderen Platten jene Aufnahmen, die – zumindest in der Retrospektive – verstehen ließen, warum Coltrane musikalisch als revolutionär begriffen wurde. 

Im Oktober 1958 und im Juli 1960 ging John Coltrane mit einigen Musikern ins Studio, die gemeinhin der anderen Seite jener Jazzentwicklung zugerechnet werden, die wir als Free Jazz bezeichnen: mit Cecil Taylor (under dessen Namen diese Aufnahmesitzung lief) und Don Cherry. Mit Taylor und dem Trompeter Kenny Dorham entstand 1958 die Platte „Coltrane Time“[15], die an keiner Stelle das über­schreitet, was im Hardbop jener Jahre üblich war – abgesehen höchstens von den stilistisch widerborstigen Klaviereinwürfen Taylors. Die Plattensitzung für „The Avant-Garde“[16] von 1960 mit Don Cherry und anderen Musikern aus dem Umfeld Ornette Colemans ist vor allem durch drei Coleman-Kompositionen geprägt sowie durch die Coleman verbundene Spielkonzeption. In beiden Fällen handelt es sich also nicht etwa um eine gleichberechtigte Begegnung Coltranes mit Musikern und Spielkonzepten der damaligen Avantgarde, sondern eher um Sessions, bei denen Coltrane wie eine Art Gaststar wirkt, der sich in das Repertoire und die Spielauf­fassung seiner Mitmusiker einzupassen hat. Das Ganze ermöglicht somit zwar einen Einblick, inwieweit Coltranes Spielauffassung mit dem Konzept der jungen Avant­garde kompatibel ist, zeigt aber vor allem die Anpassungsfähigkeit Coltranes in unterschiedlichen musikalischen Umgebungen. In „The Avant-Garde“ wirkt Coltrane wie ein – durchaus willkommener – Fremdkörper in der bis zum fehlenden Klavier hin durchgestalteten Ornette Coleman-Besetzung. 

Ornette Coleman und Cecil Taylor haben sich nie direkt auf Coltrane bezogen, um darin ihr eigenes Spielkonzept zu rechtfertigen. Zwischen den drei Musikern gab es durchaus grundsätzliche Unterschiede. Coltrane stand für harmonische, Taylor für tonale und Coleman für melodisch/rhythmische Umwälzungen[17]. Musiker um und nach Coltrane kümmerten sich also vor allem um harmonisch-klangliche Neuerungen; die Coleman-Gruppe konzen­trierte sich auf die Ausbildung einer melodisch-motivisch orientierten Improvisation; und die Musiker, die sich um Taylor scharten, waren besonders am Gruppenklang interessiert, an klangorien­tierter Kollektivimprovisation und einer durch­aus emotionalen musikalischen Kommunikation. 

Die Gruppe um Coleman wurde nur zu leicht des „Intellektualismus“ verdächtigt, hatte sie doch intensive Kontakte zu den Third Streamern um Gunther Schuller und John Lewis – Coleman wirkte bei einigen Konzerten des Orchestra USA mit, mit dem Schuller und Lewis ihre Ideen einer breiteren Öffentlichkeit vorstellen wollten. Dieser Kontakt zu einer Art „intellektuellen“ Jazzszene aber machte sie als musikalische „Revolutionäre“ durchaus verdächtig. Wollten nicht Schuller, Lewis und andere Third Streamer mit ihrer Idee des Zusammenbringens verschiedener Traditionen die „afro-american heritage“ aufweichen, der schwarzen Musik ein ästhetisches Werte­schema überstülpen, das aus Europa importiert war[18]?

Cecil Taylors scheinbarer Bruch mit vielen offensichtlichen Traditionen war nicht weniger problematisch. Zu individuell und eigensinnig war sein Konzept, zu wenig auf ein Verständnis oder zumindest ein emotionales Nachempfinden angelegt, als daß diese Musik das Charisma der Revolution hätte erlangen können. Und genau hier liegt viel­leicht ein Grund dafür, daß statt derer, die musikalisch viel weiter zu gehen schienen als Coltrane, gerade dieser den Ruf des Revolutionärs innehatte.

John Coltrane wurde in den 1960er Jahren nicht zuletzt deshalb von etlichen Wort­führern der schwarzen Sache für sich vereinnahmt, weil seine Musik sehr viel deut­licher in einer soul- und bluesdurchwirkten Tradition zu stehen schien als dies bei Taylor oder Coleman der Fall war. Auch seine Wendung zu fernöstlichen Denk­haltungen lag durch­aus auf einer Wellenlänge mit Entwicklungen der Zeit. Die Wendung zum Islam, die in jenen Jahren in der schwarzen Gesellschaft Amerikas so populär war, war ja nichts anderes als die Suche nach einer neuen auch spirituellen oder religiösen Identität – eine bewußte Absage an das Christentum, das zwar die afro-amerikanische Geschichte so bedeutend geprägt hatte, von den angry black men der 1960er Jahre aber dennoch in erster Linie als eine Religion der weißen Welt angesehen wurde. Coltranes spirituelle Wendung zu fernöstlichen Denk- und Lebens­weisen war weit weniger politische Aussage als die neu angenommenen islamischen Namen der Black Muslims[19]. Dennoch war die Wirkung seines neuen Auftretens – vielleicht auch nur wegen der Ausdeutung durch die schwarzen Kulturpäpste der Zeit – eine durchaus politische. 


Coltrane und die ästhetische Diskussion der 1960er Jahre

Der Mythos des Revolutionärs Coltrane ist eigentlich nur mit Wissen um die ästhetische Diskussion der 1960er Jahre zu verstehen, in der schwarze Kulturtheoretiker wie LeRoi Jones (Amiri Baraka), Ron Karenga und andere eine wichtige Rolle spielen.

Karengas Auffassung von schwarzer Kunst ist schnell zusammengefaßt: „All art“, so sagt er, „must reflect and support the Black Revolution, and any art that does not discuss and contribute to the revolution is invalid“.[20]

LeRoi Jones präzisiert 1965 über die Musik John Coltranes: „Trane is a mature swan whose wing span was a whole new world. But he also showed us how to murder the popular song. To do away with weak Western forms.“[21] In seiner Autobiographie beschreibt Jones dieses „revolutionäre“ Element in Coltranes Musik weiter: „(…) he’d play sometimes chorus after chorus, taking the music apart before our ears, splintering the chords and sounding each note, resounding it, playing it backwards and upside down trying to get to something else. And we heard our own search and travails, our own reaching for new definition. Trane was our flag.“[22] 

Und Miles Davis assistiert: „Trane’s music and what he was playing during the last two or three years of his life represented, for many blacks, the fire and passion and rage and anger and rebellion and love that they felt, especially among the young black intellectuals and revolutionaries of that time. He was expressing through music what H. Rap Brown and Stokely Carmichael and the Black Panthers and Huey Newton were saying with their words, what the Last Poets and Amiri Baraka were saying in poetry. He was their torchbearer in jazz, now ahead of me. He played what they felt inside and were expressing through riots – „burn, baby, burn“ – that were taking place everywhere in this country during the 1960s. It was all about revolution for a lot of young black people – Afro hairdos, dashikis, black power, fists raised in the air. Coltrane was their symbol, their pride – their beautiful, black revolutionary pride.“[23]

Der amerikanische Literaturwissenschaftler William J. Harris stellt Coltrane in die Tradition des signifyin‘, der Kodierung und Verschlüsselung schwarzer Tradition, die sich in der schwarz-amerikanischen Volkskultur bis in unsere Tage gehalten hat[24]. Coltrane, so sagt er, benutzt diese Tradition des signifyin‘ in Bezug auf die weiße Song-Tradition, wenn er einen Musical-Schlager wie „My Favorite Things“ musikalisch auseinandernimmt, scheinbar eine Parodie schafft, die aber durchaus in der schwarzen Tradition der Aneignung weißer Werte (Sprache, Gestik, Religion, Bildlichkeit etc.) liegt[25]. Und diese Art der Aneignung und gleichzeitigen Umbewertung einer weißen musikalischen Ästhetik ist es wohl, die Coltranes Musik auch vielen Wortführern der 1960er Jahre als revolutionär gelten ließ, obwohl die ausgeprägte Individualität seiner Musik dem Konzept eines „sozialistischen Realismus“ doch völlig entgegenstand, an das sich viele der schwarzen Wortführer jener Jahre anlehnten[26].

Versteht man Coltranes Musik so wie LeRoi Jones, so mag man tatsächlich eine Parallele sehen zu den Forderungen der jungen zornigen Theoretiker, den Schwarzen Nationalisten, die ab Mitte der 1960er Jahre zu Wortführern der Schwarzen­bewegung in den Vereinigten Staaten wurden. Läßt sich ein solches Konzept aber tatsächlich in der Musik Coltranes festmachen? Steht Coltrane nicht selbst in seinen späten Aufnahmen immer noch fest in der Tradition der jazzge­mäßen Aneignung musikalischen Materials? Ist es wirklich ein Unterschied, ob Coleman Hawkins „Body and Soul“ interpretiert, Charlie Parker „Just Friends“ oder John Coltrane „My Favorite Things“? Eine Analyse der verschiedenen von Coltrane eingespielten Versionen dieser letztgenannten Komposition kann verdeutlichen, was Jones mit dem „Auseinandernehmen“ des popular song meint, mit dem Aufbrechen der formalen Struktur, für das Coltrane die ursprüngliche Komposition selbst funktionalisiert.


„My Favorite Things“, Komposition

„My Favorite Things“ wurde vom Komponisten Richard Rodgers und vom Textdichter Oscar Hammerstein II. 1959 für das Musical „The Sound of Music“ verfaßt. Die Komposition hat eine relativ einfache Themenstruktur (A1-A2-A3-B) und ist auch harmonisch eher simpel konzipiert (vgl. Abbildung 1). Die Teile A1 und A2 stehen in e-Moll, A3 in der Dur-Variante E-Dur, der Teil B schließlich führt in die Dur-Parallele G-Dur. Den Teilen A2 und A3 steht jeweils ein Vamp voran – vor A2 in e-Moll, vor A3 in E-Dur. Der 3/4-Takt ergibt sich aus dem Musical-Plot, der im Österreich des Jahres 1938 angesiedelt ist. 

„My Favorite Things“, 1960[27]

Coltranes bekannteste Aufnahme vom Oktober 1960[28] war eine der ersten und ist sicher die bekannteste Jazz-Version des Musical-Hits. Die Grundstruktur des Arrangements arbeitet mit einer konstanten Abwechslung von thematischen Teilen und Improvisation über dem durchgehenden Dreierrhythmus von Klavier, Baß und Schlagzeug (vgl. Formschema Abbildung 2). Alle Thementeile hintereinander erklingen in korrekter Reihenfolge zum Schluß – in der ersten Hälfte unterbrochen von langen Improvisationspartien. Ausgangspunkt der modalen Improvisationsteile der Aufnahme sind jeweils die Einleitungs-vamps der einzelnen Formteile (s.o.) in e-Moll bzw. E-Dur. In der Gewichtung zwischen Thema und Improvisation allerdings entsteht dabei der Klangeindruck, das die Improvisationsteile den jeweils vorangegangenen A-Teilen folgen, nicht wie ein vamp auf die jeweils nächsten hinzielen (Vergleich des generellen Formverlaufs der Originalkomposition und der Coltrane’schen Versionen vgl. Abbildung 1). Bei der Themenvorstellung zu Beginn sind diese Improvisationsteile mit acht bzw. 16 Takten noch relativ kurz, nehmen im Klavier- bzw. Sopransaxophonsolo dann bis zu 18 Achttaktern ein. A1 und A2 des Sopransaxophonsolos sind in den Improvisationsablauf eingepaßt, A3 und ein verfremdeter B-Teil werden – ohne zwischengeschaltete Improvisation – zum thematischen Abschluß der Aufnahme. Während McCoy Tyners Solo kaum melodische Erfindung enthält und über lange Strecken wie ein ausgedehnter vamp wirkt – und damit eigentlich ganz in der Atmosphäre der Originalkomposition bleibt –, entwickelt Coltrane dynamische Steigerungspartien, die schließlich zum jeweils neuen Themenstatement zurückführen. Die stete Abwechslung thematischer und improvisierter Partien innerhalb der Struktur der zugrundeliegenden Komposition – also nicht in der im Jazz üblichen Chorusreihung – ist Programm, und so wirkt es auch ganz folgerichtig, daß der B-Teil erst am Schluß der Aufnahme erklingt. Die ganze Realisation ist damit quasi eine Erweiterung der inneren Struktur von „My Favorite Things“, wobei erst das vollständige Statement aller Teile in Sopransaxophonsolo und thematischem Abschluß beim (vorgebildeten) Hörer das Schlußerlebnis bewirkt.

„My Favorite Things“, 1962

Bei einer Live-Einspielung aus dem Village Vanguard von 1962[29] stößt der Flötist Eric Dolphy zum klassischen Coltrane-Quartett. Dolphy stammt nicht – wie der spätere Coltrane-Partner Pharoah Sanders – aus der Coltrane-Schule, sondern bildete seinen Stil eher aus Third-Stream-zugeneigten Erfahrungen in den Gruppen Chico Hamiltons und in der New Yorker Szene um Gunther Schuller und John Lewis. Er arbeitet in seinem Solo über „My Favorite Things“ mit motivischen Floskeln, die – an Anfang und Ende der Improvisation gesetzt – fest geformte Bestandteile seines „Favorite Things“-Solos in jener Zeit bei Coltrane zu sein scheinen. Er nutzt Überblas­techniken in einem „zahmeren“ Sinne als dies bei Pharoah Sanders und späteren Free-Jazz-Musikern der Fall ist. Coltranes Sopransaxophonsolo in dieser Fassung zeichnet sich dadurch aus, daß die Intensität seiner Improvisation scheinbar mit der erreichten Tonhöhe zusammenhängt und nicht so sehr durch rhythmische oder klangliche Elemente bewirkt wird. Mitten im Solo finden sich motivisch-thematische Bezüge. Im Ablauf der Realisation aber gleicht die Aufnahme dem Ablaufkonzept von 1960.

„My Favorite Things“, 1963

Eine Live-Einspielung vom Newport Jazz Festival des Jahres 1963 läßt konzeptionelle Konstanten und bewußte Änderungen der Struktur erkennen. In der Einspielung, die auf der LP „Selflessness“ veröffentlicht wurde[30], wird noch einmal die Standardisierung des Themenstatements Coltranes deutlich: Es mündet sowohl in den frühen als auch in den späteren Interpretationen immer wieder in eksta­tischer Höhe, aus der dann entweder der neue Themenbeginn hervorbricht oder sich die stilisierte Improvisation entwickelt. Die typisch Coltranesche Spielweise – das Aufbrechen von Akkorden, die Sequenzierung von Skalen­fragmenten etc. – spielt auch in der Fassung von 1963 eine wichtige Rolle. Wie 1960 und 1962, anders aber als in späteren Aufnahmen wird 1963 der Walzerrhythmus des Themas an jeder Stelle beibehalten, so daß während der ganzen Realisation ein thematischer Bezugsrahmen besteht – wenn auch aufgebrochen durch ausgedehnte modale Phasen. Stärker als in den vorangegangenen Versionen wirkt Coltranes Solo vor dem Schlußthema 1963 wie eine lang ausgedehnte Kadenz, die im Thema ihre Auflösung erfährt – eine Wirkung, die dadurch verstärkt wird, daß diesem Schlußthema gleich noch einmal eine modale Improvisation Coltranes folgt.

„My Favorite Things“, 1966

Vom Mai 1966[31] schließlich stammt eine Live-Version, die erhebliche auch konzeptionelle Unterschiede zu den bisher diskutierten Fassungen aufweist. Ihr geändertes Konzept wiederholt sich auch in weiteren Mitschnitten aus der Mitte der 1960er Jahre[32]. Neben Coltrane am Sopransaxophon sowie in den Dialogpassagen an der Baßklari­nette spielen in dem Mitschnitt eines Konzertes aus dem New Yorker Club Village Vanguard Pharoah Sanders (Tenorsaxophon, Flöte), Alice Coltrane (Klavier), Jimmy Garrison (Baß), Rashied Ali und Emanuel Rahim (Schlagzeug). 

Coltrane selbst äußerte sich zu den Änderungen im Konzept von „My Favorite Things“: 

„In ‚My Favorite Things‘ my solo has been following a general path. I don’t want it to be that way because the free part in there, I wanted it to be just something where we could improvise on just the minor chord and the major chord, but it seems like it gets harder and harder to really find something different on it. I’ve got several landmarks that I know I’m going to get to, so I try to play something in between that’s different and keep hoping I hear something different on it. But it usually goes always the same way every night. I think that 3/4 has something to do with this particular thing. I find that it’s much easier for me to change and be different in a solo on 4/4 tunes because I can play some tunes I’ve been playing for five years and might hear something different, but it seems like that 3/4 has kind of got a straight jacket on us there!“[33] 

Eine der wichtigsten Änderungen in der Interpretation der Mitt-60er Jahre ist dementsprechend der Verzicht auf eine durchgängige 3/4-Metrik in den Improvisationspartien sowie der Verzicht auf das Themenstatement von A1 und A2 im zweiten Abschnitt, in dem freie Improvisation vorherrscht (vgl. das Ablaufschema dieser Einspielung, Abbildung 3).

Ein Klaviersolo, wie es in den Versionen mit McCoy Tyner immer gleich nach der Themenexposition zu finden ist, fehlt in der Fassung vom Mai 1966. Nach einem fünf-minütigen, thematisch unabhängigen – und auf der Schallplattenveröffentlichung auf die andere Plattenseite gepreßten – Baßeinleitung beginnt Coltrane mit einem langen modalen vamp, in dem er das harmonische Material ausbreitet – über geduldigen Klavierakkorden und intensivem Schlagzeugspiel. Unter dem ersten Themenstatement hält die Rhythmusgruppe die modale Atmosphäre bei, so daß die Melodie des ein­gängigen Themas harmonisch verfremdet scheint, damit aber zugleich der Weg geöffnet ist zu einer Improvisation, deren thematischer Zusammenhang mehr im Atmosphärischen liegt als in den vorangegangenen Fassungen. Das folgende Themenstatement ist immerhin sehr viel deutlicher – hier tritt die Themenform weit stärker in den Vordergrund. 

Coltrane tritt zurück und Pharoah Sanders beginnt im tiefen Register sein Tenorsaxophonssolo – wie erwähnt ohne Themenstatement. Aber auch im Melodischen scheint Sanders‘ Solo weit weniger als Coltranes Spiel zuvor einen direkten Zusammenhang mit dem Songthema aufzuweisen. Ein harmonischer Grundriß ist nicht mehr vorhanden, tonale Bezüge sind nur stellenweise noch erahnbar, und auch die metrische Grundlage wird vollständig aufgebrochen. Sanders‘ kreischend überblasene Klangketten wirken teilweise wie das Spiel eines Besessenen. Coltrane ist im Hintergrund mit antreibenden Rufen auf der Baßklarinette zu hören. Nach einem energiegeladenen Klimax fällt die Intensität Sanders‘ ab, um gleich darauf in einem Dialog der beiden Saxophonisten erneut zu erstehen – dies quasi die Überleitung zum Sopransaxophonsolo Coltranes. Coltrane arbeitet über deutlich reduziertem perkussivem Grund und nunmehr wieder durch­scheinender modaler Basis. Er benutzt harmonisch/modal identifizierbare Motiv­ketten, Skalenbrechungen, bei denen die jeweils erreichte Tonhöhe die Intensität der Musik anzeigt – nicht also rhythmische, klangliche oder sonstwelche Parameter. Das Ganze wirkt über weite Strecke durchaus etüdenhaft – kurze Skalen/Akkordbrechungen, die in Sequenzen über das ganze Instrument jagen. Ein letztes Themenstatement (A3 und B) scheint das zwischen­durch Passierte zurücknehmen zu wollen, sorgt im Ausklangsdialog von Sopransaxophon und Flöte für eine weltfremde – und damit versöhnliche? – Atmosphäre. 

Es ist erstaunlich, wie hier das bekannte, sangliche Thema quasi im Nachhinein das gesamte über 20-minütige musika­lische Geschehen zu harmonisieren scheint, wie es vielleicht tatsächlich ein wenig wirkt, als sei das Auseinanderbrechen der thematischen Grundlage – die „Revolution“ gegen die Herrschaft von Chorus und Harmonik – Basis einer neuen Ordnung, Voraussetzung einer völligen Aneignung des Materials. Das alles aber ist – wie man immer wieder betonen muß – durchaus nicht neu. Auf der Idee „per aspera ad astra“ basieren letzlich etliche musika­lische Konzepte – ob im Kopf des Komponisten oder in der Reflexion des Theoretikers –, allen voran die die europäische Musik des 18. und 19. Jahr­hunderts so bestimmende Sonatenform, in der in durch ein Aufbrechen der anfänglichen Thematik eine Auseinandersetzung mit dem musikalischen Material stattfindet, die schließlich dazu führt, das in der Reprise das Thema quasi „geläutert“, in neuem Licht erscheint. Natürlich ist Coltrane oder ist überhaupt der Jazz weit davon entfernt, mit Formmodellen der europäischen Musikgeschichte verglichen werden zu können. Und doch sind gerade bei so deutlichen und einprägsamen Themen wie in „My Favorite Things“ die Argumente eines LeRoi Jones denen der Theoretiker des 19. Jahrhunderts durchaus vergleichbar. Auf einem etwas krude definierten musikalischen Terrain sehen sie hier den Weg beschrieben, den die schwarze Kunst, die schwarze Gesellschaft, die „Black Power“ nehmen müsse: in einer Aneignung weißer Werte durch Revolution.


Im Vergleich der verschiedenen Fassungen von „My Favorite Things“ von John Coltrane läßt sich feststellen: 

Ein Grund für die Faszination Coltranes durch den relativ simplen Walzer von Rodgers und Hammerstein mag gerade darin begründet liegen, daß es sich um sehr einfache und einprägsame Harmonien handelt, um eine Melodik, die eigentlich diese Harmonik nur noch unterstützt, um eine Reihungsform (A1-A2-A3-B), in der ein Aufbrechen des Chorus einfacher ist als in der im popular song sonst üblichen Reprisenbarform. Schon Coltranes Themenstatement zeigt, welche von üblichen Chorusstrukturen abweichende Vorstellung der Saxophonist von einem optimalen Ablauf über „My Favorite Things“ hatte: Er deutet den in der ursprünglichen Komposition kurzen vamp als Hauptmoment, ja geradezu als Ziel- und Höhepunkt seiner Interpretation. Coltranes Konzept bewerkstelligt den Aufbruch der musikalischen Form damit aus der ursprünglichen Komposition heraus und mündet in einen Formverlauf, in welchem alle Bestandteile – Einleitung, thematische Partien, Soli – dem dramatischen konzipierten Gesamtverlauf untergeordnet sind, ohne das die Solisten dabei eingeschränkt wären. Wenn erst am Ende das vollständige Thema erklingt, wird dem Hörer ganz unbewußt der Zusammenhang dieser so unaufdringlich durchkonzipierten Form bewußt. 

Coltrane kombiniert nebenbei meisterhaft traditionelle Elemente – ein Walzerthema, das in durchaus tänzelnder Manier formuliert wird – und freie Improvisation — wobei die Freiheit vor allem die harmonische Freiheit ist, die Coltrane in den späten 1950er Jahren durch seine Meisterschaft in der modalen Improvisation errungen hat. Coltrane ist es gelungen, diese modale Improvisationsweise auf eine Komposition des american popular song anzuwenden, nicht – wie bei Davis – auf eigens geschriebene Stücke, denen das modale Schema von vornherein zugrundelag. Und dazu entwickelt er sie auch noch aus der Komposition selbst heraus – gewiß ein Musterbeispiel für den prozeß des signifyin‘ in afro-amerikanischer Musik. Diese Art eines „revolutionären Aktes“, den Coltrane der Musik angedeihen läßt, diesen signifyin‘-Prozeß des Umdeutens eines Schlagers in genuine afro-amerikanische Musik meinte LeRoi Jones – der ja 1965 nur die frühen Aufnahmen kannte –, wenn er das Aufbrechen überkommener Strukturen in Coltranes My Favorite Things hervorhob.

Coltranes späte Phase wird gern dadurch gekennzeichnet, daß der Saxopho­nist all die musikalischen Erfahrungen und Entwicklungen, die er in früheren Jahren gesammelt und durchgemacht hatte, zusammengefaßt habe, daß er nunmehr sozusagen „aus dem Vollen“ schöpfen konnte. Vielleicht ist wirklich etwas dran an der Charakterisierung der „reifen Phase“, mit der verschiedene Kritiker die Jahre 1965 bis 1967 bei Coltrane zu beschreiben versuchten. Solch eine Reife zeichnet sich beispielsweise darin aus, daß Coltrane keinen der zuvor eingeschlagenen Wege mit „Scheuklappen“ verfolgt, sondern das Vokabular, die musikalische Grammatik, aus der sich sein Personalstil zusammensetzt, durchaus auch inkonsequent – nämlich im Dienste der Musik (!) – verwendet. Ekkehard Jost schreibt mit Bezug auf die letzten Jahre Coltranes: „So wurde von der Modalität kaum noch Gebrauch gemacht; und die Ausnahme, nämlich die Einspielung des alten, mit Coltranes Werdegang so eng verknüpften Standards „My Favorite Things“, bestätigt auch hier nur die Regel.“[34] Tatsächlich aber zeigt sich in der Aufnahme mit Pharoah Sanders, daß auch dieses modale Prinzip in den späten Jahren nicht immer ganz folgerichtig durchgeführt wird, daß andere Momente stärker im Vordergrund stehen, benennt man sie nun als Emotionalität, Spiritualität oder Transzendenz des musikalischen Materials – alles Begriffe, die im Zusammenhang mit Coltrane gern angeführt werden. 


Schluß

Wenn man musikalisch vom Neuerer oder gar vom Revolutionär Coltrane spricht, so meint man vor allem den Einfluß, den der Saxophonist auf ihm nachfolgende Musiker hatte – auf Saxophonisten wie auf andere Instrumentalisten. Und man meint gemein­hin nicht erst die Aufnahmen von 1966 oder 1967, sondern schon die der Atlantic-Jahre um 1960, die der Impulse-Platten von 1961 bis 1965, wenn man an den Coltrane denkt, dessen Virtuosität und Spielkonzept so einflußreich auf die Jazzentwicklung war. In „My Favorite Things“ wird besonders deutlich, wie das Konzept für ein Stück, das als Feature für modale Improvisation ins Repertoire genommen wurde, sich im Laufe der Jahre verändern kann, um neuen musikalischen Ausdrucksformen gerecht zu werden, ohne daß das freie Spiel Mitte der 1960er Jahre als völlige Rebellion gegen das festere Schema der frühen Aufnahmen aufzufassen wäre. Das Etikett des Revolutionärs Coltrane – so gut es auch die neue Geisteshaltung charakterisieren mag – verschleiert jene Qualitäten, die bei dem Saxophonisten weit mehr im Vordergrund stehen als das Umstürzlerische: seine Fähigkeit nämlich, kreativ mit der musikalischen Tradition umzugehen, der er ent­stammt. 


[1] Frank Kofskys Artikel erschienen sowohl im führenden Jazzblatt Down Beat als auch in anderen einflußreichen US-Magazinen. Vgl. Frank Kofsky: Black Nationalism and the Revolution in Music, New York 1970, eine Sammlung von Aufsätzen, die ursprünglich Mitte der 1960er Jahre erschienen waren.

[2] LeRoi Jones: Blues People. The Negro Experience in White America and the Music that Developed from It, New York 1963; ders.: Black Music, New York 1967

[3] Vgl. – stellvertretend für viele ähnliche Stellen – Valerie Wilmer: Jazz People, London 1977, S. 153 ff (Kapitel „The Fire This Time“); Archie Shepp: An Artist Speaks Bluntly, in: Down Beat, 32/26 (16.Dezember 1965), S. 11, 42

[4] Vgl. Ekkehard Jost: Sozialgeschichte des Jazz in den USA, Frankfurt/Main 1982, S. 212 f; Dan Morgenstern und Martin Williams: The October Revolution. Two Views of the Avant Garde in Action, in: Down Beat, 31/30 (19.November 1964), S. 15, 33

[5] Africa auf Africa/Brass (Impulse 6); Spiritual auf Coltrane Live at the Village Vanguard (Impulse 10); Afro-Blue auf Coltrane Live at Birdland (Impulse 50); Peace on Earth auf Infinity (Impulse 9225); Out of This World auf Live in Seattle (Impulse 9202-2); CompassionLove und Serenity auf Meditations(Impulse 9110); Reverend King auf Cosmic Music (Impulse 9148); Song of the Underground Railroad auf Africa/Brass Vol. 2 (Impulse 9273); Alabama auf Coltrane Live at Birdland (Impulse 50). Coltrane selbst übrigens empfand die politische Funktion seiner Musik als zweitrangig. In einem Interview kurz vor seinem Tod antwortete er auf die Frage „Quelques musiciens ont dit qu’il ya un rapport entre certaines des idées de Malcolm [X] et la nouvelle musique. Le penses-tu?“: Je crois que la musique étant une expression du coeur et de l’être humain, elle exprime justement ce qui se passe, la totalité des expériences de la vie à un moment donné. Vgl. Frank Kofsky: John Coltrane. Un interview inédite, in: Le Jazzophone, 16 (November 1983), S. 38.

[6] Vgl. Gene Marine: The Black Panthers, New York 1969

[7] Zu Louis Farrakhan vgl. Henry Louis Gates: The Charmer, in: The New Yorker, 9. April & 8. Mai 1996, S. 116-131

[8] Zu den Entwicklungen zwischen Bebop und Free Jazz vgl. Wolfram Knauer: Zwischen Bebop und Free Jazz. Komposition und Improvisation des Modern Jazz Quartet, Mainz 1990

[9] Ekkehard Jost: Free Jazz. Stilkritische Untersuchungen zum Jazz der 60er Jahre, Mainz 1975, S. 114 f

[10]   Zur Bedeutung des Third Stream in jenen Jahren vgl. Wolfram Knauer, Zwischen Bebop und Free Jazz, S. 80-82, 310-316

[11]   Impulse 32

[12]   Impulse 40

[13]   Impulse 77

[14]   Impulse 95

[15]   United Artists 5638

[16]   Atlantic 1451

[17]   Vgl. A.B. Spellman: Plattentext zu The Avantgarde, Atlantic 1451

[18]   Vgl. Gunther Schuller: Third Stream Redefined, in: Saturday Review, 44 (13. Mai 1961), S. 54 f.

[19]   Unter Jazzmusikern finden sich Beispiele bei Art Blakey (Abdullah Ibn Buhaina), Kenny Clarke (Liaquat Ali Salaam), Yusef Lateef (Geburtsname: William Evans) u.a.

[20]   Ron Karenga: Black Cultural Nationalism [1968], in: Addison Gayle, Jr. (Hg.): The Black Aesthetic, New York 1971, S. 33

[21]   LeRoi Jones: Black Music, New York 1967, S. 174

[22]   LeRoi Jones: The Autobiography of LeRoi Jones/Amiri Baraka, New York 1974, S. 176

[23]   Miles Davis & Quincy Troupe: Miles. The Autobiography, new York 1989, S. 285-286

[24]   William J. Harris: The Poetry and Poetics of Amiri Baraka, Columbia 1985, S. 19 f. 

[25]   Auch Henry Louis Gates sieht Coltranes Interpretation von My Favorite Things als formale Parodie des Musicalschlagers. Er betont: Resemblance thus can be evoked cleverly by dissemblance. Vgl. Henry Louis Gates, Jr.: The Signifying Monkey. A Theory of African-American Literary Criticism, New York 1988, S. 104

[26]   Auch LeRoi Jones/Amiri Baraka weist in diesem Zusammenhang dezidiert auf My Favorite Things, vgl. Amiri Baraka: The „Blues Aesthetic“ and the „Black Aesthetic“. Aesthetics as the Continuing Political History of a Culture, in: Black Music Research Journal, 11/2 (1992), S. 106

[27]   Die ausgewählten vier Coltrane-Versionen von My Favorite Things sollen die Entwicklung in Coltranes Interpretation dieses Stücks verdeutlichen. Neben den im Text genannten Einspielungen gibt es etliche weitere Versionen, die vor allem in – oft illegalen – Live-Mitschnitten auf Schallplatte veröffentlicht wurden. Eine Übersicht über sämtliche Aufnahmen Coltranes gibt Yasuhiro Fujioka: John Coltrane. A Discography and Musical Biography, Metuchen/New Jersey 1995. Fuijoka verzeichnet allein 47 Coltrane-Versionen von My FavoriteThings – wobei er allerdings sowohl veröffentlichte als auch nicht-veröffentlichte Aufnahmen und Mitschnitte zählt.

[28]   Atlantic 1361

[29]   Jazz Anthology/Musidisc 30 JA 5184. Eine weitere, im Aufbau vergleichbare Version von My Favorite Things mit Eric Dolphy stammt aus einem Live-Mitschnitt vom November 1961 (Rhino R2 71255: John Coltrane Anthology: The Last Giant)

[30]   Impulse 9161

[31]   Impulse AS 9124

[32]   Z.B. Tokio 1966, Impulse IMR 9036 C

[33]   Zit. nach Ralph J. Gleason, Plattentext zu John Coltrane: Olé Coltrane, Atlantic 1373

[34]   Ekkehard Jost: Free Jazz. Stilkritische Untersuchungen zum Jazz der 60er Jahre, Mainz 1975, S. 111

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