„On Patrol in No Man’s Land“

Eine Würdigung der Aufnahmen von James Reese Europe

Dieser Aufsatz erschien ursprünglich im Jazz Podium vom Mai 2019 (allerdings natürlich ohne die hier ergänzten YouTube-Audioclips).

Zwischen 1913 und 1919 machte James Reese Europe knapp 40 Aufnahmen, die die Jazzgeschichtsschreibung meist als „Vorformen“ des Jazz oder als „Proto-Jazz“ einstuft. Sie lohnen eingehenderes Hinhören, und zwar bewusst mit einem Verständnis dafür, dass das alles weder nach ODJB noch nach King Oliver oder anderen Aufnahmen klingt, die wir zumeist als Maßstab für den frühen Jazz benutzen. Zugleich aber kann man an ihnen bereits recht deutlich ablesen, welche Faszination die in ihnen spürbare afro-amerikanische Spielhaltung auf ihre Hörer gehabt haben mag.

James Reese Europe’s Society Orchestra: „Down Home Rag“ (Dezember 1913)

Vom Dezember 1913 etwa stammt der „Down Home Rag “ aus der Feder Wilbur Sweatmans. In beiden jeweils 48taktigen Themen des Titels hören wir vor allem den etwa sechsköpfigen Geigensatz, der die Melodie über dem stetigen Rhythmus von fünf Banjos und Mandolinen vorträgt. Hinter diesen klar komponierten, in unbändigem Tempo und deutlich zum Tanzen animierenden Melodien stechen vor allem die antreibenden Rufe heraus, die so etwas wie eine jazzmäßige Gegenbewegung zum Ragtime-typischen Hauptteil des Stücks darstellen.

James Reese Europe’s Society Orchestra: „Too Much Mustard“ (Dezember 1913)

In „Too Much Mustard“ von derselben Aufnahmesitzung muss man genau hinhören, um die Einsätze von Klarinetten und Kornett sowie die auch hier antreibenden Zwischenrufe wahrzunehmen.

James Reese Europe’s Society Orchestra: „Castle House Rag“ (Februar 1914)

Im „Castle House Rag“ vom Februar 1914 fehlt der Banjo/Mandolinensatz, dafür kommen Posaune und Flöte hinzu und scheinen Klavier und Schlagzeug klarer durch, wobei der Schlagzeuger auch gleich noch das Glockenspiel bedienen und zum Schluss der Aufnahme Solobreaks füllen darf.

James Reese Europe’s Society Orchestra: „Castle Walk“ (Februar 1914)

Im Arrangement über „Castle Walk“ von derselben Aufnahmesitzung stehen nicht allein die rhythmische Wirkung im Vordergrund, sondern daneben auch Harmonik, Form und Klangwechsel sowie einzelne kurze Solopartien. Und bei „You’re Here and I’m Here“, einer Broadway-Komposition von Jerome Kern, sollte man sich vor allem auf die verschiedenen Schlagzeugtechniken fokussieren, die das Ganze begleiten. 

Was bei all diesen frühen Aufnahmen Europe fehlt ist: Improvisation – zumindest eine, wie wir sie kennen. Es gibt einzelne Breakpartien und kurze, aber scheinbar vorgeplante, wenn nicht gar ausgeschriebene solistische Ideen, dagegen weder Soli noch Kollektivimprovisationen im Sinne des späteren Jazz. Nun sind diese frühen Tondokumente keine Liveperformances, sind an ein zeitliches Limit von zweieinhalb bis drei Minuten gebunden und erlauben damit all die Interpretationsmöglichkeiten nicht, die der Band – wie wir aus Berichten über ihre Konzerte wissen – bei Auftritten durchaus möglich war. 

Im Herbst 1916 wurde James Reese Europe damit beauftragt, für das 15te Infanterieregiment der US-Armee eine Kapelle aufzubauen. Es folgte ein landesweiter Aufruf, und als die 2.000 Soldaten des Regiments am Neujahrstag 1918 den Fuß auf französischen Boden setzten, waren unter ihnen auch die Musiksoldaten, die bereits am 12. Februar 1918, an Lincolns Geburtstag, in Nantes ein öffentliches Konzert gaben. Der Sänger Noble Sissle, der auch als Geiger und Tambourmajor mit dabei war, beschreibt für einen Artikel im St. Louis Post-Dispatch vom 10. Juni 1918, wie dieses Konzert das französische Publikum nicht nur mit ihrer Interpretation der „Marseillaise“ in den Bann zog. Der zweite Konzertteil, erinnert er sich, begann mit John Philip Sousas „Stars and Stripes Forever“, dann kam ein Arrangement mit „Plantagenmelodien“, schließlich der mitreißende „Memphis Blues“. Er beschreibt ganz konkret die improvisatorische Atmosphäre, in der die Musiker bald dem Vorbild ihres Dirigenten folgten, die militärische Haltung sein ließen, die Augen schlossen und spielten, was das Zeug hielt. „Cornet and clarinet players began to manipulate notes in that typical rhythm (that rhythm which no artist has ever been able to put down on paper), as the drummers struck their stride their shoulders began shaking in time to their syncopation. Then, it seemed, the whole audience began to sway, dignified French officers began to pat their feet, along with the American General, who, temporarily, had lost his style and grace. (…) The audience could stand it no more, the ‚jazz germ‘ hit them and it seemed to find the vital spot loosening all muscles and causing what is known in America as an ‚eagle rocking it‘. (…) All through France the same thing happened. Troop trains carrying allied soldiers from everywhere passed us en route, and every head came out of the window when we struck a good old Dixie tune. Even German prisoners forgot they were prisoners, dropped their work to listen and pat their feet to the stirring American tunes.“ (zit. nach Kimball/Bolcom 1973: 68)

Europes Musiker waren zusammen mit ihrem Bandleader auch im Kampfeinsatz. Im September nahm das 369ste Regiment (wie es jetzt hieß) an der Maas-Argonnen-Offensive teil, bei der mehr als 150 seiner Soldaten fielen. Im November gelangte Europes Band zusammen mit der 15ten Infanterie an den Rhein und spielte in den nächsten Monaten in ganz Frankreich, vor amerikanischen, britischen, französischen, belgischen oder italienischen Verwundeten genauso wie vor der französischen Bevölkerung auf Plätzen und in Parks. Die Begeisterung war ihnen überall gewiss. Mit ihnen war der Jazz als eine afro-amerikanische Spielhaltung in Europa angelangt, nicht auf Schallplatte, sondern so, wie er idealerweise gehört werden sollte: als Liveperformance, als eine geradezu körperliche Erfahrung, die sich dem Intellekt zu entziehen schien, der die westeuropäische Kultur damals prägte. 

Lieut. Jim Europe’s 369th U.S. Infantry Band (Hell Fighters). „On Patrol in No Man’s Land“ (März 1919)

Nach der Rückkehr nach New York ging Europe im März 1919 mit einer auf 20 Musiker reduzierten Besetzung seiner Hellfighters ins Studio. Diese Aufnahmen erlauben uns zumindest eine vage Vorstellung dessen, was in Frankreich so begeistert hatte. Da gibt es Stücke wie „On Patrol in No Man’s Land“, zu dem Europe, wie er erzählt, die Idee im Schützengraben gekommen sei und dessen von Noble Sissle gesungener Text den Kriegseinsatz beschreibt. Man hört aus dem Orchester heraus erzeugte Klänge, die an Sirenen, Bombenexplosionen, Handgranaten, Maschinengewehrfeuer, schreiende Männer erinnern, eine effektvolle Kriegsgeräuschkulisse, über die sich die Band in exaktem Zusammenspiel setzt und der Sissles Broadway-Tenor einen tröstend-versöhnlichen Klang entgegenhält.

Lieut. Jim Europe’s 369th U.S. Infantry Band (Hell Fighters). „All of No Man’s Land Is Ours“ (März 1919)

„All of No Man’s Land Is Ours“ handelt von der Rückkehr des Soldaten aus dem Krieg zu seiner Liebsten und ist ein weiteres Beispiel dafür, wie sehr die Band an einer afro-amerikanisch geprägten Version des Broadway-Schlagers beteiligt war. Es sind die Inflektionen, nicht nur in Sissles Gesang, sondern auch in den begleitenden Posaunen und Klarinetten, die klar machen, dass alle Musiker aus derselben Tradition stammen, aus der sich zur gleichen Zeit auch der Jazz speiste.

Lieut. Jim Europe’s 369th U.S. Infantry Band (Hell Fighters). „Memphis Blues“ (März 1919)

Noch stärker ist dies in den Nummern aus der Feder W.C. Handys zu spüren. „Memphis Blues“ ist dafür vielleicht das beste Beispiel. Auch hier gibt es zwar kaum Improvisation, dafür aber enorm effektvoll ineinandergreifende Satzpassagen von Posaunen, Klarinetten und Trompeten sowie kurze Breaks. 

Heute hört man solche Passagen kaum mehr als Solo, doch war das Solo in dieser Art von Musik bis in die Mitt-1920er Jahre hinein ja noch keinesfalls der Höhepunkt der Performance. Es ging im Jazz der Original Dixieland Jazz Band genauso wie anderer früher Ensembles um die Energie, die aus dem Zusammenspiel der verschiedenen Leadstimmen entstand, aus der Abwechslung von Kollektiv und kurzen Soli, aus der Wiederholung eingängiger Passagen, aus dem antreibenden und zum Tanzen animierenden Rhythmus, der dem Ganzen zugrunde lag. Wenn wir den „Memphis Blues“ und viele der anderen Aufnahmen von 1919 mit Europes Aufnahmen von 1913/14 vergleichen, so fällt auf, dass die Arrangements komplexer geworden sind, mit ineinandergreifenden Stimmen, die in der Faktur durchaus an das erinnern, was die Original Dixieland Jazz Band zur selben Zeit spielte, auch wenn es bei dieser, weil einfach besetzt, „improvisierter“ wirkt als hier. Es zahlte sich aus, dass es Europe gelungen war, für die einzelnen Instrumentalsätze der Kapelle professionelle Satzführer zu verdingen, die dafür sorgten, dass alle Stimmen präzise gespielt wurden, ohne dass dadurch die rhythmische Energie und das Gefühl von Spontaneität verloren gingen. 

Lieut. Jim Europe’s 369th U.S. Infantry Band (Hell Fighters). „Plantation Echoes“ (März 1919)

Im Repertoire finden sich fast schon programmatisch intendierte Stücke wie „Plantation Echoes“, das verschiedene Stimmungen des Landlebens im Süden musikalisch überhöht und in Stephen Fosters operettenhaft gesungenen „Swanee River“ sowie einem meisterlich genommen Arrangement von „I Wish I Were in Dixie“ gipfelt.

Lieut. Jim Europe’s 369th U.S. Infantry Band (Hell Fighters). „Jazz Baby“ (März 1919)

Für die Aufnahmesitzung vom 14. März hatte Eubie Blake einige Stücke beigesteuert, „Jazz Baby“ etwa, das sich textlich über die neue musikalische Mode auslässt, oder „Mirandy“, das den Erfolg vorausahnen lässt, den Sissle and Blakes Show  „Shuffle Along“ zwei Jahre später am Broadway haben würde.

Lieut. Jim Europe’s 369th U.S. Infantry Band (Hell Fighters). „Miranda“ (März 1919)
Lieut. Jim Europe’s 369th U.S. Infantry Band (Hell Fighters). „That Moaning Trombone“ (März 1919)

Und „That Moaning Trombone“ stellt die Posaunengruppe mit virtuosen Glissandobreaks heraus, eine insbesondere in afro-amerikanischen Blechkapellen des frühen 20sten Jahrhunderts beliebte Klangfarbe, die hier aber nicht etwa solistisch, sondern gleich im Chor des ganzen Posaunensatzes getätigt wird.

Lieut. Jim Europe’s 369th U.S. Infantry Band (Hell Fighters). „Broadway Hit Medley“ (März 1919)

Das „Broadway Hit Medley“ zeigt, welch unterschiedliches Repertoire zwischen Marsch, Walzer, Ballade und Blues die Band zu spielen hatte, und wie wichtig Europe typische Intonationsformen des frühen Jazz waren, etwa in den Growls der Blechbläser.

Lieut. Jim Europe’s 369th U.S. Infantry Band (Hell Fighters). „Ja-Da“ (März 1919)
Lieut. Jim Europe’s 369th U.S. Infantry Band (Hell Fighters). „The Darktown Strutters‘ Ball“ (März 1919)

Spätere Jazzstandards wie „Ja-Da“ oder „The Darktown Strutters‘ Ball“ belegen die musikalische Disziplin in der Band, geben aber auch eine Vorstellung davon, dass insbesondere in einer Musik, die von Wiederholung lebt, klangliche Kontraste wichtig sind, sowohl im Arrangement wie auch in der Spielweise. Und schließlich finden sich hier erste Passagen, die nun deutlich als Soli erkennbar sind. 

Lieut. Jim Europe’s 369th U.S. Infantry Band (Hell Fighters). „That’s Got ‚em“ (März 1919)

Noch zwei Tage vor Europes Tod ging die Band ins Studio, um einige ihrer aus heutiger Sicht vielleicht jazz-haltigsten Titel einzuspielen. In „That’s Got ‚em“ von Wilbur Sweatman hört man einerseits noch die Haltung der Militärkapelle durch, ahnt andererseits aber bereits, was jemand wie Fletcher Henderson wenig später aus solchem Material machen würde.

Lieut. Jim Europe’s 369th U.S. Infantry Band (Hell Fighters). „Clarinet Marmelade“ (Mai 1919)

Vor allem nimmt sich die Band mit Larry Shields und Henry Ragas‘ „Clarinet Marmelade“ eines Klassikers an, der einerseits den Vergleich mit der Original Dixieland Jazz Band aufdrängt, an deren Aufnahme sich Europes Ensemble deutlich abarbeitet, andererseits vorausahnen lässt, wie dieses Stück in den 1920er Jahren interpretiert werden würde. Insbesondere der Klarinettensatz lässt einen unweigerlich an Hendersons oder Don Redmans Klarinettentrios denken.

James Reese Europe war von dem Erfolg seiner Band in Europa selbst erstaunt und erkannte, dass es nicht so sehr das Repertoire war, von dem das Publikum begeistert war, als vielmehr jener grundlegende Unterschied zwischen einer europäischen und einer afro-amerikanischen Art musikalischer Artikulation. Die Phrasierung, die gebeugten Töne, der Umgang mit Harmonik, rhythmische Aspekte, Dynamik, das Einflechten von Breaks und das Zulassen von Improvisation – all das unterschied sich deutlich von der strengen Interpretation insbesondere europäischer Militärkapellen. Europe war stolz darauf, dass seine Band die Musik so spielte, wie sie geschrieben stand, aber er war nicht weniger stolz auf die neuen Klangnuancen, das Spiel mit Dämpfern etwa, auf den anderen Ansatz, auf eine musikalische Identität, von der er sagte: “ It is natural for us to do this; it is, indeed, a racial musical characteristic.“

Das Wort „Jazz“ war damals noch ganz neu und noch lange nicht einzig mit jener Musik verbunden, mit der wir es heute identifizieren. Bereits 1919 aber attestierte der Journalist Charles Welton der 369th Regiment Band, sie habe „Frankreich mit Jazz gefüllt“. James Reese Europes Auftritte jedenfalls waren wie eine Art Public Relations-Maßnahme für ein neues Genre: Ihr Erfolg machte afro-amerikanische Musik in Europa populär. Die Mitglieder seiner Band beeinflussten Musiker vielleicht nicht auf dieselbe Art und Weise wie die Schallplatten aus den frühen 1920er Jahren oder Tourneen afro-amerikanischer Künstler wie Sam Wooding und Arthur Briggs. Aber sie ebneten den Weg für die Popularität, die der Jazz in den 1920er Jahren erfahren sollte. James Reese Europes Erfolg brachte Schlagzeilen hervor wie jene in der New York Age vom 8. Februar 1919: „French Now Want Colored Musicians From the United States“, und war ein Grund dafür, dass einige seiner Bandmitgliederm unter ihnen eben jener Arthur Briggs (der wegen seines jungen Alters nicht mit nach Frankreich gekommen war), der Posaunist Herb Flemming oder der Schlagzeuger Buddy Gilmore in den 1920er Jahren nach Europa zurückkehrten. 

Die Begeisterung für die Hellfighters Band wurde in Frankreich immer mit der Befreiung des Landes assoziiert. Die Würde und die Ernsthaftigkeit, mit der James Reese Europe und seine Männer ihre Aufgabe der Truppenunterhaltung mit ihrer eigenen Art von Musik wahrnahmen, stellte daneben aber auch ein wichtiges Statement an die eigene Community dar. Die Musiker seiner Band machten ja nicht nur Eindruck auf die europäischen Zuhörer, sondern beeinflussten genauso das ästhetische Selbstbewusstsein Afro-Amerikas. Nach seiner Rückkehr jedenfalls fasste James Reese Europe dies geradezu programmatisch zusammen: „We won France by playing music which was not a pale imitation of others, and if we are to develop in America we must develop along our own lines…“

Wolfram Knauer (April 2019)


Wem biographische Details fehlen: Im Jazz Podium vom Mai 2019 wurde James Reese Europes Biographie von Gabriel Anion erzählt. Europes Musik wurde in den vergangenen Jahren insbesondere durch ein Projekt des Pianisten Jason Moran wiederentdeckt: „From the Dancehall to the Battlefield“.

Literatur:

Reid Badger: A Life in Ragtime. A Biography of James Reese Europe, New York 1995 (Oxford University Press)

Robert Kimball & William Bolcom: Reminiscing with Sissle and Blake, New York 1973 (The Viking Press)

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