Jazz as a musical practice of the present
This essay was published in Musik und Ästhetik, Jg. 22, Heft 86, April 2018: 80-84 (Link zur Zeitschrift here)
Es war kurz nach der Jahrtausendwende, dass ich empfand, vielleicht sei es ja gar nicht so falsch, den Jazz als Musik des 20sten Jahrhunderts zu begreifen, in der Vergangenheitsform also, wo doch seine Zukunft eher im Zusammenfließen mit anderen Genres und Kunstformen zu liegen schien, in klanglichen Explorationen, die mit dem wenig gemein haben würden, was wir bis dahin als „Jazz“ verstanden. Überall gab es Diskussionen über den Begriff. In Deutschland wollte man lieber von „aktueller“ Musik sprechen und darunter alle musikalischen Diskurse subsumieren, die sich kreativ mit der gesellschaftlichen und ästhetischen Gegenwart auseinandersetzten. In den USA wollten Musiker den Begriff Jazz durch jenen einer Black American Music (oder kurz: BAM) austauschen, der dann auch alle anderen Formen kreativer afro-amerikanischer Musik beinhalten könnte, ohne dass man sich groß zu rechtfertigen habe. Die Diskussion um den Jazz, der spätestens seit den 1960er Jahren zu einer globalen Kunst geworden war, begann jener zu ähneln, die sich auch im politischen Alltag abspielte: Globalität beinhaltet einerseits, dass Andere Inhalte zumindest mit-definieren, die auch das persönliche Umfeld betreffen, andererseits aber auch, dass kulturelle Ursprünge in Vergessenheit geraten. In Bezug auf unser Thema akzeptieren beide Argumente dabei eine Position, die wir dem Jazz schon lange nicht mehr zugestanden: dass er nämlich zutiefst politisch sei, dass demnach auch seine Definition oder das Sprechen über ihn Haltungen wiedergebe und beeinflusse.
Mit „Black Lives Matter“ wurde zumindest in den USA Musik ganz allgemein wieder politischer. Die ersten Reaktionen auf die Übergriffe der Staatsgewalt insbesondere auf Afro-Amerikaner, fanden in der text-besetzten populären Musik statt, und da insbesondere in weithin sichtbaren Statements: Princes Video „Baltimore“ von 2015 etwa[1], Kendrick Lamars Auftritt anlässlich der Grammy-Verleihung von 2016[2] oder Beyonces Salut an die Black Panthers in der Pause des Super Bowl im selben Jahr[3]. Der Jazz als eine instrumentale Musik schien es da weit schwerer zu haben, ein Statement zu setzen. Und doch waren es gerade die Musiker an der vordersten Front der amerikanischen Jazzentwicklung, die ihre Musik immer auch politisch deuteten. Der Pianist Vijay Iyer etwa, der 2013 in seinem „Veterans‘ Dreams Project“ verstörende Berichte von Kriegsveteranen aus Afghanistan über die Träume verarbeitete, die sie nicht mehr loslassen[4]; der Trompeter Terence Blanchard, der sein letztes Album „Breathless“ nannte, in Anspielung auf Eric Garners verzweifelte Rufe „I can’t breathe“, während er im Schwitzkasten der New Yorker Polizei ums Leben kam[5]; der Trompeter Christian Scott aus New Orleans, der in seinen Konzerten keinen Hehl daraus macht, dass er als Musiker auch eine politische Verantwortung verspürt[6]; oder der Saxophonist Kamasi Washington, der sich in der Musik eines Konzerts, das er am 25. Juli 2015 in Los Angeles zusammen mit Jazz- und Hip-Hop-Musikern gab, auf die Unruhen im schwarzen Stadtteil Watts von 1965 und 1992 bezog und das alles wie selbstverständlich in Bezug zur Gegenwart von „Black Lives Matters“ stellte[7]. In den USA kann auch der instrumentale Jazz dabei immer noch auf die Botschaft seiner Entstehung aus der afro-amerikanischen Kultur heraus zurückgreifen. Wie aber sieht es in Deutschland aus?
Bis in die 1970er Jahre hinein war der politische Kontext von Jazz und improvisierter Musik auch hierzulande durchaus greifbar. Die Musik war ja von den Amerikanern durchaus als ein politisches Instrument eingesetzt worden, um in den Zeiten des Kalten Kriegs durch die Improvisation und die Individualitätsästhetik des Jazz quasi ein Beispiel zu geben, wie sich in demokratischen Prozessen Dinge aushandeln lassen, an denen alle beteiligt sind, in denen sich vor allem aber auch alle wiederfinden. In den späten 1960er Jahren passten freiere Improvisationsformen durchaus in die Diskurse der Studentenbewegung, und noch in den 1970er und 1980er Jahren war, gestützt durch soziologische Studien klar[8], dass der Jazzhörer eher links und gesellschaftskritisch als rechts und gesellschaftlich etabliert sei. Die Distinktion, die man sich selbst als Jazzhörer zuschrieb, war auf jeden Fall eine der Individualität, des „Anders-Sein“ vom Mainstream. Die Misere des „Anders-Seins“ ist allerdings, dass auch dieses über die Jahre einen Konnotationswandel durchmacht und dass das, was in den 1960er Jahren als revolutionär angesehen wurde, bald ein wenig verstaubt und altbacken wirkte – zumal die Revolutionäre von damals inzwischen selbst gealtert waren und für die Schnelligkeit der digitalisierten und globalisierten Welt oft wenig Verständnis aufbrachten.
In den 1990er Jahren erhielt der Jazz hierzulande immer stärkeren Kunstmusikstatus, was sich auch in seiner Förderung niederschlug. Jazz, so war der allgemeine Konsens in den über Fördergelder entscheidenden Gremien, sei ein wichtiger Beitrag zum Kulturdiskurs unserer Zeit, ein bisschen vielleicht die Forschungsabteilung der heutigen Musik, die im Idealfall in die Zukunft gerichtet sei statt vor allem zurückzublicken. Und tatsächlich verbindet sich mit dem Jazz als einer aktuellen Musik in Europa und ganz speziell in Deutschland der Richtungsfokus aufs musikalische und künstlerische Experiment – anders als etwa in den Vereinigten Staaten, wo diese Bereiche – experimentell, konventionell – weit weniger getrennt sind und sich die Akteure beider Welten der Notwendigkeit der jeweils anderen meist bewusst sind.
Wie also bezieht der Jazz im Deutschland des Jahres 2018 Stellung? Wenn sich Anna Lena Schnabel für die Freiheit ihrer Kunst und gegen Repertoire-Dreinreden der Veranstalter beim ECHO Jazz wendet[9], oder wenn Christopher Dell die Praktiken der Improvisation in seiner Musik als Technologien gesellschaftlichen Zusammenwirkens versteht[10], ist dies natürlich auch jeweils eine politische Haltung. Wenn Gunter Hampel, ein Urgestein des deutschen Jazz, noch heute den Jazz und die mit ihm verbundene Improvisation als wichtiges Bildungsideal gerade auch für Kinder und Jugendliche versteht (und dies durch Schulworkshops auch eigenständig weiter betreibt)[11], ist dies ein klares Statement. Wenn Musiker sich in allgemeine Kulturdiskussionen wie etwa zum House of Jazz einmischen[12] oder in den Bundesländern genauso wie im Bund für die eigene Sache und damit auch für die der experimentellen Kunst streiten[13], so ist dies insbesondere dann ein politischer Akt, wenn sie immer mehr gehört werden.
Man kann meinen, dass Jazzmusiker genug damit zu tun haben, ihr Überleben durch Musik zu organisieren, dass also die Reaktion auf Gesellschaft, Politik, Umwelt, Fremdenhass und anderes, was die Diskurse der Zeit umtreibt, zurückstehen müsse hinter dem Organisieren von Gigs, Tourneen, Aufnahmen oder einfach nur von Geld. Man mag meinen, dass der Jazz durch seine Verortung innerhalb der Zeitgenössischen Musik (mit großem „Z“, also ein wenig näher der Neuen Musik als anderen Formen experimenteller Sparten) zu sehr zu einer „Kunst“musik geworden sei, die sich – l’art pour l’art – selbst genug ist und auf nichts anderes mehr verweist als eben auf sich selbst. Man mag meinen, dass Jazz all das gesellschaftlich nach vorne Schauende immer schon vorgelebt habe, den Dialog zwischen den Kulturen, die Freiheit und Individualität der Improvisation, die Rebellion gegen gefestigte Strukturen, den Willen auszubrechen, neu zu mischen, Risiken einzugehen. Wenn also Musik für sich ein Statement des Wagnis ist, wieso muss dies dann an konkreten Beispielen aus dem Gegenwartsalltag noch exemplifiziert werden?
Sprich: So einfach wie in den USA scheint es hierzulande nicht zu sein, politisch zu werden mit Musik – und sei es nur in den Titeln der Stücke oder den Ansagen, die die Musiker auf der Bühne machen. Und doch wird gerade Jazz, wird gerade die Improvisation nach wie vor als etwas ungemein Politisches wahrgenommen – von denen, die sie machen genauso wie von seinen Hörern und selbst von denjenigen, denen diese Musik ein Buch mit sieben Siegeln bleibt. Joachim Ernst Berendt hat vom inhärent Widerständigen des Jazz gesprochen[14], und bei aller romantischer Sichtweise des deutschen Jazzpapstes, dem diese Musik ja tatsächlich geholfen hatte, ein Statement des Anti-Nazismus zu befördern, ist bis heute etwas daran. Wenn Christian Lillinger mit seinem Septett Grund freie Improvisation und ausgetüftelte Komposition in energetisch geladene Abläufe lenkt[15]; wenn das Trio DRA mit Christopher Dell, Christian Ramond und Felix Astor komplexeste Kompositionen so mit Improvisationen zu verweben in der Lage ist und dabei im Verlauf des Sets unabgesprochen und doch wie aus einer Hand die Richtung zu wechseln vermag[16]; wenn Julia Hülsmann in ihrem Projekt „songs for double trio and three voices“ vordergründig die „Lieblingssongs“ der Bandmitglieder spielt, dabei aber auf lange Musiziertraditionen Europas zwischen Folklore und Experiment zurückgreift[17] – und neben diesen ließen sich etliche ähnliche Beispiele anführen –, dann ist all das zuvorderst musikalisch. Weil es aber im Musikalischen Grenzen sprengt, zwischen individuellen Aussagen, zwischen Komposition und Improvisation, zwischen Genres, zwischen Traditionen, führt es vor, was wir uns vielleicht ja auch für die Gesellschaft erhoffen. Was wäre denn politischer als die Utopie erschaffen – und sei es mit musikalischen Mitteln?!
Der Jazz schien mir, schrieb ich zu Beginn dieses Textes, zur Jahrtausendwende eine Musik des vergangenen Jahrhunderts. Als Stil und Genre schien er damals an einem Endpunkt angekommen. Der Denkfehler aber war – und ist –, diese Musik überhaupt als einen Stil, als ein Genre zu begreifen. Tatsächlich ist Jazz bis heute – und das lässt einen neugierig in die Zukunft dieser Musik blicken – eine musikalische und damit automatisch auch eine gesellschaftliche Praxis, in der das kreative Miteinander-Auskommen in immer neuen Konstellationen erprobt wird und in dem die Beteiligten (und das sind eben immer auch die Hörer) erleben, dass aus dem Experiment Neues genauso entstehen kann wie scheinbar Bekanntes, aber aus einer neuen Perspektive Erlebtes.
Wolfram Knauer (Januar 2018)
[1] Prince: „Baltimore“, Juli 2015; https://youtu.be/cieZB0Ab7xk
[2] Kendrick Lamar: „The Blacker The Berry“ and „Alright“; Grammy-Show, Februar 2016; https://www.theverge.com/2016/2/15/11004624/grammys-2016-watch-kendrick-lamar-perform-alright-the-blacker-the-berry
[3] Beyoncé: „Formation“, Super Bowl 50 Halftime Show, 2016; https://youtu.be/c9cUytejf1k (ab 7:00)
[4] Vijay Iyer: „Holding It Down: The Veterans‘ Dreams Project“. Performance aus dem Metropolitan Museum of Art, New York, November 2015; https://www.metmuseum.org/metmedia/video/concerts/holding-it-down-veterans-dreams-project-vijay-iyer
[5] Terence Blanchard & The E-Collective: „Breathless“ | Live Studio Session, 2015; https://youtu.be/y9pl1XakxJ8
[6] Z.B. „The Coronation of X aTunde Adjuah“, aus der „Ruler Rebel“-Trilogie, 2017; https://soundcloud.com/ropeadope/the-coronation-of-x-atunde-adjuah-feat-elena-pinderhughes
[7] Kamasi Washington, August 2015; http://www.laweekly.com/video/kamasi-washington-unites-jazz-and-hip-hop-musicians-in-honor-of-the-watts-rebellion-65-and-la-uprising-92-wb95c2sd
[8] Z.B.: Rainer Dollase & Michael Rüsenberg & Hans J. Stollenwerk: Das Jazzpublikum. Zur Sozialpsychologie einer kulturellen Minderheit, Mainz 1978; Peter Köhler & Konrad Schacht: Die Jazzmusiker. Zur Soziologie einer kreativen Randgruppe, Freiburg 1983; Fritz Schmücker: Das Jazzkonzertpublikum. Das Profil einer kulturellen Minderheit im Zeitvergleich, Münster 1993
[9] Vgl. Video „Der Preis der Anna-Lena Schnabel“, ausgestrahlt am 21. Oktober 2017 auf 3sat; http://www.3sat.de/page/?source=/musik/194584/index.html
[10] Vgl. http://www.christopher-dell.de
[11] Vgl. http://gunterhampelmusic.de/?page_id=206
[12] Z.B. die IG Jazz Berlin, vgl. http://www.ig-jazz-berlin.de/house-of-jazz/
[13] Z.B. die Bundeskonferenz Jazz, vgl. http://www.bk-jazz.de/ oder die Union Deutscher Jazzmusiker, vgl. http://www.u-d-j.de/
[14] Vgl. z.B. Joachim Ernst Berendt: Wandel und Widerstand, in: Wolfram Knauer (Hg.): Jazz in Deutschland, Hofheim 1996, S. 261-279
[15] Christian Lillingers Grund, Bremen 2014; https://youtu.be/2TpWZIbqVmM
[16] DRA: „Truth Study“2012; https://youtu.be/PWF2Kn0g58Y
[17] Julia Hülsmann Oktett: „Sleep“, 2015; https://youtu.be/agcX1rStCVM